EUROPA ALS FATA MORGANA
7/10
© 2024 Filmladen Filmverleih
LAND / JAHR: ÖSTERREICH, SCHWEIZ, DEUTSCHLAND 2024
REGIE / DREHBUCH: GERALD IGOR HAUZENBERGER, GABRIELA SCHILD
KAMERA: THOMAS EIRICH-SCHNEIDER, GERALD IGOR HAUZENBERGER, HAJO SCHOMERUS, JOERG BURGER
MITWIRKENDE: RHISSA FELTOU, TILLA AMADOU, ACHMET DIZI U. A.
LÄNGE: 1 STD 43 MIN
Die Wüste ist kein Ort, an welchem man dauerhaft verweilt. Sie ist da, um sie zu durchqueren, um von A nach B zu gelangen. Sie ist ein offenes Feld, ein Vakuum, ein wilder Raum, Sehnsuchtsort, Abenteuerspielplatz und Glutofen. Und das schon seit jeher. Die Tuaregs, die wissen das. Denn sie wandern, wenn geht mit Passagieren und Gütern im Schlepptau, die sie an ihr Ziel bringen, meist für gutes Geld, um dann selbst zu überleben. Die Wüste und ihre Gesetze sind auch nichts, worin Europa reingrätschen sollte. Zumindest nicht so wie auf diese Art. Auf eigennützige, und nicht gemeinnützige Art. Mit leeren Versprechungen, schönen Worten und aufgeräumten Spezialistinnen und Spezialisten, die in der Stadt Agadez die geopolitischen Interessen Europas umsetzen und dabei die Bevölkerung instrumentalisieren, um ein Verbot durchzubringen, das die Migration von Ausländern untersagt. Das sind nicht die Gesetze der Wüste, das sind die Gesetze eines fernen Wohlstandskontinents, das keine Flüchtlinge mehr will. Was geht das Ganze Agadez an? Oder den Niger?
Das Regieduo Gerald Igor Hauzenberger und Gabriela Schild begeben sich in den von den Tuareg-Stämmen kontrollierten Norden, um die ganze Sache mal aus der Nähe zu betrachten. Sie tun dabei das, wovon ich selbst schon immer wieder mal geträumt habe, und zwar besuchen sie Agadez, den Handelsknotenpunkt weit nordöstlich der eigentlichen Hauptstadt Niamey – ein Name, der so verlockend, magisch und nach Fernweh klingt wie Timbuktu. Aus der Luft betrachtet ein homogenes Mosaik aus Lehmwürfeln, dazwischen ein labyrinthartiges Straßennetz, irgendwo in der Mitte eine aus Lehm erbaute Moschee mit einem Minarett, das aussieht wie das Kunstwerk eines Visionärs aus archaischen Urzeiten. Überall Wüstensand, der stete Wind bringt auch in die letzten Ritzen das kleinste Körnchen erdgeschichtlichen Klimawandel – und mit dem Wind kommt der Plastikmüll, der sich in den dornigen Ästen der Akazien und wüstenharten Bäume verfängt, als würden im Geäst ganze Schwärme schwarzer Vögel sitzen, die keinen laut von sich geben. Zu hören ist nur das Schlackern der Kunststofffetzen, dazwischen die melodische Stimme des Muezzins, und dann wieder Radio Nomad mit den aktuellen Nachrichten. Am Rande der Stadt Kamelherden, Pick-ups und Busse, völlig überladen mit Menschen, die zu ihrer Arbeit pendeln – oder an die Grenzen Libyens oder Algeriens wollen, warum auch immer. Dass hier noch Leute aus Schwarzafrika dabei sind, die an die Küste des Mittelmeers wollen? Dass das nicht mehr passiert, dafür hat Europa gesorgt. Wie die Leute darauf reagieren, und was sie zu sagen haben, fangen Hauzenberger und Schild über einen Zeitraum von fünf Jahren (2018 bis 2023) in geduldigen Interviews ein, sie lassen den Bürgermeister der Stadt, Rhissa Feltou, der später eine eigene Partei gründen wird, mit klugen, besonnenen Worten genauso zu Wort kommen wie die Radiomoderatorin und Journalistin Tilla Amadou und den Kleinunternehmer und Fremdenführer Achmet Dizi, der unzählige Sprachen spricht, darunter sogar Deutsch, und der ein Potenzial mit sich bringt, das jenes mancher gutsituierter Europäer bei weitem übersteigt. So einen Guide, den hätte man gern.
Europas leere Versprechungen
Durchwoben mit unvergesslichen Bildern einer völlig fremden, anderen Welt stoßen die Filmemacher, denen wirklich viel daran liegt, nicht nur so zu tun als ob, sondern tief in die Grundproblematik einer Gesellschaft einzudringen, auf die Weisheit der Wüste, die sich in wertebewussten und erfrischend vorausschauenden Worten so mancher Nigrer offenbart. Während Europa glaubt, ein ganzes Volk mit falschen Versprechungen zu ködern, denn darauf läuft es hinaus, haben jene, die es betrifft, längst überrissen, welches Spiel hier gespielt wird. Doch Hauzenberger und Schmid bleiben Beobachter, sie sind keine Aktivisten und sie rennen auch nicht verschlossene Türen ein. Ihr Konzept eines Dokumentarfilms alleine ergibt ganz wie von selbst eine bittere Conclusio.
Was dabei aber trotz der genauen Beobachtungsgabe außen vor bleibt, ist die Annäherung an die wirklich Armen, Besitzlosen, die jeden Tag ums Dasein ringen. Vielleicht wollten sie auch nicht vorgeführt werden, vielleicht ist es auch der selbstverständliche Respekt des Regie-Duos, der sie dazu zwingt, selbst niemanden zu instrumentalisieren. Wir sehen Agadez zwar aus einem ganz bestimmten Blickwinkel, nämlich aus jenem der beleseneren, weltoffenen Elite des Landes, allerdings räumt On the Border – Europas Grenzen in der Sahara mit so manchen Vorurteilen auf, die bis heute dazu beitragen, die Wüste als einen gesetzlosen, leeren Raum voller Banditen und Abenteurer wahrzunehmen, wie damals im romantischen Zeitalter der Entdeckungen rund um Heinrich Barth. Diese Epoche ist längst vorbei, die Wüste lebt, sie schläft nicht. Und weiß genau, wie die Welt sie in die Mangel nimmt.
