Best of 2024

DIE TOP 30 VON FILMGENUSS


bestof_jahrgang_2024


Nein, das zurückliegende Filmjahr 2024 war nicht das Jahr der Blockbuster und der Franchise. Weder für Marvel, noch für DC, noch für Star Wars, vielleicht gerade noch für Herr der Ringe, zumindest gegen Ende des Jahres, als ein Anime auf kostengünstige Weise den Stoff als Lückenfüller, wenn auch als gelungener, zu hörbarem Atemholen verhalf. Die letzten 366 Tage waren vielmehr von Innovationen begleitet. Von neuen Blickwinkeln, Gedankengängen und Experimenten. Frischer Wind blies durch die Kinosäle der kleineren, aber durchs ganze Jahr stark besuchten Programmkinos. Die großen Ketten und Multimedia-Hallen konnten da nur vor Neid erblassen. Nicht nur einmal ist es passiert, und die größeren Säle waren gerade mal zu einem Zehntel gefüllt, sodass sich durch das Abspielen des Films vielleicht gerade mal die Stromkosten sichern ließen. Die Kleinen aber, die hatten den Vorteil, denn es war das zweite Jahr des Nonstop-Kinoabos, einer genialen Idee, um Filmnerds wie mich und solche, die noch nicht zugeben wollten, welche zu sein, von den Fernsehern weg in ihre Lieblingskinos zitierten. Wird Cineplexx beizeiten umdenken?

Das Schönste und Abenteuerlichste im Kino ist es, überrascht zu werden. In meiner letzten Review zu Better Man, der es zuletzt noch in die Top 5 geschafft hat, nahm ich diesen Faktor ebenfalls zum Thema: Den erfrischenden Mut zum neuen, anderen Blick, die Lust am Experimentieren und dem Auseinanderbrechen festgefahrener Narrative und Gestaltungsnormen, die meist nur noch für Langeweile sorgen. Und nicht zuletzt die Bereitschaft und den Willen, dem Publikum mehr zuzutrauen. Mehr Diskurs, mehr Philosophie, das stärkere Durchdringen hin bis zur Essenz. Und das Mixen verschiedener Genres. Nicht zuletzt: Den Unwillen, dem Zuschauer das zu geben, was es will. Nein, dieses gefällige Inszenieren hat sich totgelaufen. Und auch wenn es so klingt, als wäre der Mut zum Unterwandern der Erwartungen der Killer für die Quote – diese Avantgarde, dieser neue Trend, belebt das Kino und holt es aus dem vor sich hin köchelnden Einheitsbrei.

Nicht nur Better Man, auch Leave the World Behind, Evil Does Not Exist, Omen, LOLA, Longlegs und nicht zuletzt Joker: Folie à Deux: Sie alle haben mich überrascht und haben meine Lust am Kino erfrischt. Rückblickend auf 2024 weiß ich wieder, warum ich diese Kunstform so liebe. Weil sie immer noch das Zeug hat, Neues zu zeigen.

Ganz groß dabei war diesmal das Filmland Österreich: Drei Werke sind unter den Top 20 – dank Adrian Goiginger mit dem Wiener Seelenstriptease Rickerl – Musik is höchstens a Hobby, Veronika Franz und Severin Fiala mit dem Geschichtsdrama Des Teufels Bad und Anja Salomonowitz mit der eindringlichen Künstlerbiografie Mit einem Tiger schlafen. Drei Werke, die niemals an der Oberfläche verharren, sondern sich tief eingraben in die Materie, in die Psyche der Figuren, in einen Gesamtzustand, der versucht, das Leben zu begreifen. Kurdwin Ayubs Mond, ebenfalls ein Highlight, lässt sich auf Platz 29 finden.

Auch die Filmfestivals Slash und Viennale bestachen dieses Jahr durch eine Fülle an unterschiedlichen Sichtweisen und wild fabulierenden Werken mit Mut zur Innovation. Ob Feinfühlige Vampirin, Kurioses in Universal Language im tief verschneiten Kanada oder die Anti-Pretty Woman namens Anora.

Ganz oben bleibt aber doch ein Blockbuster, ein teurer Brocken von einem Film, nämlich großes akkurates Kino in Reinkultur und eine Offenbarung im Science-Fiction-Genre: Dune: Part Two von Denis Villeneuve sprengt so vieles, macht so vieles richtig. Und bietet jenen WOW-Effekt, wofür es große Säle braucht. Apropos Klotzen statt Kleckern: Marvel und DC gewinnen wieder an Fahrt. Und auch Cameron wird das Ende des kommenden Jahres wieder nach Pandora entführen.

Kleine Prognose gefällig? 2025 könnte wieder ein Jahr der Blockbuster und teuren Eventfilme werden. Was aber nicht bedeuten soll, dass die großen Studios mit den unzähligen Verantwortlichen für ein Projekt nicht auf Innovation und neue Blickwinkel setzen könnten, anstatt sich nur der Marktforschung zu unterwerfen. Wäre beides zu kombinieren zu viel verlangt? Manche Filme der letzten Jahre haben bewiesen, dass es geht. Bleiben wir also zuversichtlich. Gründe dafür gibt’s viele.

Was folgt, ist nun mein Ranking der aus meiner Sicht 30 besten Werke. Viel Vergnügen beim Checken und Vergleichen mit den eigenen Top-Lists. Auf ein spannendes und unberechenbares Kinojahr 2025.

PLATZ 1: DUNE: PART TWO (2024)

Was soll man zu so einem FIlm noch sagen? Es bleibt einem die Spucke weg. Dramatik, Bilder, Sound. So großes Kino gibt es selten. Im Science-Fiction-Genre legt dieses Meisterwerk die Parameter neu. 9,5/10 Punkte.

Zur Review


PLATZ 2: RICKERL – MUSIK IS HÖCHSTENS A HOBBY (2023)

Ein Film, der tief in die Wiener Seele eintaucht. Verkörpert vom derzeit wohl besten Wiener Singer und Songwriter Voodoo Jürgens. Adrian Goiginger im Regiestuhl (Die Beste aller Welten) weiß genau, wie er die Subkultur einer Stadt skizzieren muss. Von mir gabs überzeugte 9/10 Punkte.

Zur Review


PLATZ 3: ANORA (2024)

Kann man Pretty Woman härter in den Hintern treten? Nein, kann man nicht. Mikey Madison als eine um ihr Lebensglück kämpfende Prostituierte raubt einem den Atem in einem mitreissenden tragikomischen Kraftakt an Film. Das ist pure Energie. 8,5/10 Punkte.

Zur Review


PLATZ 4: DES TEUFELS BAD (2024)

Der Austrofilm in Hochform: Veronika Franz und Severin Fiala schaffen mit dieser ungemein wahrhaftigen Rekonstruktion vergangener Seelenwelten ein lange nachhallendes, intensives Geschichtserlebnis. Grandios. 8,5/10 Punkte.

Zur Review


PLATZ 5: BETTER MAN – DIE ROBBIE WILLIAMS STORY (2024)

Was für eine Show! Wie sich Robbie Williams zum Affen macht, ist ganz großes, mitreißendes Überraschungskino voller kantigem Charme, bitterer Ehrlichkeit und erzählerischer Raffinesse. 8,5/10 Punkte.

Zur Review


PLATZ 6: UNIVERSAL LANGUAGE (2024)

Für Filme wie diese geht man ins Kino: Das verblüffende Kaleidoskop an surrealen Momentaufnahmen verzaubert, belustigt und befremdet wie ein schräger Traum, von dem man nach dem Aufwachen erzählen will. 8,5/10 Punkte.

Zur Review


PLATZ 7: CIVIL WAR (2024)

Alex Garlands Lokalaugenschein auf einen weltbewegenden Umbruch ist weniger Politthriller als hautnahe Zukunftsvision – so eindringlich inszeniert, als sähe man sie in den Nachrichten. 8,5/10 Punkte.

Zur Review


PLATZ 8: LAROY, TEXAS (2023)

Sarkastisch, lakonisch und voll bitterer Melancholie: Shane Atkinson legt es mit diesem psychologisch durchdachten Film Noir darauf an, mindestens genauso genial zu sein wie die Coen-Brüder zu ihren besten Zeiten. 8,5/10 Punkte.

Zur Review


PLATZ 9: LEAVE THE WORLD BEHIND (2023)

Dumm sterben wäre der Worst Case: Wenn Julia Roberts und Filmfamilie völlig ahnungslos einer Zeitenwende entgegenharren, dann ist das Endzeitmystery vom Feinsten. 8,5/10 Punkte.

Zur Review


PLATZ 10: ALLES STEHT KOPF 2 (2024)

Pixar hat’s wieder drauf! Wenn es ums Erwachsenwerden geht, kennen die Ideen kein Halten mehr – Teil 2 des Gefühlschaos übertrumpft sogar noch den ersten Streich. 8,5/10 Punkte.

Zur Review


PLATZ 11: EVIL DOES NOT EXIST (2023)

Zwischen Harmonie und Dissonanz: Der Japaner Ryūzuke Hamaguchi geht unorthodoxe Wege, um die Welt im Streben nach Balance neu zu interpretieren. Ein inspirierendes Werk, das lange nachhallt. Und wohl der stärkste Nachdenkfilm des Jahres. 8,5/10 Punkte.

Zur Review


PLATZ 12: KINDS OF KINDNESS (2024)

Ohne Schnörkel und märchenhaften Pomp: Yorgos Lanthimos‘ absurdes Triptychon der Abhängigkeiten ist so dermaßen akkurat auf den Punkt formuliert, dass sich nicht sagen lässt, welche der Geschichten wohl die beste ist. Genial sind sie alle drei. 8/10 Punkte.

Zur Review


PLATZ 13: MIT EINEM TIGER SCHLAFEN (2024)

Ein ganzes Leben Einsamkeit: Mit dieser intensiven Hommage an eine unverstandene Künstlerin setzt Anja Salomonowitz neue Impulse in Sachen Biopic. 8/10 Punkte.

Zur Review


PLATZ 14: OMEN (2023)

Afrika, wie es ist – und nicht, wie wir es gerne sehen wollen: Dieser irritierend irrlichternde Trip in eine andere Raumzeit betört, befremdet und begeistert. Das ist Kino, um den Horizont zu erweitern. 8/10 Punkte.

Zur Review


PLATZ 15: KLEINE SCHMUTZIGE BRIEFE (2023)

Die Post bringt allen was: Mit dieser brillant besetzten, reichlich skurrilen True Story über einen Shitstorm per Briefzustellung gelingt Thea Sharrock Brit-Kino at its best. 8/10 Punkte.

Zur Review


PLATZ 16: FEINFÜHLIGE VAMPIRIN SUCHT LEBENSMÜDES OPFER (2023)

Als hätte Jim Jarmusch nochmal den Mythos der verfluchten Blutsauger bedient, war diese augenzwinkernd-lakonische Coming of Age-Romanze das Highlight des Slash Filmfestivals. 8/10 Punkte.

Zur Review


PLATZ 17: MORGEN IST AUCH NOCH EIN TAG (2023)

Komplex, hochpolitisch und kraftvoll: Das italienische Kino feiert die Wiedergeburt des Neorealismus mit hartnäckiger Zuversicht auf bessere Zeiten. 8/10 Punkte.

Zur Review


PLATZ 18: EAT THE NIGHT (2024)

Ready Player One fürs Arthouse-Kino: Komplexer und vielschichtiger Film Noir, der die Parallelwelt des Online-Gaming als existenzialistische Meta-Ebene nutzt. 8/10 Punkte.

Zur Review


PLATZ 19: AMSEL IM BROMBEERSTRAUCH (2023)

Der späte Frühling einer Unangepassten bringt die Grundpfeiler alteingesessener Frauenrollen ins Wanken: Georgisches Kino at it’s best! 8/10 Punkte.

Zur Review


PLATZ 20: PERFECT DAYS (2023)

Wim Wenders betrachtet mit genauso viel Ruhe wie Neugier den verrufenen Alltag als die Summe so mancher kleiner, komplementärer Ereignisse. Wohltuend! 8/10 Punkte.

Zur Review


Auf den Rängen 21 bis 30 finden sich – mit der Bewertung 8 bzw. 7,5/10 ab Platz 24:


22) Der Herr der Ringe: Die Schlacht der Rohirrim

22) All of Us Strangers

23) King’s Land

24) Joker: Folie á Deux

25) LOLA

26) Fremont

27) Longlegs

28) Queer

29) Mond

30) Konklave

Best of 2024

Anora (2024)

DEN PRINZEN UM JEDEN PREIS

8,5/10


anora© 2024 Universal Pictures / Drew Daniels


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE / DREHBUCH: SEAN BAKER

CAST: MIKEY MADISON, MARK EYDELSHTEYN, YURA BORISOV, KARREN KARAGULIAN, VACHE TOVMASYAN, IVY WOLK, DARYA EKAMASOVA, LINDSEY NORMINGTON U. A.

LÄNGE: 2 STD 19 MIN


Wie angelt man sich einen Millionär? Da gibt es unterschiedliche Wege zur praktikablen Glückseligkeit. In den Fünfzigern setzten Marylin Monroe und Lauren Bacall ihre äußerlichen Reize dafür ein, an einen reichen Ehemann zu kommen, um sich darauffolgend von diesem aushalten zu lassen. Da war noch üblich, dass der Mann die Existenzen der Dame sichert – heute längst überholt und anmaßend. Anfang der Neunziger dann die Romanze schlechthin, vorhaltend für die nächste Dekade: Pretty Woman, eine Art My Fair Lady für die Großstadtgeneration, die wohl keine Berührungsängste mehr mit dem ältesten Gewerbe der Welt hat und sich nicht mehr angewidert wegdreht, wenn reizvoll gekleidete Damen notgeilen Herren stundenweise ihr Geld entlocken. Julia Roberts beerbte Audrey Hepburn und angelte sich nicht Rex Harrison, sondern den damals schon graumelierten Richard Gere, auch er noch chauvinistischer Gentleman der alten Schule, der glaubt, Frauen erst zur Gesellschaftsfähigkeit erziehen zu müssen.

Und dennoch: Das Publikum hat den Schmachtfetzen mit Rhythmen von Roxette geliebt. Tränen in den Augen, weiche Herzen, Träume davon, so ein Glück mal selbst zu erfahren. Dreißig und ein paar zerquetschte Jahre später – Roberts und Gere sind immer noch im Business, die eine mehr, der andere weniger – sind die Parameter zwar ähnliche, aber doch auffallend andere. In Sean Bakers mit der Goldenen Palme prämierten, fast schon nihilistischen Tragikomödie Anora verfällt namentliche Stripperin, die eigentlich nur Ani genannt werden will, den jugendlichen Reizen eines aufgeweckten, Timothée Chalamet nicht unähnlichen Oligarchensohnes. Die Russen sind also im Spiel, die unbesonnene Jugend stellt alles auf den Kopf, die Sehnsucht nach Liebe und Wohlstand erfüllt sich in einem bequemen Kapitalismus, der mit ausreichend Sex den Himmel auf Erden beschert. Aus dem Rotlichtmilieu in eine niemals enden wollende Party- und Vergnügungswelt. Da war Richard Gere schon einer, der, die Hörner längst abgestoßen in einer gnadenlosen Business-Welt, genau wusste, was er einer wie Julia Roberts bieten konnte und was nicht. Erfahrenheit nennt man so etwas. In Anora haben die beiden Liebenden nichts davon. Und wäre Wanja vielleicht nicht der Filius aus reichem Hause, der, wie Gere eben, sein Escort-Girl gleich wochenweise bucht, sondern einer, der erahnen hätte können, was Verantwortung eigentlich bedeutet, wäre Anora vielleicht in genauso einem kitschigen Filmmärchen gelandet, wie wir es bereits kennen und lieben.

Sean Baker allerdings findet diese zuckersüßen Zustände grauenerregend. Sein Publikum geht ihm aber insofern auf den Leim, da er es glauben lässt, wie wären in einem Kino der Happy Ends, das sich der gerechten Ordnung von Liebenden unterwirft und sie gewinnen lässt. Romeo und Julia haben längst gezeigt, dass das nicht sein muss. Doch sowohl zum Glück als auch zur Tragödie gehören immer zwei, die dieselben Sehnsüchte leben. Anora erteilt den Stereotypen dabei die Rundum-Faustwatsche mit KO-Garantie, während Mikey Madison sich dabei gebärdet wie eine Furie, die um ihr Glück, ihr Leben und ihre Achtung ringt, mit Fingernägeln, Fußtritten und dem schrillen Schrei einer Sirene. Für die Qualität ihrer Performance gibt die Schauspielerin alles, es ist eine Tour de Force, der sie sich stellt, soar noch die letzten Meter. In diesen Sog des wahrhaften Schauspiels – und ja, ich wage die Prognose, Madison könnte nächstes Jahr bei den Oscars ganz groß mitmischen – geraten auch allerlei Nebenrollen. Nicht nur Mark Eydelshteyn, der den party- und sexhungrigen Wanja verkörpert, sondern auch jene, die die Entourage des russischen Oligarchen antanzen lassen. Sean Baker gerät dabei in ein virtuoses, dramaturgisches Crescendo und entfesselt das dichte Spektakel eines emotional aufgeladenen, verzweifelten Konflikts. Was dieser bereits in The Florida Project und zuletzt im satirischen Red Rocket begonnen hat, nämlich zu zeigen, wie reale soziale Konflikte ihre eigene Dynamik erzeugen, führt er nun an einen Höhepunkt, der in Baker ein enormes Maß an Menschenkenntnis und ein Gefühl für menschliche Desaster voraussetzt. Iñárritu, Tarantino, Scorsese – auch sie beherrschen das Einmaleins der Konfliktdarstellung. Baker drängt sich mit dem großen Beispiel eines virtuosen Kinoerlebnisses in den Vordergrund, ohne dass diese als effektive Tragikomödie genügt.

Die schnöde Chronik des Missbrauchs von Liebe, Vertrauen und Erwartung findet unendlich zarte, verletzliche Momente zwischen Sex, drogengesättigtem Spaß und der unendlich anmaßenden Arroganz der Kapitalisten. Es ist ein Kampf gegen die Formeln des romantischen Kinos. Das Erwachen einer desillusionierten Pretty Woman aus einem einlullenden Albtraum ist nicht nur bitter, sondern vor allem bittersüß. Anora ist somit ein hinreißendes, ambivalentes Erlebnis. Und ja, vielleicht ist es einer der besten Filme des Jahres.

Anora (2024)