Willkommen in Marwen

MINIMUNDUS FÜR DIE SEELE

6,5/10

 

Untitled Robert Zemeckis Project© 2019 Universal Pictures International Germany

 

LAND: USA 2019

REGIE: ROBERT ZEMECKIS

CAST: STEVE CARRELL, LESLIE MANN, DIANE KRUGER, MERRITT WEVER, GWENDOLINE CHRISTIE, ELZA GONZÁLES U. A.

 

Einem Schulfreund von mir, dem ist ähnliches passiert. Wurde zu später Stunde an einer Imbissbude von seltsamen Typen bedrängt, die ihn auf einen Pfefferoni einladen wollten. Nach dankender Ablehnung dann eine wie aus heiterem Himmel ungebändigte Entladung hasserfüllter Aggression. Die Folge: Gesichtsfrakturen, Spitalsaufenthalt, Gerichtstermine und ein Trauma, das lange nachhält. Und überwunden werden kann, wenn man nicht allein bleibt. Therapie, Familie und Freunde, das alles kann vieles wieder gut machen, auf dem Weg zurück in den Alltag. Manch einer aber scheint so sehr zu verzweifeln, so sehr erniedrigt und gebrochen worden zu sein, dass die Erschaffung einer erdachten Reserve-Welt das einzig probate Mittel scheint. Wie bei Mark Hogencamp. Der ist einer, der war mal Illustrator mit begnadetem Talent. Und einer, der gerne Frauenschuhe trug, am liebsten High Heels. Genau weiß Hogencamp das auch nicht mehr. Aber was weiß er schon, oder besser gesagt was weiß er noch, nachdem ihm Neonazis auf offener Straße das Gedächtnis aus dem Kopf geprügelt haben. Kellnerin Wendy hat ihn dann gefunden. Und das Leben wurde ein anderes, ganz anders als zuvor.

Klingt fast ein bisschen nach In Sachen Henry. Wer sich noch erinnern kann – Harrison Ford wurde da zwar nicht halbtot geschlagen, allerdings wurde ihm in den Kopf geschossen. Willkommen in Marwen hätte eine ähnliche Leidens- und Genesungsgeschichte werden können – bewegt sich aber auf ganz anderen Pfaden und lässt sich nur bedingt mit Mike Nichols Drama vergleichen. Dieser tatsächlich existierende Hogencamp, der wusste zwar noch, wer er war, doch die feinmotorischen Skills für seine Arbeit, die waren dahin. Stattdessen hielten Furcht, Schmerz und Ohnmacht Einzug in das Leben einer wie ausgewechselten Persönlichkeit. Und irgendwann waren sie dann da: Puppen. So groß wie Barbies und meistens weiblich. Und jede von ihnen ein Äquivalent zu real existierenden Frauen, die nach besagtem Tag X an seiner Seite blieben. Letztendlich auch die neue Nachbarin, die rothaarige Nicol. Diese Puppen – die sind aber längst mehr als nur der Ausdruck einer Leidenschaft fürs Sammeln. Sie sind die Bewohner einer fiktiven belgischen Stadt namens Marwen zur Zeit des zweiten Weltkriegs. Marwen – das setzt sich zusammen aus Mar für Mark und Wen für Wendy, seiner Lebensretterin. Bedroht wird die dörfliche Idylle im Vorgarten von gewaltbereiten, fiesen Nazi-Schergen, die ungefähr das platte sinistere Charisma der Schurken aus Inglourious Basterds haben. Wer in dieser erträumten und auf Foto gebannten Parallelwelt aber zuletzt lacht, lacht am besten – Marks letztes Fünkchen Widerstand in Gestalt des mutigen US-Piloten Captain Hogie, eine Art John Wayne als Beschützer seiner selbst und all der Bewohner Marwens. Und dieses Minimundus für die Seele, dieser schreinartige Kurort, der zieht sich bis in die eigenen vier Wände und dominiert Hogencamps ganzes Dasein.

Allerdings – und das ist ein wichtiger Unterschied – nicht auf eine Weise, die mit einer Flucht vor der Realität gleichkommt. In Filmen wie Pans Labyrinth, Sucker Punch oder Mirrormask suchen vorwiegend junge Mädchen in einer von ihnen erdachten Welt als inhärenter Teil die Lösung für ihr Problem. Ebenso in Sieben Minuten nach Mitternacht oder I Kill Giants interagieren die psychisch Leidenden mit Wesen, die nur in ihrer Vorstellung existieren. Oder sagen wir so – sie sind überzeugt davon, dass sie existieren, für den Moment, ohne diese Realität hinterfragen zu wollen. Mark Hogencamp betrachtet seine Welt stets von außen, er ist Fotograf, ein Beobachter, er erdenkt das Abenteuer, welches wir sehen, als normalen kreativen Prozess, wie jeder andere Künstler auch, der Geschichten erfindet, um erlittene Kränkung zu bannen und auf eine verfremdete, simplifizierte Weise wiederholt durchzuspielen.

Robert Zemeckis, Schöpfer von Klassikern wie Forrest Gump, kennt sich mit realen Schicksalen und Grenzgängern auf alle Fälle gut aus. Und er hat eine Vorliebe dafür, mit Motion Capture zu experimentieren. Die Legende von Beowulf oder der Weihnachtsfilm Der Polarexpress waren erste Pionierarbeiten auf diesem mittlerweile ums x-fache verfeinerten Gebiet der Charakter-Animation. Mit dem Fotokünstler Hogencamp hat Zemeckis die Biographie eines Menschen aufgegriffen, der seine Katharsis selbst gewählt hat und sich so therapieren konnte. Interessant auch, wie Zemeckis sich selbst zitiert, vor allem seinen Klassiker Zurück in die Zukunft, als Wunschtraum dafür, Geschehenes ungeschehen zu machen. Im Ganzen ist die True Story für ihr Genre ungewohnt bunt, dabei durchaus berührend und irgendwie kurios, aber niemals belächelnd. Ein kleines Psychodrama aus der Vorstadt, mit einem sagenhaft guten Steve Carrell, der wie ein Protagonist aus einer Episode von Elisabeth T. Spiras Alltagsgeschichten mit seinem dackelgroßen Jeep voller Figuren die Straße entlangstolpert. Das sind an sich sehr persönliche, verletzliche Momente, die das animierte Puppentheater, das irgendwann sogar die Realität durchdringt, wie einen schützenden Vorhang umgibt. Dieser Vorhang, der mag, kennt man die Hintergründe nicht, relativ dick aufgetragen sein und nicht dem Zweck entsprechen. Mit dem trashigen Miniaturdrama, dass sich parallel oder als Teil von Hogencamps Psychogramm abspielt, kann man sich entweder identifizieren, es verstehen oder fragwürdig finden. Doch der Weg zur Befreiung von den eigenen Dämonen muss nicht gefallen. Sondern vor allem eines: er muss heilen.

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