Hades – Eine (fast) wahre Geschichte aus der Unterwelt (2023)

WIENER BLUT IM HERZEN UND AUF DER STRASSE

6/10


hades© 2023 Constantin Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2023

REGIE: ANDREAS KOPRIVA

DREHBUCH: HORST-GÜNTHER FIEDLER, ANOUSHIRAVAN MOHSENI

CAST: ANOUSHIRAVAN MOHSENI, ALEKSANDAR PETROVIĆ, IGOR KARBUS, ALMA HASUN, FRITZ KARL, PROSCHAT MADANI, AGLAIA SZYSZKOWITZ, TIM SEYFI, ANICA DOBRA, HARALD SCHROTT, CHRISTIAN STRASSER, FANNY STAVJANIK, ALEXANDER LUTZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Mit dieser knapp um die letzte Jahreswende hirzulande in den Kinos gestartete österreichische Unterweltkomödie geht ein kurioses Phänomen einher, welches nicht nur lokalkolorierte Eigenproduktionen betrifft, sondern mitunter auch Internationales. Bei letzterem könnte man noch verstehen, dass zu wenige Säle zu viele Filme stemmen müssen, denn jede im Verleih befindliche Produktion will seinen Weg zum Publikum finden. Verwunderlich dabei ist, dass die einheimische Filmwelt keinerlei Heimvorteil hat. Anhand von Hades – Eine (fast) wahre Geschichte aus der Unterwelt lässt sich gut erkennen, wie stiefmütterlich Genreproduktionwn wie diese behandelt werden. Denn Hades, zu welchem der renommierte österreichische Filmkritiker Horst-Günther Fiedler auch das Drehbuch verfasst hat, lief gefühlt gerade mal eine Woche in den Lichtspielhäusern, bevor er sang- und klanglos aus dem Kinoprogramm verschwand. Auf der filmgenuss-eigenen Watchlist stehen österreichische Filme generell gerne weit oben, auch dieser hier und nicht zuletzt aufgrund wohlwollender Kritiken. Und dann das. So schnell hätte man als Filmnerd gar nicht die besten Plätze reservieren können, war er weg. Die Chance auf illustre Besucherzahlen bestand gleich gar nicht, ich bin sogar versucht zu sagen: Wenn Kinobetreiber heimischen Werken so derart ans Bein pinkeln, grenzt das – natürlich polemisch formuliert – fast schon an Sabotage.

Umso mehr freut es mich, Hades im Sortiment von Netflix entdeckt zu haben. War der Umstand der nicht vorhandenen Kinoauswertung vielleicht Teil eines Streaming-Deals? Bringt dieser Entschluss den größeren Reibach? Vermutlich. Was schade ist. Denn österreichische Filme im Kino beleben die kulturelle Landschaft. Mut dazu, sie länger laufen zu lassen als andere, wäre der Glauben an die eigene Sache. Aber genug des Idealismus. Wie sieht es nun mit dem Film selbst aus, der als fast wahre Geschichte von Aufstieg und Fall eines Mannes fürs Grobe erzählt? Interessant wäre dabei zu erfahren: Was genau hat Anoushiravan Mohseni denn wirklich erlebt? Gab es zum Beispiel diesen Kommissar Czermak, diese Figur irgendwo zwischen Inspektor Columbo, Lolli-Kojak und einer Wiener Melange aus Ernst Hinterbergers Dramatis Personae? Als Hommage an den Wien-Krimi bringt Serien-Regisseur Andres Kopriva Stereotypen wie ihn in einen sozialen Dunstkreis ein, in welchem Hauptdarsteller Mohseni Motive aus seiner eigenen Kindheit und vielleicht auch seinem späteren Lebenswandel einbringt.

In den 90er Jahren nach Wien immigriert, findet der Dreikäsehoch sofort Gefallen daran, Diebesgut zu verhökern. Scheinbar kommt da bereits ein Talent zum Vorschein, welches ihn mit der autochthonen Jugendgang im Gemeindebau auf „ein Packerl hauen“ lässt. Gewalt gehört bald zur Tagesordnung, andere werden verdroschen und bestohlen, ach wie ist das Leben als kleinkrimineller Jugendlicher nicht lukrativ. Jahrzehnte später haben die vier Kids leider nichts dazugelernt, der eine von ihnen hat sich gar zum Nachtclub-Zampano hochgearbeitet, die anderen drei bilden das Trio Infernal der Unterwelt-Exekutive, allen voran eben Reza, der nicht nur auf charmante Wiener Art Furcht und Schrecken verbreitet, sondern dank intensiven Kampfsport-Trainings fast schon in Hill/Spencer-Manier unwilligen Schuldnern die Fresse poliert. Und dann passiert das – was in Unterweltfilmen meistens passiert: Die Liebe, im Idealfall auf den ersten Blick. In Nullkommanix erobert er mit selbstgefälligen Sprüchen, die ihn arroganter erscheinen lassen als er eigentlich ist, das Herz von Beatrice (Alma Hasun), die nichts von seiner Drecksarbeit weiß. Ein Umstand, der Komplikationen birgt. Und Reza langsam, aber doch, zum Umdenken bewegt.

Ein Perser in der Unterwelt – ich bin ja heilfroh, dass dafür nicht Publikumsliebling Michael Niavarani aus dem Simpl abkommandiert wurde, um aus Hades – Eine (fast) wahre Geschichte aus der Unterwelt eine weitere Kabarett-Komödie a la Salami Aleikum zu machen. Koprivas Film ist da weitaus gelassener, weil sein Antiheld, der aus dem Nähkästchen plaudert, lieber keine Rampensau sein will. Und das ist gut so. Kenner des österreichischen Films wissen vielleicht: Im Tatsachendrama Taktik gab Anoushiravan Mohseni einen der drei Geiselnehmer, die in den 90ern in einem Grazer Gefängnis ihre Freifahrt erpressten. Diesmal wird er zum Erzähler seiner eigenen Geschichte, das gelingt ihm mit selbstironischem Humor und dem zugrundeliegenden Gemüt eines Belehrbaren, der es irgendwann besser machen will. Man könnte Hades tatsächlich als augenzwinkernde Gaunerkomödie betrachten, die zwar auf abgetretenen Pfaden unterwegs ist, um altbekannte Versatzstücke auszuprobieren, die aber noch schärfer und sekkanter hätten sein können, um sich – und da kann man ja dreist genug sein – der schwarzhumorigen Süffisanz eines Guy Ritchie anzunähern. Das Herz hat Hades zwar am rechten Fleck, doch das unüberhörbare Problem an der Sache ist Mohsenis sprachliche Intonation. Einer wie Fritz Karl oder eine wie Aglaia Szyszkowitz werden sofort, nur Sekunden, nachdem sie im Fokus der Kamera stehen, zu denen, die sie darstellen. Bei Mohseni klingt alles, was er zum Besten gibt, wie auswendig gelernt. Die Kunst im Schauspiel liegt ja bekanntlich darin, die Rolle so aussehen zu lassen, als wäre das Gesagte nichts, was jemand anderer geschrieben hätte. Hades nimmt sich durch dieses Defizit vieles an seiner Authentizität. Hinzu kommt, dass Andrea Kopriva aus dem Serienfach kommt und selten kinoformatfüllende Größe erreicht. Vieles, womöglich dem Budget geschuldet, bleibt beschaulich und arrangiert, manches Mal scheint der Erzähfluss gestört, vorallem in den Szenen aus Rezas Jugendzeit.

Was bleibt, ist unterm Strich der gewinnende Charakter eines Improvisationstalents mit Migrationshintergrund als einer, der nicht alles weiß, vieles kann, aber manchmal eben nicht das richtige tut. Eine umschmeichelte Noir-Figur mit Potenzial ist dieser Reza: er ist einer, dem man nicht böse sein kann. Obwohl das Schauspiel zu wünschen übrig lässt: Mohseni hätte das Zeug. Das Phlegmatische eines Adam Sandler ist da zu finden, das Energische eines Kumal Nanjiani und das Wienerische eines Robert Palfrader, der das Gefährliche mit dem Lausbübischen genauso gut hätte verbinden können wie Mohseni. Hades – Eine (fast) wahre Geschichte aus der Unterwelt ist kleinformatiges Selbstfindungskino mit Hang zu Grätzel und Schabernack, politisch unkorrekten Fausthieben und der verzeihlichen Selbstüberschätzung seiner Figuren. Die Erdung derselbigen gelingt am besten, alles andere hat man mitunter schon besser gesehen. Oder gehört.

Hades – Eine (fast) wahre Geschichte aus der Unterwelt (2023)

Eileen (2023)

WENN ICH EIN VÖGLEIN WÄR´

7/10


eileen© 2023 Universal Pictures


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: WILLIAM OLDROYD

DREHBUCH: LUKE GOEBEL, OTTESSA MOSHFEGH NACH IHREM GLEICHNAMIGEN ROMAN

CAST: THOMASIN MCKENZIE, ANNE HATHAWAY, SHEA WHIGHAM, SAM NIVOLA, SIOBHAN FALLON HOGAN, TONYE PATANO, OWEN TEAGUE, PETER MCROBBIE, PETER VON BERG, JEFFERSON WHITE U. A.

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Vor sechs Jahren begeisterte Thomasin McKenzie in Debra Graniks gefühlvollem Aussteigerdrama Leave No Treace, seitdem veredelt die neuseeländische Schauspielerin regelmäßig ausgesuchte Independentproduktionen, darunter gar einen Oscarkandidaten von Landsmann Taika Waititi: Jojo Rabbit. Ihr zaghafter, allerdings Hoffnung schöpfender Tanz zu David Bowies deutscher Version von Heroes am Ende des Streifens ist längst schon Filmgeschichte. McKenzie ist etwas Besonderes, weil sie sich selbst treu bleibt und eine Natürlichkeit an den Tag legt, ohne ihr Schauspiel auf eine Weise unterstreichen zu wollen, die lauthals um einen Oscar bettelt. In McKenzie steckt eine sich selbst genügende Normalität, und gerade diese Reduktion weckt das Interesse jener, die sich vielleicht die Frage stellen, ob sie dadurch, eben nicht sonderlich auffallen zu wollen wie zum Beispiel Anja Taylor-Joy (mit der sie gemeinsam in Edgar Wrights Last Night in Soho vor der Kamera stand), so manches Geheimnis verbirgt. Dieses innere Brodeln, dieses Süppchen, das, verborgen vor aller Augen, McKenzie kocht – daran mögen sich andere die Finger verbrennen. Oder aber sie schmeckt, und es gibt nichts, wofür man Vorsicht walten lassen muss. Im verkappten kleinen Psychothriller Eileen, der am Sundance Festival 2023 seine Premiere feierte, müsste man letzteres vielleicht aber überdenken.

Nicht, dass ich jetzt etwas vorwegnähme, was die Lust an diesem mysteriösen Spiel schmälern könnte, welches sich in grobkörnigem Sechziger-Look offenbart und in allerlei bewölkten Brauntönen schwelgt, die zu Spätherbstzeiten für depressive Verstimmungen sorgen. Genauso wenig, wie sich die herbstwelke peripher-urbane Landschaft Neuenglands in Kontraste gliedern lässt, genauso wenig sind Thomasin McKenzie und Anne Hathaway in ihren darzustellenden Charakteren klar konturiert. Erstere spielt titelgebende Eileen, die ihren alkoholkranken Vater aushalten und pflegen muss und sonst so den Tag im Knast verbringt – allerdings als Sekretärin, oder besser gesagt: als Schlüsselmeisterin und Aufpasserin vor allem zu den Besuchszeiten der Häftlinge. Irgendwie scheint tagtäglich der gleiche Trott abzulaufen, sowohl beruflich als auch in den eigenen vier Wänden, nur ab und an muss Eileen ihren sturzbesoffenen alten Herren von der Straße sammeln, wenn dieser sich wieder mal nicht auskennt. Die Dinge ändern sich, als die wasserstoffblonde neue Psychiaterin Rebecca ihren Job beginnt – sie strahlt sofort all das aus, was Eileen nicht haben kann und haben will, vielleicht aber nie haben wird. Zu Rebecca fühlt sich Eileen sofort hingezogen, und anscheinend beruht diese Sympathie auch auf Gegenseitigkeit, wobei sich der Verdacht nur schwer wegrationalisieren lässt, dass der Blondschopf eine gewisse Freude daran hat, das introvertierte Mauerblümchen Eileen sanft zu manipulieren. Eine latente homosexuelle Begierde liegt da in der Luft, doch kann dies auch nur Schwärmerei sein, niemand weiß es so genau. Mit diesen Veränderungen und den aufkommenden Bedürfnissen muss die graue Maus in ihren viel zu weiten Strickpullis die Vorweihnachtszeit stemmen, doch das Schicksal oder einfach das Leben selbst, das passiert, rückt Eileen mit einer Gelegenheit zu Leibe, die sie am Schopf packen sollte. Gefallen wird das, wofür sich die junge Frau entschließen wird, nicht jedem.

Frauen, die sich aus ihrem sozialen Korsett zwängen – Theatermacher und gelegentlicher Filmregisseur Stephen Oldroyd hatte bereits bei seinem letzten Film Lady Macbeth, der doch auch schon einige Jährchen zurückliegt, zu einer ähnlichen Thematik gegriffen. In der Verfilmung einer Novelle von Nikolai Leskow stellt sich Florence Pugh gegen das patriarchale Gehabe ihres aufgebrummten Gatten, indem sie mit dem Stallknecht fremdgeht, doch das ist nur der Anfang eines wüsten Befreiungsschlags. In Eileen, ebenfalls die Verfilmung einer literarischen Vorlage, geht es nicht ganz so düster zu. Oder um es anders zu formulieren: Haken schlägt das Psychodrama bis knapp vor Ende des Films wahrlich keine. Zwei Frauen auf Annäherung, dazwischen der verstörende Fall eines Häftlings, der den eigenen Vater im Schlaf ermordet und ein bewaffneter Patriarch im Suff – diese bizarre Konstellation scheint notwendig, damit Thomasin McKenzies Figur die Formel eines alternativen Lebensentwurfs löst. Oldroyd schummert ein nuanciertes Coming of Age-Portrait auf die Leinwand, das sich gänzlich auf McKenzies Entwicklung und Charakterbild konzentriert, ihren Sehnsüchten und einem verdrehten Willen zum Ausbruch. Das Gefängnis mag sinnbildlich sein, ein Spiegel ihrer Existenz. Geschickt konstruiert, gefällt Eileen durch eine geduldige Beobachtungsgabe, wobei scheinbar willkürlich erwähnte Sidestories in Folge zusammenführen, und das Psychodrama mit Ansätzen zum Thriller blickt dann doch noch in einen Abgrund, der sich unerwartet auftut.

Auf eine gewisse Weise ist Eileen ein Gefängnisfilm, mit dem Unterschied, dass sich weder auf der einen noch auf der anderen Seite Freiheit findet. Irgendwo dazwischen müsste sie liegen, vielleicht darüber oder darunter. Oder in einem selbst.

Eileen (2023)

Ich Capitano (2023)

MOSES DER MIGRANTEN

6,5/10


ichcapitano© 2023 Greta De Lazzaris / X Verleih AG


ORIGINALTITEL: IO CAPITANO

LAND / JAHR: ITALIEN, BELGIEN 2023

REGIE: MATTEO GARRONE

DREHBUCH: MATTEO GARRONE, MASSIMO GAUDIOSO, MASSIMO CECCHERINI, ANDREA TAGILAFERRI

CAST: SEYDOU SARR, MOUSTAPHA FALL, ISSAKA SAWAGODO, HICHEM YACOUBI, DOODOU SAGNA, KHADY SY, VENUS GUEYE, CHEICK OUMAR DIAW, BAMAR KANE U. A.

LÄNGE: 2 STD 1 MIN


Willkommen im Flüchtlingszeitalter. Dabei gab es dieses Phänomen der Migration schon, seit es Menschen gibt, betrachte man nur die Umwälzungen während der Völkerwanderung. Heutzutage sind es wieder mal Kriege im Nahen und europäischen Osten, die dazu geführt haben, dass von Syrien bis in den Iran Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen, um nach Europa zu gelangen. Die Rede ist von Flüchtlingen, die gar nicht anders können, als ihre eigene Haut retten zu müssen. Und dann gibt es jene, die weder verfolgt noch diskriminiert noch anderweitig bedroht werden, aber dennoch nicht hinnehmen wollen, in einem Land zu leben, das keinerlei Entwicklungsmöglichkeiten bietet. In Anbetracht dieser ernüchternden Umstände erscheint das nicht allzu ferne Europa als ein Land, in dem Milch und Honig fließen, als gelobter Boden, auf dem alles machbar scheint. Ganz egal, wer oder was Entwicklungsländern dieses Bild vermittelt – das Ideal eines paradiesischen Europas kann so nicht stimmen. Aufklärungsarbeit hinsichtlich dessen zu leisten, was Europa im Idealfall versprechen könnte und wieviel gleichzeitig auch nicht, könnte manchen Young Adult wie in Matteo Garrones Film vielleicht nochmal darüber reflektieren lassen, was im eigenen Land nicht vielleicht doch alles möglich wäre – und ob es die Reise ins Ungewisse wirklich lohnt, um dann, irgendwo weit weg von Heimat, Familie und allem Vertrauten, in einem Asylheim auszuharren, während der Traum von Reichtum und Ruhm zusehends verblasst.

Diese naive Vorstellung vom Leben in Saus und Braus als Star der Musikbranche treibt den 16jährigen Seydou dazu an, gemeinsam mit seinem Cousin Moussa die Hauptstadt des Senegal und somit auch die Familie zu verlassen, um ein besseres Leben zu beginnen. Dabei ist jenes in Afrika nun mal nicht das Schlechteste. Zugegeben, das Zuhause könnte ein Upgrade vertragen, beim Lebensstandard gäbe es Luft nach oben. Doch mit Ehrgeiz, Willenskraft und all dem Ersparten, dass Seydou und Moussa ohnehin zur Seite gelegt haben, könnte man es auch im Senegal zu etwas bringen, Beziehungen gäbe es genug. Den beiden ist das zu wenig. Europa ist das Ziel, und dafür würden alle Gefahren dieser Welt sie nicht aufhalten. So beginnt eine abenteuerliche Reise quer über die Nordhälfte des afrikanischen Kontinents – über Mali, den Niger bis nach Libyen und von dort sollte es per Flüchtlingsboot nach Italien gehen. Eine Entbehrung folgt der nächsten, der Marsch durch die Wüste wird zu einem Gewaltakt und eine Probe auf Leben und Tod. Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, werden Seydou und Moussa von libyschen Banditen überfallen, der eine kommt ins Gefängnis, der andere wird in die Sklaverei verkauft. Eine Prüfung folgt der nächsten, am Ende mag Seydou die Verantwortung tragen für ein Schiff voller Menschen. Ich Capitano wird der Teenager über die Köpfe seiner Schützlinge brüllen – er wird sich fühlen wie Moses, der eine Gefolgschaft ins gelobte Land führt.

Matteo Garrones entbehrungsreiches, üppig bebildertes Roadmovie war dieses Jahr für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert. Eine Auszeichnung, die gerechtfertigt ist? Es kommt darauf an, zu welchen Gedankengängen das Werk inspiriert.

Garrone ist einer, der in seinen Werken stets in sattem Naturalismus schwelgt, der nicht selten in rauer Gewalttätigkeit mündet. Seine Macht-Parabel Dogman ist schwere Kost, alternativ dazu gelingt ihn mit seinen düster-vernebelten Interpretationen barocker italienischer Märchen (Das Märchen der Märchen) und Collodis Volksklassiker Pinocchio eine Abkehr von schmeichelnder Lieblichkeit hin zu einem blutig-bizarren Maskenball. Ich Capitano zögert an manchen Stellen auch nicht, deftig auszuteilen, was insbesondere die Darstellung der libyschen Gefangenschaft betrifft. Darüber hinaus aber könnte man Garrones Direktheit fast schon vermissen. Die Reise seines alttestamentarischen Auserwählten überwindet zwar allerhand Hürden, doch die helfende Hand von etwas übergeordnet Schamanistischem scheint den jungen Seydou voranzuschubsen. Knallharter Kinorealismus sucht man vergeblich, auch wenn sich alles und zumindest visuell so anfühlt, als wäre es das. Ich Capitano ist immer noch entrückt magisch, wie eine leicht verschobene, beinharte Realität, und es ist nie klar zu sagen, ob die metaphysischen Elemente des Films Garrones Universum tatsächlich durchdringen oder nur Träumereien sind.

Letztlich ist es kaum zu glauben, dass diese Odyssee wirklich gelingt. Als zu simpel stellt der Film manches dar, der Hang zur Romantisierung ist unverkennbar. Was aber nicht heisst, dass Ich Capitano nicht weiß, wie er sein Publikum packt. Die Fahrt übers Meer gestaltet sich als kakophonisches Chaos aus darbenden Menschen, denen Seydou den Segen bringt. So etwas in Szene zu setzen bedarf Können, und Garrone sind dahinsichtlich meisterhafte Momente wohlwollenden Pathos gelungen, der sich dadurch in Zaum hält, das Schicksal einer Eroberung Europas nicht auszuerzählen.

Ich Capitano (2023)

Civil War (2024)

MAKE AMERICA BREAK AGAIN

8,5/10


civilwar© 2024 A24 / DCM


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2024

REGIE / DREHBUCH: ALEX GARLAND

CAST: KIRSTEN DUNST, WAGNER MOURA, CAILEE SPAENY, STEPHEN MCKINLEY HENDERSON, JESSE PLEMONS, NICK OFFERMAN, SONOYA MIZUNO, JEFFERSON WHITE, NELSON LEE U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Der Sturm aufs Kapitol hätte der Anfang werden können für etwas, dass wohl die ganze Weltordnung neu geschrieben hätte. Denn wir wissen längst: Die Vereinigten Staaten von Amerika haben diese immer schon mitbestimmt, war es nun der Erste oder der Zweite Weltkrieg, Operation Wüstensturm, der Sturz Saddam Husseins oder die Bereitschaft, die Ukraine gegen den russischen Aggressor mit allerhand Kriegsmaterial zu unterstützen. Das US-Amerika ist nicht nur Entscheidungskraft im weltpolitischen Handel, auch die Lebenswelt in Übersee ist uns dank des übereifrigen Outputs an Hollywood-Filmen so dermaßen vertraut, als würde man selbst dort drüben leben. Keine andere Staatengemeinschaft wie diese hat dermaßen viel Einfluss. Umso erschreckender muss es also sein, wenn die selbsternannte Weltpolizei, die geschlossen gegen die Achsen des Bösen angekämpft hat, plötzlich und im eigenen Land nicht mehr Herr der Lage ist und von innen heraus zerbricht. Es wäre eine Katastrophe langen Atems und alles umstürzend, was die Wohlstandswelt wertschätzt.

Als Anfang von etwas Neuem und zweifelhaft Gutem hätte der 6. Januar 2021 zwar nicht sogleich einen Krieg, dafür aber einen weitaus größeren Erdrutsch verursachen können, der Folgen nach sich ziehen hätte können, die Alex Garland nun in die existenzgefährdenden Albträume der US-amerikanischen Bevölkerung als böse Saat einpflanzt. Der Umbruch ist in Civil War längst nicht mehr aufhaltbar, die Ordnung ist dahin, der Notstand ein Euphemismus. Dieser Film ist nichts, was uns Europäer nicht angeht. Er bedient die größte Angst der westlichen Welt, ihre prachtvolle Convenience-Blase platzen zu sehen. Weil plötzlich ist, was nicht sein darf. Weil die Welt nur immer woanders zugrunde geht, nur nicht hier, wo der Überfluss alles richtet.

Civil War ist weniger ein politischer Film. Alex Garland ist es sowas von egal, wer nun wen bekämpft, welche politischen Agenden dahinterstecken, welche Ideale nun kolportiert werden und was sich der noch amtierende Präsident der Vereinigten Staaten eigentlich hat zuschulden kommen lassen, um jetzt um sein Leben zu bangen. Denn schließlich ist es ja so, dass jene Recht behalten, die dieses Gemetzel gewinnen. Kriege verlieren hingegen sehr schnell ihren Sinn, der Ausnahmezustand schafft ein Vakuum, in dem sich nur schwer ein gewisser Alltag leben lässt. Und wenn doch, erscheint er grotesker als alles andere. So einen Zustand müssen die vier Journalistinnen und Journalisten Lee, Jessie, Joel und Sammy erstmal verdauen und als gegeben akzeptieren. Sie sind unterwegs quer durchs Land, um zur rechten Zeit am richtigen Ort den schwindenden Präsidenten zu einigen letzten Worten zu bewegen, denn alles sieht danach aus, als stünden die Western Forces kurz davor, auch die letzte Bastion der alten Paradigmen niederzureissen. Es ist wie die Schlacht um Berlin, die Schlacht um Bagdad, die Schlacht um eine heile falsche Welt, die bald entbrennen wird. Das Quartett möchte vor allen anderen ins Weiße Haus gelangen, der Ehrgeiz des Reporters ruft, und die Versuchung, zu selbigem des Satans zu werden, lockt wie schnöder Mammon. Sie versuchen, Würde zu wahren und so zu tun, als würde sie der jeweils andere interessieren. Eine Zweckgemeinschaft, die während einer über 800 km langen Fahrt Zeuge einer Zombieapokalypse nur ohne Zombies wird, in der rechtsextreme Republikaner die Gelegenheit am Schopf packen, ihre Welt von allem Fremden zu säubern, Scharfschützen ohne Fraktion einander die Birne wegschießen und Lynchjustiz an der Tagesordnung steht. Es sind Bilder, die man von woanders kennt.

Endlich sieht man mal wieder Kirsten Dunst in einer Rolle, die ihr auf den Leib geschneidert scheint. In längst abgestumpfter Professionalität einer Kriegsreporterin hat sie alles schon gesehen, nur sie selbst war noch nie wirklich Teil davon. Wagner Moura als jovialer Cowboy, Stephen Henderson als der amerikanische Christian Wehrschütz, der schon längst in den Ruhestand hätte treten sollen, es aber nicht lassen kann, und zuletzt Cailee Spaeny (Priscilla) als kindlicher Ehrgeizling, der zum einen eine Scheißangst vor dem Krieg hat, zum anderen aber bald die Gefahr als Droge missbraucht, um noch bessere Bilder zu machen als Lee Smith aka Kirsten Dunst, die es anfangs für keine Gute Idee hält, dieses Greenhorn mitzunehmen. Garland schafft mit diesen „Vieren im Jeep“ neben all der Kriegsstimmung und des Notstands ein Ensemblespiel in kunstvoller Effizienz, was das Portraitieren von Charakteren angeht. Civil War ist Kriegsreporter-Kino allererster Güte, so eindringlich wie Salvador oder The Killing Fields – und dann das: Anders als all die besten aus der Hochzeit des Politkinos Ende der Achtziger fühlt sich Civil War aufgrund seiner Nähe zu einer uns wohlbekannten Welt und einem unmittelbarem Zeitgeist tatsächlich so an, als sähe man das, worüber Garland berichtet, in den hauseigenen Nachrichten. Civil War ist das schweißtreibende Imitat einer nahen, möglichen Realität, die scheinbar Unzerstörbares aushebelt und niederringt. Immer wieder findet Garland Bilder von weltvergessener Schönheit und konterkariert seinen Krieg mit einer Compilation aus Countrysongs, Hip Hop- und Space Rock, die das Gesehene so irreal erscheinen lassen wie Napalmbomben am Morgen unter den Klängen von The Doors. Coppolas Antikriegs-Meisterwerk Apocalypse Now wirft Garland auch verstohlene Blicke zu – so manche Szene ist zu bizarr, um ihm Glauben zu schenken. Der Boden unter den Füßen findet kaum Halt.

Gegen Ende uns Zusehern vor die Füße geworfen, ist die Schlacht um Washington D.C ein Brocken selten gesehener, moderner Kriegsführung, sie gerät weder prätentiös noch pathetisch, sondern so authentisch wie der Lockdown oder Flüchtlingsströme vor der Haustür. Auf diesen Zug, in welchem Good News Bad News sind und Bad News irgendwann vielleicht Good News werden, springt Civil War auf und fährt die Achterschleife. Garland bringt seinen Plot dramaturgisch auf den Punkt, lässt weg, was den Höllenritt nur ausbremst, lässt manches im Geiste seines Publikums weiterspinnen, redet auch nicht lang drum herum. Als klar wird, dass die Härte und Arroganz der Kriegsführung im eigenen Land auch jener entspricht, mit der die USA bereits allerorts auf dieser Welt einfielen, wird einem so richtig mulmig. Die Zivilisation zeigt sich als Camouflage, der Altruismus in Krisenzeiten als Lippenbekenntnis. Wo es die Menschheit hinbringt, lässt Garland im Ungewissen. Was sie anstachelt, ist weniger der Mut zur Veränderung als lediglich die Gier nach einem wie auch immer gearteten Sieg.

Civil War (2024)

Das erste Omen (2024)

AUF TEUFEL KOMM RAUS

6/10


THE FIRST OMEN© 2024 Twentieth Century Fox. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA, ITALIEN 2024

REGIE: ARKASHA STEVENSON

DREHBUCH: TIM SMITH, ARHASHA STEVENSON, KEITH THOMAS

CAST: NELL TIGER FREE, RALPH INESON, NICOLE SORACE, SÔNJA BRAGA, BILL NIGHY, MARIA CABALLERO, ANDREA ARCANGELI, ANTON ALEXANDER, TAWFEEK BARHOM, ISHTAR CURRIE-WILSON, MIA MCGOVERN ZAINI U. A.

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Wie macht man ein Prequel für einen Film, der fast schon fünf Jahrzehnte auf dem Buckel hat? Reicht da nur, diesem die Optik seines Nachfolgers zu verpassen? Mitnichten, denn Erzähltempo, Score und das Lebensgefühl der Siebzigerjahre sind da nur ein paar weitere Faktoren, die müssen schließlich auch berücksichtigt werden. George Lucas zum Beispiel musste in seiner Prequel- Trilogie zu Star Wars: Eine neue Hoffnung damit ringen, die zeitlich davor angesetzte Storyline nicht so aussehen zu lassen, als wäre sie ihrer eigenen Zukunft voraus. Nur teilweise ist ihm das gelungen. Bei Richard Donners Satansbraten-Thriller Das Omen, das sich mit einigen Sequels ebenfalls zu einem Franchise entwickelt hat, mag es einfacher sein, das ganze Ensemble in einen Siebziger-Look zu kleiden und ganz Rom mit Retro-Boliden auszustatten. Eingefangen wird das schmucke Szenario mit einem bereits aus der Mode gekommenen Kamera-Manierismus, der aus schnellen Zooms und etwas unkoordinierten Schwenks besteht. Unterlegt wird das Revival mit nostalgischem Score und über allem dann ein entsprechend ausgewaschenes Retro-Kolorit, welches sich bestens eignet für Nebel und Dunst und düstere Innenräume, die das Waisenhaus, in welchem die Protagonistin des Films, Novizin Margaret, anfangs landet und auch die engen Gassen der ewigen Stadt in eine mystische Atmosphäre taucht, wie sie vielleicht nur noch Nicolas Roeg mit seinem Gruselthriller Wenn die Gondeln Trauer tragen so formvollendet ins rechte schale Licht gerückt hat.

Wenn Margaret also mit mulmigem Bauchgefühl über verlassene Plätze und durch enge Gassen trippelt, wenn sie seltsame Räume aufstößt und sich in der Tür, die in den dunklen Keller führt, stilsicher als dem Unheil sehr nahe gekommener Schattenriss abzeichnet, hat Das erste Omen mit unmissverständlich kalt komponierten, ikonischen Bildern die Aufgabe gemeistert, als Prequel eines Films, dessen Erzählweise längst von schnelllebigen Rhythmen im Horrorgenre abgelöst wurde, bestens zu funktionieren. Das allerdings ist die eine Sache. Die andere ist die, so sehr dem Original nahegekommen zu sein, dass selbst der Horror eine gewisse Vorgestrigkeit aufweist, der man eigentlich nur mit dem Grundton des Films widersprechenden Schreckmomenten beizukommen versucht, die der unheilvollen und mühsam aufgebauten Mystery mehr den Wind aus den Segeln nimmt als ihm dabei zu helfen, sich vollends zu entfalten.

Die Geschichte selbst ist schnell erzählt, und auch hier entspricht sie Donners Klassiker, da sie keinerlei Anstalten macht, ihr Publikum großartig an der Nase herumzuführen. Es lässt sich ahnen, was passieren wird, doch Filme wie diese leben von einem satten Gefühl, gemeinsam dem Unerklärlichen entgegenzutreten. Eingangs erwähnte Margaret, selbst Waise und aufgewachsen in einem Kloster irgendwo in den USA, reist also auf Einladung ihres Ziehvaters und Kardinals Lawrence (Bill Nighy) nach Rom und bereitet sich darauf vor, bald ihr Gelübde abzulegen. Während ihrer Arbeit im Waisenhaus macht Margaret Bekanntschaft mit einem geheimnisvollen Mädchen, das genauso von Visionen geplagt wird wie sie selbst. Hinzu kommt, dass ein gewisser exkommunizierter Geistlicher namens Brennan – Kenner des Originals wissen: Er wird Gregory Peck über die Bedeutung Damiens aufklären – genau dieses Mädchen mit der Ankunft des Antichristen in Verbindung bringt. Und Margaret darauf ansetzt, diese zu vereiteln. Die junge Frau wird somit immer tiefer in geheimnisvolle Verstrickungen und unheilvolle Begebenheiten hineingezogen, alles wird bedrohlicher und gefährlicher und keine Nonne in diesem Waisenhaus ist das, was sie vorgibt zu sein.

Die katholische Schwesternschaft muss abermals stark sein: Schon wieder gibt es einen Horrorfilm, der die schwarzweiß gekleideten Dienerinnen Gottes mit diabolischem Grauen in Verbindung bringt. Da hätte es doch gereicht, dass die grässliche Jumpscare-Nonne Valak aus dem Conjuring-Universum deren Image nicht gerade aufpoliert. Nun aber hängt die ganze katholische Kirche mit drin, es ist wie in der Netflix-Serie Warrior Nun, in der Nonnen zumindest als martialische Kämpferinnen im vom Teufel infiltrierten Vatikan ordentlich aufräumen. Hier, in Das erste Omen, brennen und hängen, tuscheln und kichern die Damen im Habit auf Teufel komm raus, und immer wieder wünscht man sich Whoopi Goldberg als Schwester Mary Clarence her, die den Laden wohl ordentlich aufgemischt hätte und all die irren Ideen dem verkorksten Haufen mit hüftschwingender Musik ausgetrieben hätte. Doch nein, es bleibt düster, und es bleibt gediegen. In wenig erschreckender Langsamkeit, dafür aber mit reichlich Stimmung, investigiert sich die wirklich famos auftrumpfende Nell Tiger Free (Game of Thrones, Servant) in eine selbsterfüllende Prophezeiung hinein, die begleitet wird von stilfremden Grusel-Versatzstücken, die sich so anfühlen, als wären sie im falschen Film. Lässt man die mal außer Acht, und auch eine gewisse Anbiederung an Roman Polanskis weitaus mysteriöseren Horror Rosemary’s Baby, bleibt ein sakraler Thriller, der mit Lust einige Unklarheiten aus dem Original-Omen glattbügelt, dabei aber zu sehr darauf bedacht ist, nahtlos an den folgenden Plot, den der Klassiker mit sich bringt, anzuknüpfen. Das Fan-Service bleibt dabei nicht außen vor, und der Kompromiss aus Zugeständnissen und ungelenken Konstruktionen stimmt immerhin so weit, dass gar eine Fortsetzung möglich wäre – als Spin Off, dessen Handlungsbogen wohl eher als Serie gefällt. Der Stoff, der noch folgen könnte, wäre in der Wahl seiner Mittel dann weitaus freier.

Das erste Omen (2024)

Argylle (2024)

COME ON, LET´S TWIST AGAIN!

6,5/10


Argylle© 2024 Apple TV+


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2024

REGIE: MATTHEW VAUGHN

DREHBUCH: JASON FUCHS

CAST: BRYCE DALLAS HOWARD, SAM ROCKWELL, HENRY CAVILL, BRYAN CRANSTON, CATHERINE O’HARA, SAMUEL L. JACKSON, JOHN CENA, ARIANA DEBOSE, DUA LIPA, SOFIA BOUTELLA, RICHARD E. GRANT, TOMIWA EDUN, STANLEY MORGAN U. A.

LÄNGE: 2 STD 19 MIN


Bryce Dallas Howard hat längst bei mir einen Stein im Brett. Das liegt wohl weniger daran, dass die Tochter des Regie-Veteranen Ron Howard in den letzten Jurassic World-Filmen allerhand Abenteuer überstehen hat müssen. Das liegt für mich als Star Wars-Fan der ersten Stunde wohl daran, dass die Dame verantwortlich zeichnet für die eine oder andere Episode des Mandalorian und sie somit ihre Liebe für das epische Franchise bewies. Weit weg von Science-Fiction und Dinosauriern, aber immer noch im Bereich unmöglicher Fiktion, darf Howard in Matthew Vaughns neuem Film, der hierzulande in Österreich nicht mal in den Kinos lief, zu einer Art Joanne K. Rowling des Spionageromans werden – zu einer freundlichen, etwas biederen, aber ideenreichen Autorin namens Elly Conway, die gerne Lesungen gibt und einen Roman nach dem anderen zum Bestseller werden lässt. Argylle nennt sich ihr Superagent, im monochrom-futuristischen Zweiteiler und mit einem Bürstenhaarschnitt, der an die Frisuren der Achtziger gemahnt. In diese dankbare Rolle schlüpft Henry Cavill, diesmal glattrasiert und mit Sinn für Humor und Selbstironie. Ihm zur Seite steht einer wie John Cena im Hawaiihemd – beide erleben ein Abenteuer, das tatsächlichen Ereignissen frappant ähnelt. Was zur Folge hat, dass eine Geheimorganisation namens Division, angeführt von „Walter White“ Bryan Cranston, hinter ihr her ist. Oder besser gesagt, hinter Agent Aidan Wilde, gespielt von Sam Rockwell, der zu wissen glaubt, warum Conways Geschichten so authentisch klingen. Seine Aufgabe ist es nun, die Autorin, die nicht weiß, wie ihr geschieht, vor den Zugriffen der sinistren Bande zu schützen.

Man weiß, wie Agentenfilme ablaufen. Alle Klischees, Versatzstücke und Stereotypen sind seit James Bond, der Dr. No gejagt hat, hinreichend bekannt. Und parodiert wurde das Ganze auch schon. Ob Mike Myers grenzdebile Austin Powers-Reihe, Rowan Atkinson als Johnny English oder Jean Dujardin Als Agent 0SS 117 – im Grunde wäre alles schon gesagt, alles durch den Kakao gezogen und alle Plot-Holes bereits verlacht: Matthew Vaughn legt zwar nicht unbedingt eins drauf, und erfindet das Rad auch nicht neu, parodiert aber in erster Linie jenes Must Have des Genres, das als Plot-Twist die Handlungen in neue Richtungen lenkt. Statt Vaughn selbst hat Jason Fuchs das Drehbuch verfasst, dieses wiederum beruht auf einem Roman, dessen Pseudonym tatsächlich Elly Conway lautet – der Verdacht, Taylor Swift hätte das ganze geschrieben, löste sich aber bald in Luft auf. Mit diesem Stoff, so Vaughn, könnte man den Agentenfilm in neue Dimensionen befördern. In Wahrheit aber ist Argylle vor allem eins: ein Twist-Gewitter ohne Rücksicht auf Verluste oder gar inhaltlicher Notwendigkeiten, die zu diesen Wendungen führen. Das macht aber nichts, in Filmen wie Argylle muss nicht alles hinterfragt werden, denn zum Glück nimmt weder das ganze Start-Ensemble des Films als auch Matthew Vaughn auch nur im Entferntesten die Sache ernst. Ob es Apple dabei genauso geht, in Anbetracht des mageren Einspielergebnisses an den Kinokassen? Dies mag der Grund dafür sein, dass der Konzern den Film in manchen Ländern gleich direkt streamen lassen wird. Ob es Fortsetzungen geben wird? Auch das ist fraglich.

Dem Unterhaltungswert der turbulenten Actionkomödie, die im Universum von den Kingsmen angesiedelt ist und im Minutentakt die Karten neu mischt, tut das eigentlich keinen Abbruch. Argylle ist pures, knallbuntes Zickzack-Entertainment ohne Tiefgang, dafür aber rasant, kurzweilig und so heillos übertrieben, dass es manchmal richtig weh tut. Als PR-Vehikel für den unlängst ausgegrabenen Beatles Song Now and Then könnte die eigentliche Legitimität des Films beinhalten – und zugegeben, die Einarbeitung in den Score gelingt. Katzenliebhaber kommen ebenfalls auf ihre Kosten, denn Elly Conways Stubentiger, halb animiert, halb Live-Act, ist stets mit dabei. Der Rucksack mit dem Bullauge, in dem das Haustier herumgetragen wird, hat das Zeug zum Kult-Accessoire.

Argylle (2024)

Evil Does Not Exist (2023)

WIE KOMMT DAS BÖSE IN DIE WELT?

8/10


evildoesnotexist© 2024 Polyfilm


LAND / JAHR: JAPAN 2023

REGIE / DREHBUCH: RYŪSUKE HAMAGUCHI

CAST: HITOSHI OMIKA, RYO NISHIKAWA, RYÛJI KOSAKA, AYAKA SHIBUTANI, HAZUKI KIKUCHI, HIROYUKI MIURA U. A.

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Ist ein friedlicher Ort im Einklang mit der Natur und im Grunde nur bestehend aus selbiger wirklich das Ideal einer Welt? Geht es nicht darum, ein Gleichgewicht zu halten zwischen Zerstörung und Wachstum, Leben und Tod oder gar Gut und Böse? Natürlich ist es das. Wie schon die daoistische Philosophie des Yin und Yang es voraussetzt, so trägt eine existenzielle Vollkommenheit genau diese beiden Pole in sich: Das Helle und das Dunkle, und das eine kann ohne das andere nicht existieren. Viele werden meinen: Diese Erkenntnis ist wahrlich nicht neu. Und ja, das stimmt. Dafür braucht es keinen Film, der diese Abhängigkeit noch einmal unterstreicht. Vielleicht geht es darum, Anwendungsbeispiele zu setzen, diese Dualität in eigene Klangformen zu bringen oder diese aus einer Perspektive zu betrachten, die beim ersten Hinsehen keinen Sinn ergibt. Und doch tut sie das. Und doch gelingt es dem japanischen Filmemacher Ryūsuke Hamaguchi auf sonderbare Weise – und das ist der Punkt: dass es eben sonderbar erscheint – nicht nur das Verhältnis zwischen Verderben und Eintracht darzustellen, sondern auch dem Faktor Mensch eine gewisse Aufgabe zukommen zu lassen in diesem ganzen Sein, in dieser Dreidimensionalität, die ohnehin niemand so recht versteht und von der keiner lassen kann. In Evil Does Not Exist wird der Mensch an sich zum willenlosen Wahrer einer Balance, die, wenn sie kippen würde, den Untergang bringt.

Hamaguchi hat mit seinem überlangen Drama Drive My Car die Filmwelt und insbesondere Kritiker in helle Aufregung versetzt, gilt doch dieses Werk als großes Kunststück des asiatischen Autorenkinos. Zweifelsohne hat dieser Film seine Qualitäten – emotional abgeholt hat er mich nicht, die feine psychologische Klinge hin oder her. Zu unnahbar und lakonisch die Figuren, zu sperrig die Sichtweise, vielleicht sogar mental zu fremd. Mit Evil Does not Exist gelingt Hamaguchi diesmal mehr als nur Arthouse-Drama. Diesmal gelingt ihm eine Parabel, die weitaus universeller funktioniert und eine Botschaft transportiert, die überall anwendbar scheint. Hamaguchi setzt eine philosophisch-ethische Gleichung, deren eingesetzte Variable am Ende der Aufgabe ein kryptisches Ergebnis liefert. Vorerst.

Es ist eine Conclusio, die man womöglich so nicht kommen sieht; die sich anfangs einem gewissen Verständnis verweigert. Evil Does Not Exist lässt allerdings im Nachhinein die Möglichkeit zu, von Neuem an die Materie heranzugehen, um sie zu besser verstehen. Und dann setzt sich alles zusammen, dann wird die Sicht auf das große Ganze klar. Und der Mensch zu einer Variablen, die durch ihren Drang zur Zerstörung erst diese Balance gewährleistet, die diese unsere Dimension braucht, um nicht in sich zusammenzufallen. Das Böse existiert nicht in der Natur: Der Titel des Films nimmt schon einiges vorweg. Und zeigt auch gleich ein Defizit auf: Es ist das Fehlen der anderen Komponente.

In einem südlich von Tokyo auf Honshu gelegenen Waldgebiet ist der Einklang mit der Natur, die Sauberkeit der Quellen und die Ruhe der Biosphäre oberstes Gebot für eine Handvoll Menschen, die hier leben. Takumi, Witwer und einer, der die Gemeinschaft fast schon im Alleingang zusammenhält, lebt zwischen Buchen, Lärchen und Kiefern mit seiner kleinen Tochter Hana ein beschauliches Leben und nimmt von der Natur, was unter Beachtung der Nachhaltigkeit entnommen werden kann. Diese Idylle, die anfangs schon das Gefühl vermittelt, hier fehlt es an etwas ganz Bestimmtem, wird gestört durch das Vorhaben einer Agentur, auf einem aufgekauften Grundstück mitten im Forst und nahe des Trinkwasser spendenden Baches eine Glamping-Oase samt Kläranlage zu errichten. Das stößt auf Kritik und wenig Zuspruch, einiges müsste hier adaptiert werden, um den Unmut zu besänftigen. Die beiden Gesandten dieser Firma haben bald ihre eigene Sicht der Dinge, die nicht ganz mit der Agenda ihrer Vorgesetzten kompatibel scheint. Im Laufe der Handlung wendet sich das Blatt, die Natur wird zum Lehrmeister und zur verlockenden Gelegenheit, selbst auszusteigen und ein neues Leben anzufangen, inmitten der Ruhe und der Eintracht. Doch wider Erwarten ist genau dieser Entschluss nicht das, was die Balance bringt. Takumi muss in sich gehen, muss etwas tun. Und so, als ob es einen Wink des Schicksals benötigt hätte, um weiterzumachen, verschwindet dessen Tochter.

Der Mensch also, als Verursacher für Reibung, für Dissonanz, für das Verzerren einer Harmonie, die sich selbst nicht aushält? Auf diesen Punkt steuert Hamaguchi zu, genau dahin will er sein Publikum bringen, damit dieses erkennt, dass, ohne das verheerende Tun des Menschen zu legitimieren, unsere Art vielleicht gar nicht anders kann, als Dissonanzen zu setzen – es wäre für das Gleichgewicht. Alles auf diesem Planeten kippt entweder in die eine oder in die andere Richtung, beides ist fatal. Diesen Ausgleich zu bringen, so sehr er auch schmerzt, dafür muss die unnahbare, introvertierte und wortkarge Figur des von Hitoshi Omika dargestellten Takumi Opfer bringen. Hamaguchi blickt durch eine ernüchternde Distanz auf dieses Dilemma. Er versucht, ein Muster zu erkennen in diesem andauernden ewigen Kräftespiel. Und es gelingt ihm, so sehr das gewählte Ende der Geschichte auch vor den Kopf stoßen mag.

Evil Does Not Exist ist hochkonzentriert, denkt nach und regt zum Nachdenken an. Selbst zwischen den von Eiko Ishibashi komponierten Musikstücken setzt der Filmemacher als akustisches Element seiner Dissonanz-Symphonie abrupte Cuts, worauf immersive Stille folgt. Impressionistische Bilder einer in sich ruhenden Natur werden von der grotesken Tilgung einer ursprünglichen Landschaft abgelöst – Häusermeere, Profitgier, fiese Kompromisse. Evil Does Not Exist ist wie ein Pendel, das nach heftiger Bewegung am Ende stillsteht. Dieses Ideal mag nicht gefallen, bringt aber genau die Reibung mit sich, die wir im Denken brauchen. Natürlich ist es Interpretation, doch unter dieser fügt sich alles zusammen.

Evil Does Not Exist (2023)

10 Cloverfield Lane (2016)

MIT QUERDENKERN IM BUNKER

8/10


10-cloverfield-lane© 2016 Paramount Pictures


LAND / JAHR: USA 2016

REGIE: DAN TRACHTENBERG

DREHBUCH: JOSH CAMPBELL, MATTHEW STUECKEN & DAMIEN CHAZELLE

CAST: MARY ELIZABETH WINSTEAD, JOHN GOODMAN, JOHN GALLAGHER JR., SUZANNE CRYER, DOUGLAS M. GRIFFIN, BRADLEY COOPER U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Dass New York von einem Monster heimgesucht wurde, versetzte damals so einige, denen virale Kampagnen für Filmproduktionen nicht so bekannt waren, in Angst und Schrecken. So, wie Matt Reeves seinen Found Footage-Schocker Cloverfield promotet hat, wurde damals nur die vermeintlich reale Hexe aus Blair Witch. Fake also, noch weit vor KI – und umso effektiver. Dabei war nicht nur die PR bahnbrechend, sondern auch der Film selbst. Knackig, panisch, beklemmend und dicht. Die stete Abwesenheit des Aggressors schürte noch dazu die eigene Fantasie, wie damals, in Ridley Scotts Alien. Interessantes Detail am Rande: Der Film hört genau zur selben Uhrzeit auf, wie er begonnen hat.

Cloverfield wird als Code-Begriff des Militärs für paranormale Begebenheiten angewandt, zumindest in dieser von J. J. Abrams produzierten Trilogie, die eigentlich nur lose miteinander zusammenhängen, scheinbar wenig gemeinsam haben, und doch allesamt einer Ausnahmesituation gegenüberstehen, deren Umfang sich eigentlich nie begreifen lässt und deren Ursache und Wirkung niemand kennt. In der Verzweiflung des Menschen, keine Erklärung für das zu finden, was er sieht, und das, was er sieht, nicht willentlich ist, zu glauben – darin liegt die Intensität vor allem, von Cloverfield – und auch von 10 Cloverfield Lane.

Auch A Quiet Place lässt die wehrlose Menschheit dumm sterben, wenn sie denn zu viel Lärm macht. In Bird Box erfährt man noch weniger von den Dingen, die sich abspielen – völlig im Dunklen tappt hier die Welt. In 10 Cloverfield Lane von Dan Trachtenberg (Prey), das wie gesagt als Sequel zu Matt Reeves Katastrophenfilm funktionieren kann, aber nicht muss, haben weder das Publikum noch die drei Protagonisten im Film keinerlei Ahnung – und vor allem: keinerlei Gewissheit darüber, was da oben abgeht – sitzen doch alle drei in einem penibel eingerichteten Bunker, der alle Stückchen spielt und so eingerichtet ist wie ein Wochenendbungalow, mit jeder Menge an Vorräten, fließend Wasser und elektrischem Strom vom Generator.

Die Grundsituation des Films ist schnell erklärt: Mary Elizabeth Winstead gibt hier Michelle, die nach einem Autounfall in den heiligen Hallen von Querdenker Howard erwacht. Der verbietet ihr zu gehen, schwört er ihr doch hoch und heilig, sie vor dem Untergang gerettet zu haben; vor der Apokalypse aus Radioaktivität oder Giftgas oder was auch immer. Entweder waren es die Russen oder die Nordkoreaner oder etwas ganz anderes will sich den Planeten unter den Nagel reißen – würde man selbst dieser übereifrigen Autorität, die John Goodman fernab seines komödiantischen Potenzials mit einer gefährlichen Jovialität verkörpert, Glauben schenken. Wie quälend ist der Gedanke, nicht genau zu wissen, ob Goodman wohl recht hat oder nicht? Michelle ist hin und hergerissen, aber tendiert eher zur Flucht, die sich nicht so leicht umsetzen lässt. Darüber hinaus ist da noch Emmett, einer, der sich freiwillig in den Schutz von Howard begeben hat, denn er hat das rote Licht gesehen, das da plötzlich aufgegangen war.

Wie 10 Cloverfield Lane mit den Vermutungen spielt, ist Suspense-Kino, wie man es selten sieht. Einerseits könnte Howard ein aufrichtiger Gutmensch sein, der weiß, wovon er spricht. Allerdings könnte er auch ein Psychopath sein, der weiß, wovon er spricht. Oder doch ein heillos überforderter Querdenker, der es ehrlich meint, aber in Wahrheit keine Ahnung hat. Trachtenbergs Film, an welchem auch Damien Chazelle mitgeschrieben hat, füttert sein Bedrohungsszenario mit den Werten von Vertrauen und Verlässlichkeit, bis nichts mehr übrig scheint. Es nährt sich von der Kehle zuschnürenden Angst, im Informationszeitalter ohne Informationen auszukommen und sich nur auf Vermutungen verlassen zu müssen, die man um alles in der Welt selbst einer Überprüfung unterziehen will. Die Wahrheit wird zum höchsten Gut und ist mehr wert als die eigene Gesundheit. Diese Metaebene gibt 10 Cloverfield Lane eine ungeahnte Tiefe, streut noch dazu Story-Twists ein und setzt die Benchmark für ein straffes Kammerspiel ohne leere Worthülsen neu.

Zuviel auf den Film darf ich hier aber auch nicht eingehen. Der größte Spaß ist dabei, so ahnungslos wie möglich in den bunker zu wandern. Da ich aber ungefähr wusste, wie die ganze Sache ausgeht, haben mich all die Wendungen zumindest nicht eiskalt erwischt. Und dennoch: Auch wenn man schon so eine Ahnung hat, ist es immer noch ein großer Unterschied, den Film selbst zu sehen als gespoilert zu bekommen, mit all seinen auf Konfrontation angelegten Figuren, aus denen sich so viel mehr entwickelt, als man hätte ahnen können. Und ja: Ahnen heißt nichts wissen. Doch Wissen ist Macht.

10 Cloverfield Lane (2016)

Still: A Michael J. Fox Movie (2023)

HALLO MCFLY, JEMAND ZU HAUSE?

7/10


stillmichaeljfox© 2023 Apple TV+


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: DAVIS GUGGENHEIM

IM INTERVIEW MIT: MICHAEL J. FOX

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Als ob es ihm wichtig wäre angesichts seiner Popularität: Dieser Mann genießt ohne Ablaufdatum mein Wohlwollen. Selten hat ein Sympathieträger wie er das Film- und Fernsehgeschehen so aufgemischt wie der ewige Junge aus der Nachbarschaft – und damit ist nicht Spiderman gemeint, denn Tom Holland punktet zwar ebenfalls mit einer gewissen Natürlichkeit, kommt aber an den one and only Michael J. Fox einfach nicht heran. Ehrlich gesagt: Das tut niemand. Hätte ich die Chance, mit einem Hollywood-Star befreundet zu sein, dann wüsste ich, es wäre er. Ich wüsste, er wäre es auch, wäre er nicht berühmt. Und auch wenn diese fiese Krankheit genannt Parkinson ab den Neunzigern sein Leben und seine Präsenz auf der Leinwand maßgeblich eingeschränkt hat: Unterkriegen lässt er sich davon bis heute nicht.

Diese Lust am Leben vermittelt interessierten Zusehern das exklusiv auf Apple TV+ erschienene, abendfüllende und dokumentarische Portrait eines aufgeweckten „Marty McFly“, der sein ganzes zurückliegendes Leben mit Staunen und ironischem Humor betrachtet. Natürlich bleibt bei Filmen wie diesem die Frage offen: Will Michael J. Fox nur so gesehen werden, wie ihn alle kennen, um ein für alle Mal mit Mutmaßungen und pressetauglichen Fehlinformationen reinen Tisch zu machen – oder lebt er dieses Jetzt-erst-recht-Motto tatsächlich?

Die besondere Kunst des Michael J. Fox lag immer darin, sein sich für ihn begeisterndes Publikum wissen zu lassen, dass das, was er vor die Kamera bringt, ungefähr jener Mentalität gleichkommt, die der Mann auch im Privatleben anwendet. Schließlich gibt es auch Koryphäen des Unterhaltungsfachs wie zum Beispiel Robin Williams, der die Komödien der Achtziger und Neunziger prägte, der aber auch ernst konnte – und tatsächlich aber, und vor allem in den späteren Jahren, wohl ein zutiefst unglücklicher Mensch gewesen sein muss, der seinem Leben durch die eigene Hand ein Ende setzte. Hier in Österreich brachte in den 60er und 70er-Jahren einer wie Maxi Böhm ganze Auditorien durch humorvolle Improvisation zum Brüllen – letztendlich starb er an gebrochenem Herzen. Michael J. Fox macht deutlich, dass gerade seine Authentizität in diesen Dingen, die Mitnahme seines Weltempfindes auf die Leinwand und ins Fernsehen, ihn deshalb so resilient gegenüber allen Widrigkeiten des Lebens werden ließ – und sei es auch das Handicap einer schweren Schüttellähmung, die eisernes physiotherapeutisches Training erfordert und einen unbändigen Willen, so zu bleiben, wie er immer war, zu sich zu stehen und es auszuhalten bis zum Ende, das noch lange nicht kommen muss. Schließlich ist Michael J. Fox nicht allein, hat er doch, und das zeigt Davis Guggenheim auf fast schon idealisierte Weise, die Beständigkeit einer treuherzigen Familie hinter sich.

Unter solchen Bedingungen lässt sich der Blick zurück auf eine Zeit, als alles noch wirklich richtig gut war und der eigene Körper das machte, was er tun soll, auch aushalten. So nimmt sich Dokufilmer und Serienmacher Davis Guggenheim, dessen von Al Gore moderierte Warnung Eine unbequeme Wahrheit 2006 schon in weiser Voraussicht den Klimawandel thematisierte, genug Zeit, um mit den im Geiste junggebliebenen und scharfsinnigen Kultschauspieler über Gewesenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges zu philosophieren. Der Werdegang, die ganze Karriere und der Ruhm, der ihm auch nie zu Kopf gestiegen war, erzählt sich schließlich wie das Soll eines Hollywood-Traums, angefangen von der Sitcom Family Ties (hierzulande bekannt unter Familienbande) bis zu den legendären Auftritten zu den Jahrestagen von Zurück in die Zukunft, gemeinsam mit Freund Christopher Lloyd. Solche Momente rühren dann doch, und zur Gänze schönreden lässt sich die missliche Lage eines gequälten Körpers dann auch nicht mehr. Michael J. Fox nimmt sie hin, er zeigt, was Sache ist, er zeigt auch, dass Parkinson nicht mit Alzheimer zu verwechseln ist. Er zeigt, dass er will, und meistens sogar kann. Er macht auch klar, dass das, was die Habenseite ausmacht, viel mit Zufriedenheit zu tun hat. Immer noch mehr zu wollen wäre fatal, also wählt Fox den Weg der Akzeptanz und des Stolzes. In Still: A Michael J. Fox Movie müssen Taschentücher nicht griffbereit liegen, niemals ergeht sich dieser sich selbst so achtende Öffentlichkeitsmensch in Selbstmitleid. Man könnte Guggenheims Film auch als Suche nach einer Form des Glücks betrachten – nach jenem der Fülle. Die Pro- und Contra-Liste von Fox‘ Leben ist lang, doch nur in einer der beiden Spalten häufen sich lebensbejahende Argumente, die ihm keiner mehr nehmen kann. Nicht mal Parkinson.

Still: A Michael J. Fox Movie (2023)

Land of Bad (2024)

NICHT OHNE MEINE DROHNE

4/10


land-of-bad© 2024 capelight pictures


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: WILLIAM EUBANK

DREHBUCH: DAVID FRIGERIO, WILLIAM EUBANK

CAST: RUSSELL CROWE, LIAM HEMSWORTH, MILO VENTIMIGLIA, LUKE HEMSWORTH, RICKY WHITTLE, DANIEL MACPHERSON, CHIKA IKOGWE, LINCOLN LEWIS, GUNNER WRIGHT U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Das war noch was, als der unzerstörbare Chuck Norris gemeinsam mit Lee Marvin im pyrotechnisch versierten Achtziger-Jahre Actiontrash Delta Force den Bösen so richtig einheizen konnte. Den Videotheken wurden zu dieser Zeit regelrecht die Türen eingerannt, Action von damals mit den ganzen späteren Expendables-Haudegen auf bis zur Unkenntlichkeit abgespulten Kassetten, deren mangelnde Qualität aber nicht die Freude nahm, exklusives Material, das sonst keiner auf den beiden öffentlich-rechtlichen Fernsehkanälen sah, bei Dosenbier und Chips und ohne viel Hirnaktivität sichten zu können. Solche Action gibt es heutzutage nicht mehr. Und das ist gut, denn die Zeit des naiven Hurra-Patriotismus und moralbefreiter Rundumschläge ist vorbei. Die Delta Force-Spezialeinheit ist es nicht, sie treibt sich immer noch im Dschungel herum, doch diesmal ist es nicht Chuck Norris, der wortkarg das Feuer eröffnet und maximal eine Schramme davonträgt. Diesmal ist es der zukünftige „Witcher“ Liam Hemsworth, Bruder des deutlich heller im Rampenlicht stehenden Chris Hemsworth, der mit Tyler Rake sein eigenes Franchise gefunden hat. Als einer, der je nach Auftrag zu Unrecht kasernierte Leute raushaut, weiß er sich auf Netflix formschön in Szene zu setzen. Diese Filme geben, was die Beanspruchung der Physis betrifft, einiges her, doch wie sieht es mit Land of Bad aus? Kann Liam seinem Bruder das Wasser reichen?

Diese reuelose, unordentlich aufgeräumte Ära des Krawall-Genres könnte mit Land of Bad eine ins neue Jahrtausend katapultierte Entsprechung gefunden haben, denn sieht man mal vom Auftritt Russel Crowes als Drohnen-Pilot im geschmacklos bunten Hawaiihemd ab, wecken der Dschungel und die darin befindlichen Spezialisten, die eben als Delta Force Team genau das machen sollen, was Chris Hemsworth schon gemacht hat: nämlich Leute raushauen, nostalgische Gefühle. In diesem Fall muss die knallharte Charge auf den Philippinen einen CIA-Agenten aus den Fängen der Terrormiliz Abu Sayyaf befreien. Unter diesen bis an die Zähne bewaffneten, kernigen Stereotypen, die mit routinierter Lässigkeit den Elite-Tiger raushängen lassen und jede Sekunde eigentlich damit rechnen müssten, dem Killerinstinkt eines Predator zum Opfer zu fallen, mischt auch noch ein dritter Hemsworth-Sprössling mit: Es ist Luke, seines Zeichens farblos und generisch wie alle anderen, die alsbald schon mit einem Hinterhalt rechnen müssen, der fast die ganze Einheit dezimiert – bis auf Liam nämlich, der sich glücklich schätzen kann, Russel Crowe an der Hand zu wissen, der mit seiner raketenbestückten Drohne weit weg vom Geschehen fürs Reinemachen sorgt und das große Ganze im Überblick behält. Als ungleiches Gespann ackern sich die beiden also durch den Dschungel respektive über den Bildschirm. Die bösen Philippinos beißen ins Gras, vieles explodiert, Liam braucht bald dringend einen Arzt.

Land of Bad ist der weitaus zeitgemäßere Titel statt Delta Force 4 (denn drei Teile gibt es schon), unter Land of Bad könnte man auch einen düsteren Politthriller vermuten, doch so weit würde ich nicht gehen. William Eubank, dessen Geniestreich The Signal schon einige Jährchen zurückliegt, setzt, ohne eine eigene Handschrift auszuarbeiten, nach Kristen Stewarts Tauchgang Underwater auf die sichere Bank eines Actionfilms und meint dann doch, mit Charakterkopf und Oscarpreisträger Russel Crowe seiner Arbeit ein gewisses Alleinstellungsmerkmal angedeihen zu lassen. Da ist natürlich was dran, und das Zusammenspiel von zwei Männern, die zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten ums Überleben kämpfen, hat Potenzial, auch wenn Eubank genau dieses in seiner Entfaltung immer wieder selbst unterwandert, indem er das Konzept eines konzentrierten Handlungsfadens durch das Mitmischen lästiger Faktoren verwässert und Liam Hemsworth wohl nicht zutraut, mehr zu empfinden als nur Schmerz. Das hat zur Folge, dass die Action zwar sitzt und einige State of the Art-Zuckerl in die tropenfeuchte Botanik geworfen werden – griffige Figuren bleiben aber Mangelware und sind verantwortlich für ein gewisses Déjà-vu-Gefühl.

Alles schon mal so gesehen? Ja natürlich, und noch dazu weitaus einprägsamer. Russel Crowe bleibt als gemütlicher Joystick-Zampano unter dem Radar, und nimmt man sich einen ganz anderen Film mit dieser Thematik zu Brust – in diesem Falle Eye in the Sky – lässt sich erkennen, um wie viel mehr Flächenbrand Gavin Hoods hochspannender Drohnenthriller entfacht als dieser hier. Man muss aber berücksichtigen: Der eine ist ein moderner Kriegsfilm mit Tiefgang, der andere hegt als Dschungel-Action keinerlei Anspruch auf Mehr.

Land of Bad (2024)