Die Gewerkschafterin (2022)

AUS MANGEL AN BEWEISEN

4,5/10


gewerkschafterin© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, DEUTSCHLAND 2022

REGIE: JEAN-PAUL SALOMÉ

DREHBUCH: FADETTE DROUARD, JEAN-PAUL SALOMÉ

CAST: ISABELLE HUPPERT, GRÉGORY GADEBOIS, YVAN ATTAL, FRANÇOIS-XAVIER DEMAISON, PIERRE DELADONCHAMPS, ALEXANDRA MARIA LARA, GILLES COHEN, MARINA FOÏS U. A.

LÄNGE: 2 STD 2 MIN


Arbeitnehmer auf der ganzen Welt, vereinigt euch! Im Schulterschluss antretend, könnten jene, die schon längst nicht mehr glauben, sich Arbeitgebern als bezahlte Sklaven unterwerfen zu müssen, als wären ihre Verdienste lediglich Almosen, die aus der ach so gütigen Chefetage herabregnen, ganze Konzerne zu Fall bringen. Denn was sind diese schon, bleibt das Werkel nicht am Laufen? Gar nichts. Wo nicht gearbeitet wird, wird auch nichts produziert. Wer nichts produziert, schaut bald durch die Finger. Um zumindest pro Betrieb die Interessen und die Würde der Arbeitnehmer zu gewährleisten, gibt es Gewerkschaften. Und dort wiederum gewissenhafte Vorreiterinnen und Vorreiter, die die Fahne hissen und als Vertretung der anschaffenden Entourage recht unverblümt das Wilde runterräumen.

Die in Frankreich lebende Maureen Kearney, dargestellt von einer erblondeten und irritierend jugendlichen Isabelle Huppert, ist so jemand. Sie zeigt keinerlei Furcht vor der Obrigkeit, crasht schon mal gerne manches Meeting und steckt ihre Nase dort hinein, wo diese eigentlich nichts zu suchen hat. So zumindest sieht das der Atomenergie-Konzern Areva, der im Geheimen Absprachen mit den Chinesen hält, die drauf und dran sind, zumindest zur Hälfte erstmal Frankreichs und dann Europas Nukleartechnik zu kapern. Was das für die Belegschaft bedeutet? Gar nichts Gutes. Um die 50.000 Jobs sind in Gefahr, und so will Maureen den skandalösen Deal an die große Glocke hängen. Was denen ganz oben überhaupt nicht gefällt. Und diese dann zu mafiösen Mitteln greifen, um die Gewerkschafterin einzuschüchtern und zu diskreditieren.

Wie machtlos man einem Giganten wie Areva gegenüberstehen kann, lässt sich anhand dieses im Grunde erschütternden Tatsachendramas eigentlich nur erahnen. Ähnliches hat schon Whistleblower Russel Crowe in Michael Manns The Insider, in dem das Tschick-Imperium zurückschlägt und unrechtmäßige Faxen macht, an eigenem Leib erfahren müssen. In Jean-Pierre Salomés Streifen ist man geradezu versucht, wieder etwas mehr an Weltverschwörungen zu glauben. Doch trotzdem Die Gewerkschafterin ordentlich Stoff bereithält, der mehrere Ebenen abdeckt und tief in die Privatsphäre der von Isabelle Huppert dargestellten Kämpfernatur eindringt – so richtig zu überzeugen oder gar zu fesseln weiß der Film nicht. Das hat unterschiedliche Gründe.

Zum einen Isabelle Huppert. Ihr schauspielerischer Pragmatismus oder anders formuliert: ihr sich selbst genügendes Statusbewusstsein als Grande Dame ist kaum zu überbieten. Was zur Folge hat, dass sie zwar an ihrem Engagement teilnimmt, doch zeitweise so teilnahmslos agiert, als gäbe sie Schauspielunterricht. Weder zeigt sie den Umständen entsprechende emotionale Regungen, noch packt sie der Eifer in der Darstellung einer hochkomplexen, schwierig zu interpretierenden Figur, die noch dazu ein reales Vorbild hat. Eine gewisse Kühle geht von ihr aus, eine Unnahbarkeit, die man so nicht erwartet hätte, und an der sich auch Filmgatte Grégory Gadebois die Zähne ausbeißt, so wie überhaupt alle in diesem Film, die nicht an die Rekonstruktion der Tatsachen, die Hupperts Filmfigur zu Protokoll gibt, glauben möchten. Dabei tut sich die zweite Ursache auf, die die ganze Zeit über deutlich auf der Hand liegt und die nur aufgrund wenig engagierter Ermittlungen als Beweisargument durch den Rost der Plausibilität fallen konnte.

Zwischen Jodie Fosters Darstellung in Angeklagt – wobei die Klaviatur der Regungen, die Foster damals von sich gab, bei Huppert kaum zu finden ist – und Paul Verhoevens ambivalentem Rape-Thriller Elle schleppt sich ein recht zähes Kriminaldrama durch einen ungeordneten, leicht devastierten Wulst an schlampig formulierten Ermittlungsakten und unschlüssiger Verdächtigungen. Wie wenig Jean-Paul Salomé, der schon in Eine Frau mit berauschenden Talenten Huppert nur in mäßiger Brillanz auf distinguierte Breaking Bad-Spuren schickte, den ganzen brandheissen Stoff in den Griff bekommt, merkt man an etlichen dramaturgischen Hängern, die in scheinbar redundanten Dialogen die Geduld strapazieren. Ob nun Wirtschaftsdrama, Home Invasion-Thriller oder Justizfilm: Die Gewerkschafterin hat von allem etwas, doch nichts davon ist richtig überzeugend.

Die Gewerkschafterin (2022)

How To Have Sex (2023)

HANGOVER MIT MÄDCHEN

7,5/10


howtohavesex© 2023 Polyfilm


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, GRIECHENLAND, BELGIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: MOLLY MANNING WALKER

CAST: MIA MCKENNA-BRUCE, LARA PEAKE, ENVA LEWIS, SHAUN THOMAS, SAMUEL BOTTOMLEY, LAURA AMBLER, EILIDH LOAN, DAISY JELLEY U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Diese Nacht wird unsere Nacht. Diese Nacht wird nicht wie jede andere, sie wird phänomenal. Und generell – der Urlaub in Griechenland soll für drei junge Frauen im Teenageralter, die, so viel wissen wir, noch nicht volljährig sind, endlich das bringen, was sie zu erwachsenen Frauen machen wird: Das erste Mal Sex. Dieses energische Streben nach einem männlichen (oder weiblichen) Sparring-Partner für den Geschlechtsverkehr klingt fast so, als wäre How To Have Sex die XX-Version von Eis am Stiel. Doch was in den Sexklamotten gerne und zur Gänze ausgeklammert wird, erfährt in diesem höchst sensiblen und über ganzer Linie auch paraverbal funktionierendem Coming of Age-Drama seine kritische, aber faire Bühne. Weder lässt sich das authentische Gesellschaftsportrait auf Schuldzuweisungen ein, noch will es so junge Menschen wie Tara eines Besseren belehren – dass nämlich die rosarote, verheißungsvolle Vorstellung vom Wunder der Geschlechtsakts, der logischerweise mit Respekt, Zuneigung und Achtsamkeit einhergehen muss sollte, dem nackten Realismus, also der praktischen Umsetzung zur erstbesten Gelegenheit, nichts entgegensetzen kann. Was Tara von diesem Party-Urlaub wohl mit nachhause nehmen wird, ist die ernüchternde Erkenntnis, dass die Teenager-Blase, diese Barbie world, wenn man so will, irgendwann mitsamt ihres schillernden Farbspektrums zerplatzen wird müssen. Wenn nicht jetzt, dann irgendwann später. Dem Imperativ des Partyfeierns folgt der Hangover nach dem erschöpfenden Nichts einer Scheinwelt.

Tara ist nicht allein hier auf Kreta, ihre BFFs Skye und Em sind ebenfalls mit von der Partie, und alle drei wollen nur das eine. Sollte, rein praktisch gesehen, nicht so schwierig werden in dieser anarchischen Welt aus Alkohol, Dancefloor und einer Menge notgeiler Jungs, die junge Frauen als Gelegenheitsbeute gerne mal entjungfern. Minuten später ist der Akt bereits vergessen, und was bleibt, ist das Gefühl, missbraucht worden zu sein. So wird es Tara schließlich ergehen, die nach einer turbulenten Nacht, in der sich alle aus den Augen verlieren, gar nicht erst heimkommt, sondern verstört, schockiert und desillusioniert in einem menschenleeren, mit Plastikmüll übersäten Halligalli-Küstenort a lá Ballermann, umherirrt. Die britische Regisseurin Molly Manning Walker setzt in ihrem keinesfalls reißerischen, sondern behutsamen Psychodrama eine angesichts ihrer Performance wohl vielversprechendsten Nachwuchsdarstellerinnen in Szene, die man seit langem gesehen hat. Mia McKenna-Bruce erinnert an Florence Pugh und agiert auch mindestens so gut wie ihre bereits berühmte Kollegin, die mit Lady Macbeth eine ähnliche starke Frauenfigur darstellen konnte. Bei McKenna-Bruce liegt die Kraft aber im Mut zur Verletzbarkeit. Sie ist das Zentrum eines Films, der eigentlich ganz ihr gehört – das lässt sich nach der Halbzeit deutlich erkennen, wenn die Kamera minutenlang auf dem Gesicht der jungen Britin verweilt und in ihrem Ausdruck liest wie in einer Klageschrift, die anprangert, dass diese ganze Show namens Partyleben keinen Mehrwert hat und nur nimmt statt gibt. Sie erschöpft, sie ermüdet, immer hohler und leerer fühlt es sich an, wenn die Nacht zum Tag wird und keiner mehr so richtig kann, aber muss. Dass Gruppenzwang und Gefallensucht das eigene Ich schlecht behandeln, dass Erwartungen unterwandert wurden und Prinzessinnen-Sex etwas ist, dass man erwarten muss. Keiner der Protagonistinnen und Protagonisten weiß es besser, jede und jeder ist in seiner Unzulänglichkeit zwar nicht entschuldbar, aber nachzuvollziehen. Der Druck, so sein zu müssen, wie die anderen es wollen, findet selten ein Ventil – Taras verletzte Seele muss damit klarkommen, mit ihren Erfahrungen allein zu bleiben.

Gegen alle Erwartungen ist How to Have Sex kein Exzesskino, sondern hält die Würde der Partyjugend dort zusammen, wo sie auseinanderbrechen könnte. Auffallend viel Ruhe setzt Manning Walker zwischen den Nachtlärm, hört und sieht hin, wo andere in ihrer sozialen Inkompetenz erblinden. Was hätte Ulrich Seidl wohl aus diesem Stoff gemacht? Man hätte den Film als vierten Teil seiner Paradies-Reihe sehen können, doch harter Realismus und zynische Gesellschaftskritik hätten daraus einen Sozialporno werden lassen, der nichts zu berichten gewusst hätte außer, dass die verkommene Jugend längst nicht mehr weiß, was sich gehört. Manning Walker geht die Sache anders an. Ihr Film ist wie Aftersun, nur statt des Farewells von Vater Paul Mescal darf sich Tara von einer Traumwelt verabschieden, die nur in den sozialen Medien existiert.

How To Have Sex (2023)

The Dark (2018)

EIN GEFÜHL, ALS WÄRE MAN TOT

5/10


thedark© 2018 Luna Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2018

REGIE: JUSTIN P. LANGE, KLEMENS HUFNAGL

DREHBUCH: JUSTIN P. LANGE

CAST: NADIA ALEXANDER, TOBY NICHOLS, KARL MARKOVICS, MARGARETHE TIESEL, SCOTT BEAUDIN, CHRIS FARQUHAR, SARAH MURPHY-DYSON U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Zombies sind längst keine Kreaturen mehr, die aufgrund des Willens unbekannter Mächte aus den Gräbern steigen, ihre halb verwesten Arme durch den Erdboden recken und dann, taumelnd und stolpernd, dem Geruch frischer, menschlicher Gehirne folgen. Untote sind mittlerweile meist bemitleidenswerte Opfer eines Virus oder anderer Organismen, ganz so, wie es The Last of Us mit einem Pilzgericht zuletzt auf den Tisch gebracht hat. Es mag daher wieder begrüßenswert sein, wenn sich Storyteller an die Essenz des Zombie-Daseins rückbesinnen und jeden auch nur ansatzweise wissenschaftlichen Unterbau, so trivial er auch sein mag, beiseiteschaffen. Das macht das Ganze nämlich noch interessanter. George A. Romero wusste das. Sein Klassiker The Night of the Living Dead hütet sich tunlichst davor, irgendwelche Ursachen zu ergründen.

Warum also dieses Mädchen hier mehr tot als lebendig und wie ein Tier Besuchern eines Waldstückes auflauert, das sich Devils Den nennt, weiß niemand. Das Wesen bewohnt die Immobilie ihrer Mutter, welches mittlerweile auch schon so aussieht, als wäre Norman Bates schon jahrelang nicht mehr hier gewesen. Wie ein düsteres Hexenhaus, prädestiniert für dunklen Zauber, lädt es nicht gerade dazu ein, dort Zuflucht zu suchen. Einer tut es aber trotzdem: der Kidnapper und Mörder Josef, gespielt von Karl Markovics. Da die Untote auf Menschenfleisch steht, dauert es nicht lange, und der Flüchtige existiert nicht mehr. Was er hinterlässt, ist mehr als sonderbar, und lässt sogar eine verfluchte Kreatur wie das Mädchen Mina schier pass erstaunt sein: Im Wagen des Kriminellen kauert ein blinder Junge im Kofferraum – sein Peiniger hat ihn geblendet, er gilt landesweit als vermisst. Die beiden verunstalteten jungen Leute tun sich zusammen, und das funktioniert vielleicht deswegen so gut, weil Alex gar nicht weiß, womit er es mit Mina zu tun hat. Wer rechnet schon damit, einem Zombie zu folgen. Bald sind beide auf der Flucht, und währenddessen unterläuft das Mädchen eine Metamorphose, die sich ebenso niemand erklären kann wie die Grundmechanismen dieses Films.

Finstere Wälder, finstere Orte, ein finsteres Mädchen mit entstelltem Gesicht, gierig nach Menschenfleisch. Ein Teenie ohne Augen, der sein Schicksal relativ gottgegeben hinnimmt, ohne den Verstand zu verlieren. Der von Justin P. Lange und Kameramann Clemens Hufnagl inszenierte Film schickt die Keller-Versionen von Hänsel & Gretel durch den Wald – wie sie wohl geworden wären, wenn die Hexe nebst eines stattlichen Hungers nach zarten Schenkeln noch über dunkle Magie verfügt hätte. Wäre diese nicht ins Feuer gestoßen worden und wären die beiden Kids auf andere Art entkommen, hätte die grantige Alte den beiden noch so einige Flüche an den Hals schicken können. Und genau da sind wir nun, in The Dark – einer Variation des Zombie-Films, die sich ganz gut mit Coming of Age versteht und ihren Schauplatz trotz österreichischen Ursprungs irritierend amerikanisch hält. In dieser Alternativwelt ist einiges Metaphysisches inhärent, und ja, man will und kann es ruhig glauben.

So stilsicher die Finsternis in diesem Thriller auch umgesetzt wurde, so wenig berührt das Schicksal der beiden Protagonisten. Vielleicht, weil The Dark versucht, zumindest in den Biografien der beiden deren Geschichten von Missbrauch und Gewalt zu ergründen, und das auf eine Weise, die der geheimnisvollen Inszenierung aufgrund einer so routinierten wie beiläufigen Darstellung entgegenläuft. Somit ist der Plot zu verhalten geraten, und lieber hätte ich in diesem Film gar nichts erklärt bekommen, sondern hätte mit den wenigen Fakten leben können, dass zwei dem Schicksal überlassene Ausgestoßene einfach nur irgendwie die Kurve kriegen wollen.

The Dark (2018)

Luanas Schwur (2021)

EINE FREIHEIT FÜR DIE ANDERE

8/10


luanasschwur© 2021 – Elsani & Neary Media GmbH / DOP: Jörg Widme


LAND / JAHR: ALBANIEN, DEUTSCHLAND 2021

REGIE: BUJAR ALIMANI

BUCH: KATJA KITTENDORF

CAST: RINA KRASNIQI, SHKURTE SYLEJMANI, GRESA PALLASKA, NIK XHELILAJ, ALBAN UKAJ, KASEM HOXHA, ASTRIT KABASHI U. A.

LÄNGE: 2 STD 1 MIN


Will man heutzutage noch authentisch reisen und unterwegs nicht alle Nase lang gefällige Touristenspots passieren, dann löhne sich ein Aufenthalt in Albanien. Ein Land, das erst 1990, nach Ende der kommunistischen Diktatur unter Enver Hoxha, seine Grenzen geöffnet hat. Vorher war alles anders – und deutlich schlechter. Wen wundert’s, Diktatur ist Unterjochung, Quälerei und Verbot auf ganzer Linie. Als atheistisches Regime mussten alle Kreuze, Ikonen und sonstige Devotionalien verschwinden. Kirchen wurden geschlossen und Geistliche ihrer Ämter enthoben. Doch auch ohne einen wie Hoxha wäre die Gesellschaft Albaniens, zumindest die weibliche, bedient genug geblieben. Aufgrund des sogenannten Kanun, eines Sammelsuriums an Rechtsvorstellungen und Regeln, das fein säuberlich auf das Patriarchat zugeschnitten und lange Zeit auch nur mündlich überliefert wurde. Für Frauen waren da keinerlei Freiheiten vorgesehen. Die Ehe von Töchtern wurde (und wird?) über den Köpfen derer entschieden, die es eigentlich anging. Männer trafen sich zum Rauchen und Schnapstrinken, besiegelten beim Verzehr von Schafsköpfen den Heiratsdeal und scherten sich einen Dreck, ob diese Art Fremdbestimmung Menschenleben in die Verzweiflung stürzten. Doch wo Tradition, da kein Hinterfragen. In diesem autoritären und völlig vorgestrigen, ja geradezu mittelalterlichen Dunstkreis wächst das Mädchen Luana auf. Die zeigt sich in den frühen 60erjahren wissbegierig und bereits am anderen Geschlecht interessiert. Dabei macht ihr Agim schöne Augen – nur Agim stammt aus einer Familie, die mit jener von Luana nichts am Hut hat. Eine Heirat mit Agim ist undenkbar. Also verschachert ihr Vater seine Älteste an den Sohnemann des guten Freundes Luk Fiku – der ist aber ein arroganter Windhund und im Grunde ein Chauvinist unter der Sonne, dass es ärger nicht geht. Anfangs scheint sich Luana ihrem Schicksal zu fügen – denn Flamur ist zumindest ein Feschak mit Dreitagebart und kokettem Grinsen. Innen drin aber schauts finster aus, und so kommt es, dass Luanas Vater diesen erwischt, als er Anstalten macht, seine zukünftige Braut zu vergewaltigen. Das geht natürlich gar nicht, die Ehe ist somit annulliert, doch das wutentbrannte Ekel von Mann schießt den Brautvater über den Haufen. Diese Tragödie ändert natürlich alles. Und Luana muss tun, was sie tun muss, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Auch für sich, aber auch für ihre Familie.

Schon mal einen Film aus Albanien gesehen? Makedonien ja, aber Albanien? Mit den vertrauten Stilmitteln eines Coming of Age-Melodrams lässt es sich ohne Schwierigkeiten in die nicht allzu ferne Vergangenheit eines isolierten Landes eintauchen, in welchem Menschen wie Luana trotz antiquierter Erziehungsparameter genau die gleichen Bedürfnisse haben wie überall sonst auf der Welt. Doch wo die Macht des Mannes dominiert, pervertiert die natürliche Ordnung und gerät der Humanismus unter die Räder. Anfangs noch scheint es, als würde Luanas Schwur den klassischen Motiven eines Folklore-Dramas folgen – mit Landschaftsbildern, rustikalen Bauernhöfen und strengem familiären Regiment zwischen Feldern und Gebirge. Gemeinsam mit Skriptautorin Katja Kittendorf (u. a. Gott, du kannst ein Arsch sein) gelingt dem albanischen Filmemacher Bujar Alimani aber weit mehr als das – und wächst zur Halbzeit des Films über sich selbst und über die Erwartungen seines Publikums hinaus. Was dann passiert, wäre nicht unbedingt zu erwarten gewesen – rückblickend aber die einzig logische Konsequenz. Aller Freiheiten beraubt, würde Luana den traditionellen Weg des Kanun gehen, gäbe es nicht die Möglichkeit einer Revolte durch die Hintertür – ohne dabei das Patriarchat zu kompromittieren. Alle Freiheiten kann es nicht geben – so opfert sie schließlich eine, um die andere zu erhalten und über sich selbst zu bestimmen. Luanas Schwur ist ein bitterer, teils düsterer aber stets leidenschaftlicher Film über Geschlechterrollen und radikale Kompromisse im Licht unreflektierter Traditionen. Rina Krasniqi, die sehr an eine junge Glenn Close erinnert, vollbringt in ihrem Wandel von der ausgelieferten Frau zum resoluten Anführer eine erstaunliche Performance. Und es bleibt ihr angesichts der erzählerischen Dichte und der Komplexität des Mit- und Gegeneinanders einer versteinerten Gesellschaft auch nichts anderes übrig, als keinerlei Schwäche, weder im Spiel noch in ihrer Figur, zu zeigen. Niemals und nirgendwo.

Luanas Schwur (2021)

Fresh

ROTKÄPPCHEN UND DAS WOLFSRUDEL

8/10


fresh© 2022 20th Century Studios All Rights Reserved


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: MIMI CAVE

SCRIPT: LAURYN KAHN

CAST: DAISY EDGAR-JONES, SEBASTIAN STAN, JONICA T. GIBBS, CHARLOTTE LE BON, ANDREA BANG, DAYO OKENIYI U. A. 

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Männer wollen doch immer nur das eine! Vermutlich schon, denn wären die Triebe nicht, gäbe es keine Beziehungen. Oder nur wenige, rein platonische. Die Lust am anderen (oder gleichen) Geschlecht ist stets der Anfang von viel mehr. Oder bleibt in den niederen Gefilden von Sex und körperlicher Liebe verhaftet, weil so manche Männer einfach nur genau das wollen und Frauen auf ihre äußerlichen Reize reduzieren. Gegen die aufblasbare Gummipuppe aus dem Beate Uhse-Versandkatalog scheinen „echte“ Frauen aber stets die Nase vorn zu haben, nichts kann die natürliche Physis ersetzen. Um das zu bekommen, was Mann will, gibt’s Dating-Apps wie Tinder. Passen die Matches, ist noch längst nicht gesagt, ob‘s Auge in Auge dann auch noch hinhaut. Meist nicht, meist ist es nach einem One-Night-Stand nicht nur beziehungstechnisch vorbei, sondern auch die Würde dahin. Doch Mann hat bekommen, was er wollte und zieht weiter. Wie ein Jäger auf der Pirsch nach Freiwild. Oder – wie wir seit EAV’s Märchenprinzen wissen: Zu viele Jäger sind der Hasen Tod.

Dazwischen jedoch, und um einiges weiter abseits, bleibt das Patriarchat nicht unkreativ, um mehr zu bekommen als möglich ist. Diese Erfahrung muss die junge Noa alsbald machen, als sie, entnervt und enttäuscht nach so einigen Blind Dates, im Supermarkt Bekanntschaft mit dem äußerst attraktiven Steve macht. Wen haben wir da vor uns: „Winter Soldier“ Sebastian Stan, sehr schick, sehr distinguiert und charmant. Ein Mann, den Frau sich nur erträumen kann, weil es diesen in natura einfach nicht gibt. Kurz danach folgt das Grand Opening einer leidenschaftlichen Liaison, wie wir sie schon aus diversen anderen RomComs oder erotischen Krimis kennen. Das dann alsbald ein unangenehmes Erwachen folgt, liegt auf der Hand. Der Punkt in dieser Sache ist nur: Welcher Art ist dieser Wermutstropfen auf die rosarote Glückseligkeit, der so bitter schmeckt wie ein roher Satanspilz?

Die Erkenntnis sickert wie der Schmerz beim Anstoßen der kleinen Zehe mit einiger Verzögerung sortenrein ins Hirn – und ist umso verstörender, je länger man darüber nachdenkt. Die Frau als Objekt der Begierde findet in Mimi Caves haarsträubender Groteske Fresh ihre destruktivste Bestimmung, der Horror macht sich in den Köpfen breit und in der sprachlosen Empörung, zu welchen niederträchtigen Marktlücken das starke Geschlecht sich hinzureißen gedenkt. Carey Mulligan aus Promising Young Woman, die mit der stumpfen Schwanzsteuerung von Männern Schlitten fährt, hätte selbst hier wohl einige Zeit gebraucht, um ihren vor Erstaunen geöffneten Mund zu schließen. Doch es ist, wie es hier ist, und bedurfte zumindest bei mir eines zweiten Anlaufs, nach so vielen Tabubrüchen dennoch dranzubleiben.

Fazit: Es lohnt sich. Denn das Ganze erzeugt einen Topspin, dem man sich ungern entziehen will. Fresh ist eine so abstoßende wie faszinierende, zutiefst makabre Satire auf Körperwahn und männliche Dominanz, Missbrauch und sexueller Versklavung. Themen, die in einem 70er Jahre Grindhouse-Slasher als billig-perverse Blutoper für Magenverstimmungen gesorgt hätten. Mimi Cave und Drehbuchautorin Lauryn Kahn sind dieser Phase aber erhaben. Ihr Film hat Stil und trotz all der Verrohung enormen Anstand. Bei wohl kaum einem anderen Film der letzten Zeit trifft die Bezeichnung fancy wohl am ehesten zu wie auf diesen: das Grauen ist schick gekleidet, die Ausstattung akkurat und so penibel wie in American Psycho. Das Intellektuelle bringt das aalglatte Böse erst hervor, dass in einer beunruhigenden Selbstverständlichkeit agiert. Sebastian Stan ist dafür wie geschaffen – er übertreibt nicht, und er gibt sich keinem charakterlichen Wandel hin wie in so manchen Thrillern, die dadurch enorm viel Plausibilität einbüßen. Das Juwel des Films ist aber die wirklich bezaubernde Daisy Edgar-Jones (Krieg der Welten), die hier ihr Spielfilmdebüt hinlegt und dabei – einer jungen Sissy Spacek ähnlich – in einer Mischung aus Furcht, Trotz und Esprit Mulligans Femme Fatale den Rang abläuft und die Herzen ihres gesamten Publikums gewinnen wird.

Mit ihrer Performance – und der innovativen, filmischen Erzählweise, die mit symbolhaften, kurios geschnittenen Bildcollagen die kluge Metaebene offenbart, schafft es Fresh, die Grenze des guten Geschmacks zu verschieben und mit genug spottender Coolness beängstigende männliche Vorlieben so zu konterkarieren, dass sie einem nichts mehr anhaben können.

Fresh

The Last Duel

DES MANNES EIGENTUM

7,5/10


thelastduel© 2021 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA, GROSSBRITANNIEN 2021

REGIE: RIDLEY SCOTT

DREHBUCH: BEN AFFLECK, MATT DAMON, NICOLE HOLOFCENER

CAST: MATT DAMON, ADAM DRIVER, JODIE COMER, BEN AFFLECK, HARRIET WALTER, SAM HAZELDINE, NATHANIEL PARKER, ALEX LAWTHER U. A.

LÄNGE: 2 STD 32 MIN


Was Ridley Scott wirklich gut kann, und das schon über mehrere Jahrzehnte hinweg: Weltgeschichte als großes Kino zu verpacken. Niemand sonst kann das so gut, niemand sonst hat ein so lässiges Händchen dafür, Dramatik und Schauwerte mit intuitivem Sinn für Balance zusammenzubringen. Ridley Scott, der ist ein Handwerker. Ein nimmermüder, eigenmotivierter Künstler, wie Rodin oder Picasso es waren. Kaum ist ein Projekt fertig, braucht es keine Schaffenspause, um zum nächsten Tonklumpen oder zur nächsten Leinwand zu greifen. Als wäre der Brite ein Meister im Schnitzen hölzerner Reliefs, ausgestattet mit Hammer, Meißel und sonstigem Schnitzwerkzeug, um die Gesichtszüge der sich windenden, historischen Gestalten grob zwar, aber mit viel Esprit, in die dritte Dimension zu holen. Auch The Last Duel ist so ein Relief, eines aus dem Mittelalter, bereits wurmstichig, abgewetzt, aber mit unvergleichlicher Patina. The Last Duel ist nicht die Feinarbeit eines akribischen Nerds wie zum Beispiel Wes Anderson. Dieses Drama aus dem 14. Jahrhundert ist unvergleichbar impulsiv und rustikal – und gerade deshalb so lebendig. Nicht zuletzt auch dank eines formidablen Cast, der sich aus bekannten, aber veränderten Gesichtern zusammenstellt, und die allesamt, eben weil sie auch privat längst miteinander vertraut sind, wunderbar wechselwirken. Großes Schauspielkino ist das, neben der ganzen im Zwielicht des Morgens gedrehten Geschichte aus knirschenden Harnischen, vom Rauch dunstigen Kemenaten und kleinlauten Burgfrauen im Mieder, die mit ihrem Klatsch und Tratsch Social Media bereits vorwegnehmen.

Durch diesen Stille-Post-Mechanismus kommt es auch zu einem historisch belegten, denkwürdigen Moment des späten französischen Mittelalters unter der Herrschaft Karl VI: zum sogenannten letzten Duell auf Leben und Tod, damit Gott darüber entscheiden kann, wer in seiner Wahrheit nun Recht behält und wer nicht. Es kämpfen Matt Damon als Junker Jean de Carrouges und Adam Driver als Jacques Le Gris. Zuerst auf dem Pferd, wie bei einem Tjost, dann mit Schwertern, Äxten, Messern und Fäusten. Scott hat für diese Szene alles gegeben. Das ist maskulines Mittelalter in seinem reinsten Naturalismus. Grund für diese Urteilsfindung: die Vergewaltigung von Carrouges Ehefrau Marguerite (bildschön und oscarverdächtig: Jodie Comer). Unter Freunden wäre diese unschöne Episode wohl im Stillen geregelt worden, unter Ausschluss des eigentlichen Opfers. Doch hier sind andere Räder am Werk – nämlich die der Eifersucht und des Neids. Im Laufe des Films wird klar, dass Le Gris stets der ist, der auf die Butterseite fällt, während Carrouges nichts bekommt. Nicht mal das Erbe seines Vaters. Ein gekränktes Ego unter dem Licht vergangener Tage. Dieses Ego will Genugtuung. Und wir erfahren – ähnlich dem Konzept des Kurosawa-Klassikers Rashomon – aus drei Blickwinkeln, was sich wirklich zugetragen hat. Zuerst aus der Sicht der beiden Männer, dann aus jener der Frau.

Und Ridley Scott nimmt sich Zeit, in die Tiefe zu gehen. Kürzt seine gewohnt routinierten Schlachtenszenen auf das Minimum, um den Figuren viel mehr Spielraum zu geben. Den nutzen sie. Und selbst Ben Affleck beweist Talent. The Last Duel gewährt überraschend viel Einblick ins oftmals romantisierte Tagesgeschäft von Rittern und Machthabern, die sich stets in Korrelation mit dem Volk befinden. Das Ritterdrama erzählt von Geldnot, dem Einsatz für Erfolg und damals tauglichen Werten. Ernüchternd dabei ist, dass #MeToo längst noch kein Thema war – für Marguerite vielleicht, jedoch für niemanden sonst. Frauen waren nicht mehr als eine Sache, das Eigentum des Mannes. Hätte Carrouges nicht eingewilligt, aus Neid und wütender Rivalität die Schuld zu tilgen, wäre das Unglück einer vergewaltigten Frau kein Thema gewesen. Eine traurige, finstere Zeit also. Genauso finster ist auch dieser Film, der versucht, zu verstehen, wie es ist, sich mit ertragenem Leid arrangieren zu müssen, um als Frau zu überleben.

The Last Duel

Freaks (1932)

DIE RELATIVITÄT DES MONSTRÖSEN

7,5/10


freaks_1932© 1932 MGM

LAND / JAHR: USA 1932

REGIE: TOD BROWNING

CAST: HARRY & DAISY EARLES, OLGA BACLANOVA, LEILA HYAMS, WALLACE FORD, HENRY VICTOR, DAISY & VIOLET HILTON, ROSE DIONE U. A. 

LÄNGE: 64 MINUTEN (VON URSPRÜNGLICH 90 MIN.)


Von Mitte des 19 Jahrhunderts bis tatsächlich noch in die späten Dreißigerjahre hinein hat es sie gegeben: Freakshows, die körperlich abnorme Menschen wie Tiere ausgestellt und dafür Geld kassiert hatten. Das Bewusstsein, dass menschliche Wesen, die vielleicht äußerlich anders sind, die gleichen Rechte hätten wie ganz „normale“ unserer Art, traf zur damaligen Zeit auf einen wenig ausgereiften, reflektierenden Verstand. Damals wussten viele noch nicht mal, wie man Kinder erzieht, was Humanismus überhaupt bedeuten soll und dass aus der Norm Gefallenes durchaus progressives Potenzial hat.

Zum Thema der Menschenwürde und der Akzeptanz des Andersartigen gab‘s bereits 1932 einen Film, der in seiner bewusst plakativen Aussage wirklich jeden seiner Zuseher erreichen konnte, und waren diese auch noch so schlicht in ihrem Gemüt. Denn der für damalige Zeiten kontroverse und vielerorts verbotene Film Freaks von Dracula-Mastermind Tod Browning zählt schlicht und ergreifend eins und eins zusammen, und zwar so, dass es ein jeder versteht. Menschenwürde, das ist etwas, worüber man nicht viel diskutieren muss. Um Mensch zu bleiben braucht es nicht zwingend Arme oder Beine, eine gewisse Größe oder ein klassisch-griechisches Antlitz. In Freaks hat es Tod Browning geschafft, ein ganzes Ensemble aus deformierten Schauspielern und Bühnen-Attraktionen um sich zu scharen, die womöglich genau das alles erlebt hatten, was in Freaks so abgeht. Diese Ambition, die erlernten Geschicklichkeiten halber Körper oder den normalen Alltag zwischen den Auftritten zu dokumentieren, verleiht dem Film etwas einzigartig Echtes und Nahbares. So wenig auf Distanz war man körperlich beeinträchtigten Menschen nur selten. Dabei passiert es ihnen niemals, von Browning pietätlos präsentiert oder als etwas zur Schau Gestelltes verstanden zu werden.

David Lynch muss diesen Film ebenfalls schätzen – sein thematisch stark verwandtes Meisterwerk Der Elefantenmensch ist stilistisch ähnlich geraten und zeigt John Hurt als entstellten Merrick in einer ähnlichen Situation, in der sich auch der kleinwüchsige Hans in Freaks befindet. Obwohl er mit einer körperlich gleichgestellten Künstlerin verlobt ist, hat der Gentleman nur noch Augen für die wunderschöne Trapezkünstlerin Cleopatra. Die fühlt sich natürlich geschmeichelt, weiß von Hans‘ geerbtem Vermögen und nutzt ihn nach Strich und Faden aus, nur um an sein Geld zu kommen. Als sie versucht, ihn nach einer Scheinheirat mit Gift ins Jenseits zu befördern, steigen die „Freaks“ auf die Barrikaden.

Die Hintergründe zur Entstehung des Streifens und die tatsächlichen Biographien der einzelnen Personen (gut nachzulesen auf Wikipedia) lassen das eigentliche Werk fast schon außen vor. Freaks ist etwas, das nicht nur auf sein Medium als Film reduziert werden kann, sondern hierfür bräuchte es glatt faktenbasierende Begleitkommentare. Und es ist kaum zu glauben: in manchen amerikanischen Bundessstaaten ist Freaks, nach 91 Jahren, immer noch verboten. Ursprünglich hätte Brownings Werk auf Wunsch der Produzenten eine Schrecklichkeit, viel heftiger noch als Dracula, werden sollen, um Universal die Stirn zu bieten. Browning hatte aber anderes im Sinn – sein Film ist das simple Libretto einer traurigen, mitleiderregenden Operette, die noch vor dem sogenannten Hays-Code etwas zu wagen imstande war und es auch durfte. Bis heute gibt es so ein zeitgenössisches Wagnis kein zweites Mal. Ein wahrhaftiges Dokument über die Niedertracht der Bevorzugten, dessen Horror nur in den Köpfen jener entsteht, die Menschen mit Behinderung nicht für vollwertig erachten. Die, die so denken, sind die wahren Monster. Aber das wissen wir ja bereits, oder?

Freaks (1932)

Promising Young Woman

OBJEKT DER BEGIERDE

6/10


promisingyoungwoman© 2021 Focus Features


LAND / JAHR: USA 2020

BUCH / REGIE: EMERALD FENNELL

CAST: CAREY MULLIGAN, BO BURNHAM, JENNIFER COOLIDGE, LAVERNE COX, CLANCY BROWN, CHRISTOPHER MINTZ-PLASSE, ALISON BRIE, ADAM BRODY U. A. 

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Der Mann von heute hat immer schlechtere Karten. Vielleicht, weil der alte, weiße Mann von gestern noch viel zu präsent ist. Der Mann von heute pflegt Anstand, Moral und Vernunft in Jeans und Sakko. Ist nicht nur der Sexualtrieb, sondern auch Alkohol im Spiel, fallen die mühsam errichteten Kartenhäuser selbsternannter Edelmänner zusammen. Ab dann wird´s eklig, und der Mann so selbstvergessen instinktgetrieben wie ein Elefant während der Mast. Selbsterkenntnis gibt´s danach keine. Stattdessen sind wir Menschen ohnehin Meister der Verdrängung, es sei denn, etwas traumatisiert uns. Mit einem „Wir waren ja noch jung“ kommt die Absolution so schnell wie ein Burger beim Drive In. Jedoch ist ein Nein kein Ja, und sei es auch noch so gelallt.

Diese Floskel, doch nur jung gewesen zu sein, noch unerfahren – die kann Emerald Fennell genauso nicht mehr hören wie ich selbst nach diesem Film. Es sind Ausreden, die sie ihren Männerrollen ganz bewusst in den Mund legt. Und sie lässt sie allesamt – so wie sie saufen und hecheln – plump, feige und entbehrlich erscheinen. Der Mann von heute, der hat wirklich schlechte Karten. Und noch schlechtere, wenn er nebst erhöhtem Promillespiegel auf Carey Mulligan alias Cassandra Thomas trifft, die selbst einen solchen mit sich führt. Oder zumindest nur so tut, als ob. Ihr Ziel ist es, das Mannsbild zur Einsicht zu bewegen. Ihn inflagranti zu erwischen, wenn er dabei ist, Ehre, Anstand und Selbstachtung zu verlieen. Dabei führt sie Buch, und das aus gutem Grund. Wenig später trifft Cassandra auf einen ehemaligen Studienkollegen, der bestens dafür geeignet scheint, endlich mal die Jagdszenen aus dem nächtlichen Nachtclub hinter sich zu lassen und eine aufrichtige, anständige Beziehung zu führen. Doch die Vergangenheit holt sie ein. und es bietet sich die Gelegenheit für einen Plan, der mehr sein soll als nur ein Spiegel für andere. Dieser Plan hat mit Rache zu tun.

Ich muss zugeben – Carey Mulligan, sonst eher die unterschätzte, liebenswerte Nachbarin – macht ihre Sache ganz großartig. Vor allem, weil sie atypisch besetzt worden ist. Und jeder vermuten würde, dass von diesem Engelsgesicht keinerlei Gefahr ausgehen kann. Ihre Rolle ist aber die einer Aktivistin, die ihren Glauben an männliche Ritterlichkeit längst aufgegeben hat. Die Proben aufs Exempel bestätigen das. Die Einsicht derer zu erlangen, die Frauen auf Objekte der Begierde reduzieren, ist ein steiniger Weg, der Opfer fordert. Durch Mulligans rebellischer Güte entsteht aber aus dem anfangs vermuteten Rape & Revenge-Thriller so etwas wie ein satirisches #Mee Too-Drama, dessen scheinbar scharfe Klinge aber stumpfer ist als erwartet.

Vielleicht war Mulligan doch nicht die beste Wahl für diese erschütterte und den Mann erschütternde Figur. Zumindest passt sich Emerald Fennell inszenatorisch zu sehr an ihren Star an. Vielleicht tut sich Promising Young Woman mit der dazwischenliegenden Romanze keinen Gefallen, da der Film damit etwas den Fokus aus den Augen verliert und auch sonst zu recht konventionellen narrativen Mitteln greift. Das mit dem Oscar geadelte Drehbuch mag ja vor allem im letzten Drittel tatsächlich so einige Erwartungen untergraben, doch abgesehen davon, dass Mulligans Rechnung auch da nicht aufgeht, hinterlässt es mich am Ende mit einem recht unschlüssigen „War’s das?“. Fennells eher zahme Führung des Ensembles und der brave Stil der Inszenierung möchten den Eindruck vermitteln, in offenen Wunden nicht genug herumgestochert zu haben, um wirklich wehzutun. Wäre mehr genugtuende Gewalt die bessere Lösung gewesen? Für uns, die als Zuseher in Sachen Einsicht um einiges weiter sind, vielleicht schon. Für die Männer im Film allerdings nicht. Perlen vor die Säue also? Letzten Endes ist die Quote der Erreichten eine viel zu geringe.

Promising Young Woman

The Hater

DIE EIGENDYNAMIK GEKRÄNKTER EGOS

6,5/10


thehater© 2020 Netflix


LAND: POLEN 2020

REGIE: JAN KOMASA

CAST: MACIEJ MUSIALOWSKI, VANESSA ALEKSANDER, MACIEJ STUHR, AGATA KULESZA, DANUTA STENKA U. A.

LÄNGE: 2 STD 16 MIN


Böses, böses Internet. Wie konntest du dich für Manipulation, Hetze und Hass nur so instrumentalisieren lassen? Was ist aus dieser schönen neuen, viel einfacheren Welt des sozialen Lebens nur geworden? Ein neues Schlachtfeld 2.0 für Neider. Nichts ist derzeit perfider als die soziale Vernichtung. Das Erschreckende: bis vor nicht allzu langer Zeit war digitales Gelände noch eine einzige Grauzone. Langsam aber fallen die Schranken und folgt die Ahndung, doch immer noch zu wenig. Hass im Netz, sofern er nicht unterbunden und sträflich verfolgt wird, kann tödlich enden. Der polnische Social Media-Thriller von Jan Komasa, der unlängst mit dem oscarnominierten Corpus Christi in den Kinos war, läuft derzeit auf Netflix und zeigt das virtuelle Miteinander als Apocalypse Now für die Generation Like.

Im Zentrum des Geschehens steht ein charismatischer junger Jus-Student, der aufgrund eines Plagiatvorwurfs von der Uni fliegt. Das ist natürlich nicht gut fürs Selbstbewusstsein, aber wieso schreibt man auch von anderen ab? Anyway, das war schon mal die erste Kränkung – die zweite folgt auf dem Fuß. Der notorische Abhorcher und Mitlauscher bekommt bald mit, dass scheinbar wohlgesinnte Bekannte in Wahrheit nicht viel für ihn übrighaben. Kränkung wird zur Wut, Wut führt zu Hass, Hass zu perfidem Aktivismus. Als er bei einer windigen PR-Agentur voller Soziopathen (wie kalt können Menschen sein?) einen neuen Job anfängt, mutiert seine latente Leidenschaft für Lug und Trug bald noch mehr – und koordinierte Hetze nimmt ihren Lauf, alles auf Auftrag. Existenzen werden zerstört, Ansehen durch den Schmutz gezogen. Tomasz, so heißt er, schert das wenig. Im Gegenteil: langsam fragt er sich selbst, wie weit er gehen kann. Tomasz wird zum Reformator, zum diabolischen Schürer, mit Ringen unter den Augen und ausgezehrter Vitalität. Wie Patrick Bateman aus American Psycho seine Gräueltaten begeht, einfach weil er es kann, perfektioniert Tomasz sein Können darin, Gott und die Welt gegeneinander auszuspielen. Sich selbst beliebt zu machen, einzuschleimen, anzubiedern, gleichzeitig das Fußvolk aufzuhetzen, insbesondere politische Gegner aus dem linken und rechten Lager.

Der Journalist Mateusz Pacewicz, der auch das Drehbuch zu Corpus Christi schrieb, seziert in The Hater die Mechanismen der digitalen Kriegsführung auf anschauliche Weise. Die neuen Waffen sind Fake-User aus Indien und der Missbrauch persönlicher Daten anderer. The Hater ist ein dunkler, polemischer, hässlicher Film. Einer, der im Sündenpfuhl der Online-PR herumstochert und nichts Gutes aus dem finsteren World Wide Web lukrieren kann. Hasspostings und Cybermobbing sind die neuen Scheiterhaufen und Standgerichte, nichts hat sich geändert, nur das gekränkte Ich wechselt stets sein Gewand. Genau dieses gekränkte Ich verkörpert Maciej Musialowski mit gelackter Gefälligkeit und vorgetäuschter Naivität. Dahinter brodelt nicht nur das Ego, sondern auch Polens Politik und so mancher Psychopath – bis sich die Hölle auftut. In einer Szene, die in ihrem nackten Realismus bis an die Grenzen des Erträglichen geht.

Dennoch – The Hater übt rechtmäßigerweise und durchaus verständlich harte Kritik am Social Media-System und hemmungslosem Cybermobbing, gerät aber unterm Strich viel zu nihilistisch, um bereichernd zu sein. Mitnehmen lässt sich kaum etwas, nur ein unbequemes Gefühl in Kopf und Magengegend, und vielleicht der Entschluss, Facebook und Co gezielter und achtsamer zu nutzen. Oder gar nicht mehr zu nutzen. Gut, das ist zumindest etwas.

The Hater

The Nightingale – Schrei nach Rache

GESCHUNDENES TASMANIEN

7/10

 

The Nightingale© 2020 Koch Films

 

LAND: AUSTRALIEN 2020

DREHBUCH & REGIE: JENNIFER KENT

CAST: AISLING FRANCIOSI, BAYKALI GANAMBARR, SAM CLAFLIN, DAMON HERRIMAN, EWEN LESLIE, CHARLIE SHOTWELL U. A. 

 

Erst vor Kurzem hatte sich das belgische Könighaus für seine Gräuel während der Kolonialzeit im Kongo entschuldigt. Wem nützt das noch? Eine Entschuldigung ist schnell daher gesagt, und nichts mehr wert, nach so vielen Jahrzehnten des Zierens. Besser spät als nie, würden manche behaupten. Wäre es nie so weit gekommen, würde ich sagen. By the way: hat sich Großbritannien eigentlich schon dafür entschuldigt, die Ureinwohner Tasmaniens ausgerottet zu haben? Wahrscheinlich schon, und wahrscheinlich gab’s jede Menge Reparationen, um zumindest das letzte Bisschen ethnisches Erbe zu konservieren und fortleben zu lassen, zumindest in musealen Freilichtenklaven und in der Sprache der Ureinwohner, dessen zeitgerechte Archivierung grundlegend dafür war, das gesprochene Wort in seiner Originalität auch für diesen Film hier zu adaptieren, einem Rape and Revenge-Thriller im erd- und blutverkrusteten Gewand eines historischen Abenteuerfilms aus einer Zeit, in der Tasmanien noch Van Diemens-Land hieß und in welcher der Genozid gegen die schwarze Bevölkerung hoch im Kurs lag. Wie erquickend kann so ein Film nur sein, der von Ausbeutung, Versklavung, Vergewaltigung und Tod erzählt? Gar nicht.

The Nightingale von Jennifer Kent, bekannt geworden durch ihren Psychohorror The Babadook, ist trotz all der Hoffnungslosigkeit ein zutiefst feministisches, aufbrausend rechtefordendes Werk. Im Zentrum steht die Ex-Strafgefangene Clare, die beim britischen Leutnant Hawkins (gnadenlos böse und perfide: Sam Claflin) ihre Restschuld abarbeitet, von diesem aber regelmäßig missbraucht wird und die Freiheit, die ihr längst zugesteht, auch nicht bekommt. Irgendwann aber platzt Clares Ehemann der Kragen – was Hawkins natürlich nicht auf sich sitzen lassen kann und seinen ganzen Unmut eines Nachts an Clares Familie auslässt. Die Folge: Mann und Kind sind tot, der Leutnant mitsamt seines nicht weniger abscheulichen Sergeants (ekelerregend: Damon Herriman) bereits unterwegs in die Stadt, um sich befördern zu lassen. Doch falsch gedacht, wenn man vermutet, dass Clare sich nach all der Tragödie das Leben nimmt. Nein: Clare wird zur Furie, zum wütenden, keifenden, schreienden Racheengel, der Hawkins hinterherfolgt. Ohne Fährtenleser allerdings geht’s nicht, also gesellt sich unter anfänglichem Widerwillen der Tasmanier Billy an ihre Seite. Beide haben anfangs nichts gemein, doch später mehr, als sie vermutet hätten.

Eine Warnung gleich vorweg: The Nightingale hat nicht zu Unrecht eine FSK-Freigabe von 18. Die dargestellte sexuelle Gewalt an Frauen ist in diesem Film ziemlich unerträglich. Wer hier also zu sensibel auf solche Szenen reagiert, und das auch weiß, sollte den Film möglichst vermeiden. Ich selbst habe kurz überlegt, vorzeitig abzubrechen, denn nachdem man ohnehin schon die Nase voll hat von so will menschlichen Abgründen und irreversiblem Leid, setzt Jennifer Kent noch eins drauf. In The Nightingale ist die Bestie Mensch allgegenwärtig, andererseits aber findet die Kamera für einen ruhenden Gegenpool atemberaubende Aufnahmen der tasmanischen Wälder, in denen die Verlorenen umherirren. Doch der eigentliche Grund, The Nightingale nicht dem Bösen zu überlassen und sich erbaulicheren Themen zu widmen ist die Figur des Fährtenlesers Billy. Der Aborigines Baykali Ganambarr ist in jeder Sekunde seiner Spielzeit eine Entdeckung. Seine pragmatische Sicht auf die Gegenwart vereint sich auf berührende Weise mit seiner Wut über das Übel der britischen Land- und Lebensenteignung. Dann aber ist er wieder kindlich beseelt von den alten Mythen seiner Kultur, und man wünscht sich unentwegt, Billy möge diese Tortur durch die Wildnis gut überstehen. Die Finsternis aber, die legt sich über jedes Bild. Die Schönheit einer fremden Welt leidet – sie bleibt entsättigt, regennass und düster. In manchen Szenen, wenn Clare Alpträume plagen, hat der Streifen auch einigen Horror parat, um dann, nach ihrem Erwachen, in das gutmütige Gesicht des Fährtenlesers zu blicken, der sich ihrer annimmt. The Nightingale ist ein erschütterndes Drama über eines der dunkelsten Episoden der Menschheit, ein tiefschwarzer Film, in seiner Kompromisslosigkeit vergleichbar mit Twelve Years a Slave, allerdings nicht ohne bedingungsloser Liebe zu einem verlorenen Paradies, die letzten Endes über den Tod erhaben sein lässt.

The Nightingale – Schrei nach Rache