All of Us Strangers (2023)

JEDER LEBT FÜR SICH ALLEIN

8/10


allofusstrangers© 2023 20th Century Studios All Rights Reserved.


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2023

REGIE / DREHBUCH: ANDREW HAIGH

CAST: ANDREW SCOTT, PAUL MESCAL, JAMIE BELL, CLAIRE FOY, CARTER JOHN GROUT U. A.

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Wie einsam und allein ist der Mensch denn tatsächlich, Zeit seines Lebens und im manchmal schnell, manchmal langsam dahinfließenden Strom der Jahrzehnte? Was davon ist nur Fassade, was Imagination, und wie sehr braucht es andere, um sich geborgen zu fühlen? Diese Fragen zu beantworten, scheinen oft unbequem. Weil sie Tatsachen als Licht befördern, die keiner erkennen will. Diesen Fragen stellen sich unter anderem auch Filmemacher und erörtern auf höchst unterschiedliche Weise, wie Alleinsein sich anfühlen kann. Der Mensch kommt allein auf die Welt, interagiert während seines Lebens mit anderen, verlässt sich, wenn es gut geht, auf Mutter und Vater, später auf den Lebensmenschen, wenn sich einer finden lässt, um dann, allein, wieder diese Welt zu verlassen. Begegnungen und die Zugehörigkeit zu anderen schafft den nötigen Antrieb, um immer weiterzumachen. Fehlt diese Komponente, bleibt zumindest die Hoffnung, es könnte einmal so werden. In Uberto Pasolinis Mr. May oder das Flüstern der Ewigkeit wird die Einsamkeit des Menschen inmitten von Menschen als tieftrauriges, fast schon defätistisches Requiem inszeniert, das einem die Kehle zuschnürt. David Lowery schürt mit seiner metaphysischen Meditation A Ghost Story den Schmerz des Erinnerns und das Verlieren in den Erinnerungen eines vergangenen Lebens, sowohl der Lebenden als auch der Toten. Der Mensch wird in diesen Filmen dazu aufgefordert, sein Dasein – und auch den Tod – ertragen zu müssen, in dem Bewusstsein, mit seiner Tatsache der Existenz stets allein zu bleiben, weil man die eigene Existenz nicht teilen kann. Weil sie das ist, was man hat.

Diesen Existenzialismus im Film lässt Andrew Haigh einen Großstadttraum träumen, in der sich die Grenzen zwischen Realität und Imagination von Anbeginn an auflösen. Im Zentrum des Psychogramms steht, umgeben von sozialem Vakuum, ein Mann namens Adam, wohnhaft in einem über der Skyline von London schwebenden Appartmenthaus, das so gut wie leer steht. Adam ist somit ein einsamer Kosmonaut, der auf das Millionentreiben einer Großstadt hinunterblickt, ohne dazuzugehören. Er ist allein und einsam, antriebslos, gedankenverloren, zehrt an der Energie des Sonnenaufgangs, der, so kommt es vor, für ihn allein seine Show abzieht. Abgegrenzt und abgekoppelt von einem Leben im Miteinander ist auch Nachbar Harry (Paul Mescal), der eines Abends an seiner Tür läutet. Anfangs will Adam lieber keinen Kontakt, doch kurze Zeit später, nachdem klar ist, dass beide queer sind und füreinander Zuneigung empfinden, entsteht eine zaghafte Beziehung, die stets unterbrochen wird von einer wundersamen Tatsache, die Zeit und Raum neu konjugiert. Denn Adam, der in seinem zwölften Lebensjahr beide Elternteile bei einem Autounfall verloren hat, bekommt die Gelegenheit, Mutter und Vater wiederzusehen. Er muss dazu nur das Haus seiner Kindheit aufsuchen, und alles ist plötzlich wieder so wie früher, als wäre Adam wieder zwölf. Doch das ist er nicht, und das wissen auch seine Eltern, denen bewusst ist, längst gestorben zu sein.

Was würde man nicht dafür geben, geliebten, von uns gegangenen Menschen nochmal sagen zu können, was man immer schon sagen, nochmal fragen zu können, was man immer schon fragen wollte. Und einfach nicht mehr die Gelegenheit dazu hatte. Diese Möglichkeit wird Adam offenbart, und er nutzt sie. Er verabschiedet sich neu, kann seine Eltern nochmal umarmen, die Dinge ins Reine bringen und ihnen erzählen, wie es ihm seit damals ergangen war. Andrew Scott gibt dem einsamen Menschen, der den Verlustschmerz nicht überwinden kann und Angst davor hat, neuen zu erleiden, mit einer verletzlichen Intensität, dass man den Eindruck hat, man würde ihn schon lange kennen. Es wird fühlbar, was er empfindet, denn es sind Emotionen, die uns allen vertraut sind. All of Us Strangers wird zur immersiven Seelenreise an eine in farbiges Licht getauchte Urangst, geschützt vom Mantel der Verdrängung. Haigh reißt diesen herunter. Ecce homo, vermeint man ihn sagen zu hören. Und da ist er, dieser Adam, ein einsames menschliches Wesen, hin und hergerissen zwischen Sehnsucht, Abschied und von einer Reiselust ins Innere seines Selbst übermannt.

Vielleicht, so könnten manche vielleicht kritisieren, gibt sich All of Us Strangers einer überzeichneten Traurigkeit hin. Ich finde: Emotionen wie diese sind zu wahrhaftig, um als Kitsch bezeichnet zu werden. Leicht waren die Dreharbeiten womöglich nicht, Scott scheint sich dabei selbst an so manch schmerzliche Erfahrungen in seinem Lebens erinnert zu haben. Haighs Film ist an Intimität und Nähe kaum zu überbieten, ist surreal, voller Traumsequenzen und Erinnerungen, getaucht in Farbspektren und unterlegt mit hypnotisierendem Score, der Platz lässt für Klassiker wie The Power of Love von Frankie goes to Hollywood und diesen endlich von der Weihnachts-Playlist streicht. All of Us Strangers ist eine Naherfahrung und ein Psychotrip, vielleicht gar eine Geistergeschichte, aber ganz sicher keine leichte Kost und ein schweres, ich will nicht sagen sentimentales, aber wehmütiges Gefühl hinterlassend; einen Kloß im Hals, einen Druck auf der Brust. Befreiend ist Haighs Film nicht, dafür aber in seinem epischen Erspüren am Dasein, das aus Verlust und Suche besteht, berauschend und wunderschön. Hoffnung hat der Film keine, doch jede Menge Erkenntnis. Vor allem diese, dass Sehnsucht auch Geborgenheit bedeuten kann.

All of Us Strangers (2023)

Cassandro (2023)

BUNTER VOGEL OHNE STIMME

3,5/10


Cassandro© 2023 Amazon prime


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: ROGER ROSS WILLIAMS

DREHBUCH: DAVID TEAGUE, ROGER ROSS WILLIAMS, JULIÁN HERBERT

CAST: GAEL GARCÍA BERNAL, ROBERTA COLINDREZ, PERLA DE LA ROSA, JOAQUÍN COSÍO, RAÚL CASTILLO, ANDREA PAZMINO, BAD BUNNY U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Ich muss zugeben, es hat mal auch für mich eine Zeit gegeben, da war die üppige Überdramatik akrobatischer Ringkämpfe ein Guilty Pleasure am Feierabend, der Eurosport-Kanal zumindest für ein paar Monate nicht nur eine unbeachtete Fußnote im Rahmen der Kabelkanäle. Da waren Kapazunder wie Adam Bomb, The Undertaker oder Yokozuna gern gesehene Rüpel oder heldenhafte Muskelprotze, die, schweißglänzend und die tobende Menge für sich einnehmend, andere Nullnummern oder manchmal gar ernstzunehmende Widersacher im Showdown aufs Kreuz legten. Auch Dwayne „The Rock“ Johnson war so jemand, oder Dave Bautista – beide nun im Filmgeschäft. In Lateinamerika, insbesondere in Mexiko, kennt man Saúl Armendáriz, genannt Cassandro. Der hat’s ebenfalls zum Film geschafft, allerdings auf andere Weise. Statt selbst in irgendein Genre der laufenden Bilder zu wechseln und dann dort groß aufzuspielen, wird er zur biographischen Gestalt, mit dem Gesicht von Gael García Bernal, der sich in hautenge Trikots zwängt und in permanenter Jubelstimmung nicht nur das queere Filmpublikum für sich einnimmt. Dieser Cassandro, der steht für Liberalismus, Akzeptanz und sexueller Freiheit. Für die zurecht ungenierte Zurschaustellung homosexueller Orientierung und dem Hinterfragen geschlechtlicher Rollenbilder, die vor allem im Showsport des Wrestlings gerne vor die Kameras gehalten werden, ohne den Status quo zu hinterfragen. Als Botschafter der willkommenen Andersartigkeit scheint der schräge Vogel zwar schmächtig, aber gewitzt. Und wie es beim Wrestling nun mal als Parameter gilt: je beliebter man als Fäuste schwingender Ringkämpfer wird, umso mehr und umso öfter müssen die Kontrahenten zurückstecken. Das ist abgemachte Sache, da passiert nichts zufällig. Auch wenn wir alle gerne so hätten, es wäre so.

Cassandro mausert sich in ungestümer Beharrlichkeit und allen zumindest anfangs laut werdenden Unkenrufen zum Trotz zum beliebten Außenseiter, der, obwohl er die Branche konterkariert, als Klasse für sich phobisches Gesellschaftsdenken aufbricht. Dieses Herzensprojekt des kernigen Texaners ist zweifelsohne lobenswert. Roger Ross Williams, der 2010 für seinen Dokumentar-Kurzfilm Music by Prudence gar einen Oscar gewann, taucht seine biographische Tragikomödie in schillernde Farben und setzt sie deutlich oft dem Rampenlicht aus. Die kreischenden Outfits sitzen perfekt, García Bernal strahlt über das ganze Gesicht. Dass Cassandros Werdegang auch mit einigen Schwierigkeiten verbunden war; dass das Emporkommen, der Widerstand aus dem Volk und gar der Tod der geliebten Mutter den Mann mit ziemlicher Sicherheit in ein Wechselbad der Gefühle gestoßen haben muss, lässt Williams niemals so recht spürbar werden. Es ist, als würde sein Avantgardist in permanent glückseligem Enthusiasmus sein Leben bestreiten, ganz ohne bewusstseinsverändernde Substanzen, was man kaum für möglich halten würde, wenn man es nicht besser wüsste. Es scheint, als lebe der von Bernal dargestellte Träumer und Idealist in einer Gemütsblase aus Verdrängung und bühnenhafter Oberfläche, auf der man gerade noch vor lauter Verzückung die Arme gen Publikum strecken kann, um jeden einzelnen in dieser zum Bersten vollen Sporthalle zu umarmen.

Diese beharrliche Erfolgslust flacht die biographische Figur allerdings deutlich ab. In die wahre Seele des Mannes durchzudringen, scheint hier unmöglich – da muss, da kann doch deutlich mehr gewesen sein als sich nur der Phrase Wenn du es willst, kannst du alles schaffen hingegeben zu haben. Als schier unglaubliches und gleichermaßen unglaubwürdiges Märchen stutzt sich Cassandro zu einem Testimonial zusammen, das wie ein Cartoon durch dessen eigene Lebenslagen stolziert, ohne innezuhalten und mehr von sich preiszugeben als nur den gelebten Traum. Diese Attitüde nutzt sich bald ab, das Drama wird belanglos, obwohl es das nicht sein sollte, denn die vermittelten Werte sind gut genug, um seine Zuseher emotional abzuholen. Aus all dem Potenzial nutzt Williams nicht viel mehr als die Rolle eines „Hans im Glück“, der aufgrund einer naiven Einstellung Liebkind eines Schicksals wird, das als fade erzähltes Gesellschafts- und Familienportrait kaum berührt.

Während Fighting with My Family, wohl einer der besten Wrestling-Filme, in welchem sogar Dwayne Johnson als er selbst der jungen Florence Pugh so einige Tipps gibt, wie man im Ring überlebt, die Balance zwischen Erfolgsgewieftheit und innerfamiliären Befindlichkeiten findet, und Aronofskys The Wrestler den destruktiven Abgesang zelebriert, findet Cassandro, anders als sein echtes Vorbild, nirgendwo seinen Platz.

Cassandro (2023)

Femme (2023)

VOM MANN, DER SEINER FRAU STEHT

7,5/10


femme© 2023 BBC / Agile Films


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: SAM H. FREEMAN & NG CHOON PING

CAST: NATHAN STEWART-JARRETT, GEORGE MACKAY, JOHN MCCREA, AARON HEFFERNAN, ANTONIA CLARKE, NIMA TELEGHANI, MOE BAR-EL U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Damit hatten schon Albert und Renato in Ein Käfig voller Narren kämpfen müssen: Mit der gesellschaftlichen Akzeptanz durch alle Schichten, vor allem durch jene, die sich’s längst gerichtet haben und aufgestiegen sind zum Kulturattachée, wie der Vater der jungen Andrea, die ein Auge auf Renatos Sohn geworfen hat. Beide wollen heiraten, und um sich gegenseitig kennenzulernen, muss der schwule Besitzer eines Nachtclubs die versnobten Eltern zum Dinner laden. Liebling Alberto, Dragqueen bar excellence und längst eine Diva, ist gar nicht davon begeistert, ist er doch nicht mal willkommen und muss stattdessen zusehen, wie Renatos Exfrau seinen Platz einnimmt. Es wird klar: Als Dragqueen hatte man schon damals keine Chancen auf Akzeptanz. Und Schwulsein war etwas, das man hinter verschlossenen Türen praktiziert hat, ohne auch nur im Traum daran zu denken, sich irgendwo auf offener Straße zu committen.

Jean Poirets Theaterstück hat diese bedenkliche Inakzeptanz in einen zeitlosen Komödienklassiker verpackt, der zwar vordergründig ordentlich Lacher lukriert, in Wahrheit aber gesellschaftliche Defizite aufzeigt, die auf Kosten von Toleranz, Respekt und sexueller Freiheit ihr Unwesen trieben. Dabei hat der Job einer Dragqueen gar nichts mit sexuellen Präferenzen zu tun. Es können sich auch Hetero-Männer in den Fummel werfen, solange es Spaß macht und Frau die Bühne rockt – Why not? Meistens jedoch, und jedenfalls hier, im immersiven Beziehungsthriller Femme, ist der Star unterm Rampenlicht ein homosexueller Mann namens Jules, der die mit Verve und Stilsicherheit ausgestattete Aphrodite Banks zum Leben erweckt – mit Rasta-Mähne, eleganter Mode und perfekt sitzender Choreografie. Die Besucher toben, und wenn Aphrodite auftritt, gibt’s Glanz und Glamour. Nicht so außerhalb des Clubs. Denn da gibt’s Leute, die Dragqueens nicht mögen. Wie zum Beispiel der aggressive, Gift und Galle spritzende Preston, der anfangs die Gunst von Jules, immer noch gekleidet als Frau, auf sich zieht, was ihm gar nicht behagt. Wenig später, beim Zigarettenholen, passiert das Unausweichliche: Jules wird von Preston und seiner Gang angegangen, zusammengeschlagen und nackt und gebrochen auf der Straße liegengelassen. Ein Akt aus purem Hass. Jules aka Aphrodite wird diese Gesichter niemals vergessen, schon gar nicht das des Rädelsführers. Als Jules diesen in der Schwulensauna Monate später wiedererkennt, plant er, sich ihm anzunähern. Aus Rache, aus Neugier, wer weiß das schon so genau. Vor allem, um diesem Gewalttäter eine Lektion zu erteilen.

Als Revenge-Thriller würde ich Femme nicht unbedingt bezeichnen wollen. Diese Kategorisierung macht es sich zu einfach. Der auf der diesjährigen Berlinale erstmals präsentierte Film von Sam H. Freeman und Ng Choon Ping lässt sich schwer in eine Genre-Schublade stecken. Natürlich trägt er die Anzeichen eines Thrillers, doch diese sind versteckt, subtil, finden sich stets in einer diffusen, von Spannungen aufgeladenen Atmosphäre wieder, aus der sich alles entwickeln kann. Eine weitere gewaltsame Auseinandersetzung zum Beispiel, oder ein gelungenes Vabanquespiel, denn nichts anderes hat Jules im Sinn. Er will in Prestons Leben Platz gewinnen, so erniedrigend dies auch manchmal sein mag, insbesondere beim Sex. Da niemand weiß, dass Preston selbst schwul ist, scheint ein erzwungenes Outing die beste Methode, um ihn dranzukriegen. Wie sich diese Liaison aus Gehorchen und dem Sabotieren von Gefühlen letztlich entwickelt, bleibt fesselnd, nicht zuletzt aufgrund der eindringlichen Performance von Nathan Stewart-Jarrett (Dom Hemingway, Candyman). Ob dieser tatsächlich schwul ist oder nicht, braucht ja niemanden zu interessieren, denn im Gegensatz zu den Meinungen vieler „Wokisten“ ist Schauspielern nun mal die Kunst, in andere Rollen zu schlüpfen, eben auch in jene von Leuten, die sexuell anders orientiert sind. Wie auch immer Stewart-Jarretts Privatleben aussieht: als gekränkter, seelisch verletzter Mann, der wieder zurück zu seinem Selbstwert gelangen möchte und dabei die Ursache seiner Niederlage analysiert, um sie dann auszuquetschen wie eine Zitrone, spielt der charismatische Künstler auf der gesamten emotionalen Klaviatur, und das mit mimischer Akkuratesse, ohne nachzulassen und ohne vielleicht zu dick aufzutragen, mit Ausnahme des Makeups.

Diese Meisterleistung teil sich Stewart-Jarrett mit George McKay, den wir alle schließlich auch Sam Mendes 1917 kennen und der auch mal gerne ambivalente Rollen spielt, wie zum Beispiel diesen Ned Kelly im wüsten Australien-Western Outlaws. Als tätowierter Grenzgänger in steter Gewaltbereitschaft, mit unverhandelbaren Prinzipien und dann plötzlich wieder verletzlichem Charme ist das wohl eine der besten Darbietungen seiner Karriere. Beide ergänzen sich prächtig: beide entwickeln einen Sog aus psychologischer Manipulation, Freiheitskampf und Selbstbehauptung, dabei isolieren Freeman und Ping ihre beiden Akteure von allem anderen Beiwerk, rücken so nah wie möglich heran und bleiben stets so konzentriert, als würden sie durch ein Zielfernrohr blicken.

Doch wenn Femme schon kein klassischer Revenge-Thriller mit Bomben, Granaten und Shootouts ist, so ist er zumindest der Film Noir unter den queeren Filmen – grobkörnig bebildert, direkt und authentisch. Und düster genug, um nicht auf ein Happy End zu hoffen.

Femme (2023)

The Five Devils (2022)

DIE NEUGIER DER UNGEBORENEN

8/10


thefivedevils© 2022 F Comme Film / Trois Brigands Production


LAND / JAHR: FRANKREICH 2022

REGIE: LÉA MYSIUS

BUCH: LÉA MYSIUS, PAUL GUILHAUME

CAST: ADÈLE EXARCHOPOULOS, SALLY DRAMÉ, SWALA EMATI, MOUSTAPHA MBENGUE, DAPHNE PATAKIA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Seit der legendären deutschen Mindfuck-Serie Dark wissen wir, dass die Zukunft Vergangenes beeinflusst und umgekehrt. Dass die Schicksale in jeder Zeitphase wie ein Stoßmich-Ziehdich unverrückbar ihre Positionen einnehmen, weil das eine nicht ohne den anderen existieren kann. Weil die Zeiten einander bedingen. Und was war, wird gewesen sein. Was noch nicht ist, begründet vielleicht gar sich selbst. Diesen Knoten im Hirn muss man erst mal entwirren können. Das Ganze mutet an wie ein Zauberwürfel, dessen Algorithmus zur Lösung des Problems nur die wenigsten kennen. Denis Villeneuve hat in Arrival die Zeit als Kreislauf erklärt, ebenso das kongeniale Regie-Duo Jantje Friese und Baran Bo Odar, das nun leider mit ihrem neuen Abenteuer 1899 scheitern musste. Man kann auch zu weit gehen, und zwar so weit, dass man den eigenen Plot nicht mehr versteht.

Vor dieser Gefahr weiß sich Léa Mysius zu schützen. Ihr zweiter Spielfilm nach Ava will hier ähnlich die Zeit durcheinanderbringen und noch nicht Geschehenes zu längst Passiertem machen. Wie sie diesen phantastischen Umstand in ihre bittersüße Romanze integriert, und wie sie dabei noch einen philosophischen Diskurs wie Salz in die Suppe einstreut, ist so berauschend komponiert, dass einer wie Krysztof Kieslowski, würde er noch leben, glücklich die Hände zusammenschlagen würde, da er nun beruhigten Gewissens die zarte Erzählweise der Mystery vererbt sehen kann. Seine Zwei Leben der Veronika bleiben unvergessen. The Five Devils bleiben ebenfalls in Erinnerung. Und das aus vielerlei Gründen.

Mysius schenkt ihrem Publikum anfangs nur wenige Puzzleteile, die vielleicht zueinanderpassen könnten, aber ganz sicher ist man sich da nicht. Man wartet geduldig, was sie einem sonst noch zuwirft. Zu Beginn haben wir Adelé Exarchopoulos, die vor einem Flammenmeer steht und sich uns verzweifelten Blickes zuwendet. Dann folgt der Cut – und wir sehen die seit Blau ist eine warme Farbe längst für herausfordende Rollen etablierte Schauspielerin gemeinsam mit ihrer Filmtocher an einem See, mitten im Winter. Die junge Vicky ist in der Schule nicht sehr beliebt, ein gewisser Alltagsrassismus prägt ihr Dasein in der Gesellschaft. Allerdings hält sie diese Erfahrungen vor ihren Eltern geheim – genauso wie den Umstand, dass sie einen außergewöhnlichen Geruchssinn besitzt. Erinnerungen an Grenouille aus Das Parfum werden wach, aber keine Sorge: Das Mädel ist keine Psychopathin, nur etwas eigenwillig, was das Sammeln von Duftstoffen in Einmachgläsern betrifft, die jeweils einen anderen Menschen olfaktorisch erfassen sollen. Da passiert es, und Tante Julia, die Schwester ihres Vaters, kommt zu Besuch. Mit ihr verbindet Mutter Joanne eine unangenehme Vergangenheit, sie will sie am liebsten gar nicht hier haben. Vicky geht der Sache nach und die Neugier obsiegt, während sie die Habseligkeiten der Unbekannten durchwühlt. Ein seltsames Fläschchen erregt ihr Interesse. Kaum daran geschnüffelt, fällt die Kleine durch die Zeit – bis zu einem Moment in der Vergangenheit, der das Tor zu einer Tragödie öffnet, an der selbst sie nicht ganz unbeteiligt scheint.

The Five Devils schafft ein Mysterium, ohne herausfinden zu wollen, warum Dinge geschehen, die unmöglich scheinen. Viel wichtiger scheint es dem Film, das, was ans Licht kommt, als schmerzvoll-intensives Beziehungsdrama ins Zentrum zu stellen und sich dabei dem Phantastischen als Mittel zum Zweck zu bedienen. Das Paranormale, Metaphysische ist nur ein Zugang. Doch es wirft auch die Frage auf, wie sehr die eigene Geburt nur Zufall gewesen sein kann. Jeder dürfte diese Tatsache selbst schon erörtert haben: Was, wenn im Laufe der Vergangenheit Wendepunkte des Lebens der Eltern ganz anders verlaufen wären? Wie leicht wäre man selbst nicht vorhanden. Und doch unterliegt unsere Existenz einem gewissen Determinismus, und dem Recht auf ein Dasein, das sich selbst verursacht hat. Die Angst davor, im besten Falle eigentlich gar nicht existieren zu dürfen, findet in The Five Devils zwar Trost, aber zum Glück keine erlösenden Antworten, denn die wären vermutlich banal.

Mysius stattet diese Ratlosigkeit, unterlegt von einem wohlklingenden, melodiösen Soundtrack aus diversen zeitgenössischen Musikstücken, zu einer von kindlicher Neugier überrumpelten Expedition aus, auf welcher man mitreisen und von welcher man sich mitreissen lassen sollte, allen emotionalen Gefahren zum Trotz.

The Five Devils (2022)

Oskars Kleid

ELTERN MACHEN PROBLEME

6/10


oskarskleid© 2022 Warner Bros. Pictures Germany


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2022

REGIE: HÜSEYIN TABAK

BUCH: FLORIAN DAVID FITZ

CAST: FLORIAN DAVID FITZ, LAURÌ, AVA PETSCH, MARIE BURCHARD, KIDA KHODR RAMADAN, SENTA BERGER, BURGHART KLAUSSNER, JUAN CARLOS LO SASSO U. A. 

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Eltern sind sehr schnell mit ihrem Latein am Ende. Was Kinder wollen, was Kinder brauchen und wie Kinder die Welt sehen: All das und noch viel mehr ist für den, der es zumindest mal geschafft hat, ein lebendiges Wesen in die Welt zu setzen, wie ein Buch mit sieben Siegeln, das über all diese Feinheiten der Kindererziehung Aufschluss geben würde. Nur: Wir Eltern können diesen wuchtigen Wälzer leider nicht öffnen – und müssen mit der eigenen Erfahrung arbeiten, die sich aus einer Kindheit schöpfen läßt, die eine Generation zurückliegt und von einer Epoche gefärbt scheint, die längst schon überholt ist.

In der dritten Dekade des neuen Millenniums jedoch wacht unsere Gesellschaft langsam auf. Viele Staaten liegen da noch tief im Schlummer eines totalitären Mittelalters, Menschen schießen sich auf Geheiß machtkorrumpierter Persönlichkeiten immer noch tot, während mehr Gespür für das eigene Ich längst schon seine Äuglein geöffnet hat. Und Dinge, die über Jahrhunderte totgeschwiegen wurden, wie der sensible Umstand der eigenen sexuellen Identität, kommen zur Sprache. Transgender, nonbinär, LQBTIA+ – Wörter, die vor einigen Jahrzehnten noch nicht zu verstehen waren, nun aber der oder dem einzelnen so viele Freiheiten einräumen, dass diese zumindest in einigen europäischen Ländern und vielleicht auch in einigen amerikanischen Bundesstaaten ihrem psychosozialen Wohlbefinden nachgehen können. Modetrend? Wohlstandserscheinung? So einen Verdacht äußert Florian David Fitz als Filmvater Ben nicht nur einmal. Wäre da was dran? Womöglich nicht. Denn nicht zu wissen, ob man Frau oder Mann oder gar nichts von beidem ist, ob man vielleicht im falschen Körper steckt und als Bub eigentlich gerne ein Mädchen wäre – das birgt viel zu viele Erschwernisse, und später noch richtige Hürden, die zu bewältigen sind, um hier einfach spaßhalber einem Trend zu folgen. Freiwillig ausgesucht hat sich das niemand.

Einer dieser Buben, die gerne ein Mädchen wären, ist Oskar. Der trägt liebend gern sein dottergelbes Sommerkleid und nennt sich Lili. Schwester Erna (Ava Petsch, auch zu sehen in Was man von hier aus sehen kann) hat damit keinerlei Probleme, weil Kinder sich nicht so einen Kopf machen wie Erwachsene. Auch die Mama weiß Bescheid, und sogar die Schule, auf welche Lili geht – wissen doch all die Mitschülerinnen und -schüler längst nicht, dass das Mädchen im Grunde biologisch gesehen anderen Geschlechts ist. Einzig Papa Ben fällt aus allen Wolken, tut dieses abnormale Gehabe als Spleen ab und will sich auf keine Diskussionen einlassen, als dieser aufgrund der Schwangerschaft seiner Ex-Frau die beiden Kids mit zu sich nach Hause nimmt. Auf die Reihe bekommt dieser Ben allerdings nichts so wirklich. Das eigene Ego, verkrustete Ansichten und fehlende Offenheit einer sich in der Umgestaltung befindlichen Gesellschaft gegenüber werfen dem strauchelnden Polizisten allerlei Knüppel zwischen die Beine. Dann legt er sich auch noch mit seinem Rivalen an und muss hinnehmen, dass seine eigenen Eltern dem neuen Liberalismus mehr Verständnis entgegenbringen als er selbst.

Oskars Kleid ist nicht der erste Transgender-Familienfilm, aber womöglich der erste deutsche. Mit Mein Leben in Rosarot hat schon der Franzose Alain Berliner 1997 das gleiche Thema angeschnitten. Später dann, 2018, gaben Claire Danes und „Big Bang Theory“-Star Jim Parsons in Ein Kind wie Jake mehr schlecht als recht das sorgenvolle Elternpaar eines Mädchens im Körper eines Jungen. Da wie dort liegt der Fokus weniger auf den schwierigen Umstand, die eigene queere Identität als Kind anzunehmen als vielmehr auf das hilflose Tamtam der Erwachsenen, die ohne all diese Blickwinkel aufgewachsen sind und gerne der Tendenz folgen, aus allem ein Problem zu machen, um dieses dann erfolgreich zu lösen. Eine Taktik, die sich bald als relativ unpraktisch darstellt.

Florian David Fitz, Publikumsliebling und charmanter, fürs Tragikomische gerne besetzter Comedian, hat für Oskars Kleid das Drehbuch verfasst und sich so seine Gedanken darüber gemacht, wie es ihm selbst wohl dabei ginge, wenn der „Thronfolger“ plötzlich lieber Lidschatten und Krönchen trägt. Dabei kann er nicht anders, als seine Figur mit ordentlich aggressiver Männlichkeit auszustatten, dessen gewalttätiges Potenzial man als schmunzelndes Publikum nachzusehen hat. Sein „Problempapa“ bleibt den Stereotypen aus Schweiger- und Schweighöfer-Filmen leider treu, was vielleicht etwas zu gefällig erscheint und aus einem sehr reizvollen Thema eine Komödie machen will, die bewährten Mustern folgt. Das wäre auch zur Gänze passiert, würde Filmdebütant Laurì als Oskar/Lili durch sein zurückgenommenes, sensibles Spiel, das oft ohne Worte auskommt, der ganzen, sich steigernden Turbulenz einen nachdenklichen Kontrapunkt setzen, von welchem aus das ganze Durcheinander mehr Tiefe erlangt als abzusehen gewesen wäre.

Mehr Schwerpunkt auf Laurìs Performance wäre willkommener gewesen, die stillen Momente mit ihm und Filmvater Fitz erreichen manchmal eine ungeahnte Stärke, während sich der stressige Familienalltag und das Abarbeiten elterlicher Benimmregeln angesichts queerer Umstände in einem manchmal zu simplen Kosmos verlieren, der zugunsten eines breiten Publikums vereinfacht wird. Natürlich ist die Ambition dahinter eine, einem breiten, berührungsängstlichen Publikum ein so heikles wie sensibles Thema wie dieses näherzubringen. Bei allen anderen, die damit von vornherein klarkommen, rennt Florian David Fitz längst offene Türen ein.

Oskars Kleid

The World To Come

SCHMACHTEN UND LEIDEN AM BAUERNHOF

4/10


theworldtocome© 2021 Bleeker Street


LAND / JAHR: USA 2020

REGIE: MONA FASTVOLD

CAST: KATHERINE WATERSTON, VANESSA KIRBY, CASEY AFFLECK, CHRISTOPHER ABBOTT, ANDREEA VASILE U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Letztes Jahr lief dieser Festivalfilm, der vor einiger Zeit auf der Viennale präsentiert wurde, eine kurze Zeit lang unter dem Radar in einigen ausgewählten Programmkinos, bevor er wieder von der Bildfläche verschwand. Schade, der stand nämlich auf meiner Watchlist recht weit oben, denn Katherine Waterston und Vanessa Kirby in einem amerikanischen Heimatdrama, in dem es um queere Liebe geht, sind ja fast nicht auszulassen. Genauso klammheimlich wie die Liebe zwischen diesen beiden Charakterdarstellerinnen hat sich das Werk dann auch in ein Streamingportal geschummelt, wo es weiter vor sich hingedämmert wäre, würde ich mich nicht in periodischen Abständen nach Filmen wie diesen auf Fahndung begeben. Na endlich – The World To Come, jetzt vom Sofa aus. Das muss schließlich großes Kino sein, ähnlich wie Ammonite mit Kate Winslet und Saoirse Ronan. Beachtliches Schauspielkino zwischen tosendem Meer und zugeknöpfter Gesellschaft.

The World To Come spielt Mitte des neunzehnten Jahrhunderts im Hinterland von New York. Es ist kurz nach Neujahr, der Winter hat die Wildnis hier fest im Griff. Es ist klirrend kalt auf dem Hof von Abigail und Dyer. Einem Ehepaar, das den Diphterietod seiner Tochter betrauert. Abigail schreibt Tagebuch, wir hören ihre Gedanken und ihre mit Tinte hingeworfenen Sätze als erschöpftes, melancholisches Gebet. Alles ist grau, halbdunkel, schwer. Kameramann Andre Chemetoff setzt auf grobkörnige Bilder fast schon im 4:3-Format. Erinnert unweigerlich an First Cow von Kelly Reichhart, ebenfalls ein Festivalfilm, ebenfalls volle Breitseite Arthouse. Auf dieser Farm im Nirgendwo geht Abigail also ihren Pflichten nach. Anna Wimschneider aus Herbstmilch lässt grüßen. Nicht weit von Abigails und Dyers Hof pachten Neuankömmlinge die Nachbarsfarm. Auftritt Vanessa Kirby als Tallie, die sich sofort zu Abigail hingezogen fühlt. Aus einer ersten Begegnung und regelmäßigen Besuchen wird bald mehr. Ehemann Casey Affleck, der wieder mal so spielt, als würde er sich gerne irgendwo hinlegen wollen, um ein Schläfchen zu machen, merkt natürlich nichts. Ist auch ständig unterwegs. Kirbys Gatte hingegen schwört auf die Bibel und die Unterwürfigkeit der Ehefrau. Dennoch entsteht von Frühling bis Sommer eine kleine, auch sexuell gepflegte Romanze, die ihrem Schicksal natürlich nicht entkommen kann.

Wobei es wiederum ein Leichtes wäre, sich der Sogwirkung dieses Films zu entziehen. Will heißen: Es gibt keine. The World to Come ist träge und langweilig. Eine Tristesse, 109 Minuten lang. Getragen von bedeutungsschweren, poetischen Rezitationen und ungelenken Gesprächen. Die immer wiederkehrenden Inserts von Tag und Monat bringen die müde und eigentlich wenig aussagekräftige Geschichte noch mehr zum Stocken, da man befürchtet, hier ein ganzes Jahr den inneren Monologen von Abigail ausgesetzt sein zu müssen. Und es braucht ewig, bis der Sommer endlich ins Land zieht. Dann haben wir zumindest ein bisschen Sonne, und der Schneesturm ist nur noch eine vage Erinnerung an ein wenig mitreißende Dramatik in einem Film, der sich rettungslos und Bedeutung simulierend in der Lethargie seiner Opferrollen verliert.

The World To Come

Wir beide

GELIEBTE NACHBARIN

7,5/10


wirbeide© 2020 Paprika Films


LAND / JAHR: FRANKREICH, LUXEMBURG, BELGIEN 2019

REGIE: FILIPPO MENEGHETTI

CAST: BARBARA SUKOWA, MARTINE CHEVALLIER, LÉA DUCKER, MURIEL BÉNAZÉRAF, JÉRÔME VARANFRAIn U. A. 

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


Auch dieser Film steht auf der Shortlist zu den Oscars für den besten fremdsprachigen Film 2021. Und das völlig zu Recht. Allerdings nicht in erster Linie, weil das Liebesdrama Wir beide gleich zwei Tabuthemen auf einmal thematisiert. Sondern weil ein Stoff wie dieser so selten ohne übertriebene Sentimentalitäten auskommt – hier aber Regiedebütant Filippo Meneghetti eine Möglichkeit gefunden hat, auf geradezu erfrischende Weise von einer Liebe zu erzählen, die an gesellschaftlichem Normdenken gerade bei der jüngeren Generation beinahe gescheitert wäre.

Dabei haben die beiden reiferen Damen – die eine gleichzeitig Oma und Witwe, die andere nonkonforme Lebenskünstlerin – alles was sie brauchen würden, nämlich sich und rosige Aussichten für die Zukunft, da der Traum, gemeinsam nach Rom zu ziehen, kurz davor steht, verwirklicht zu werden. Ein einziges Problem gibt es jedoch noch, das noch aus dem Weg zu räumen wäre: Oma Madeleine muss endlich den Mut aufbringen, ihre Sippschaft zu verklickern, dass sie in einer glücklichen Beziehung mit Nina weilt. Alleine der Umstand, auf ihre alten Tage zu ihrer sexuellen Identität zu stehen, scheint schon unmöglich zu sein, wenn Madeleine nur daran denkt. Der Sohn ist ein zynischer Grantler, und die Tochter glaubt immer noch, dass Mama und Papa damals aus Liebe geheiratet hätten. Bei all den Troubles passiert etwas, dass alles über den Haufen wirft. Madeleine erleidet einen Schlaganfall. Und niemand weiß, dass Nina im Grunde ihre Partnerin ist und eigentlich das Recht hätte, sich um ihren Lebensmenschen zu kümmern.

Das Script zu diesem auf den ersten Blick vielleicht eher konventionell scheinenden Drama überrascht und ist umso cleverer konstruiert, da man erstmal nicht ahnt, welche Schwierigkeiten entstehen können, wenn das Outing zu spät kommt. Klar, in Liebesdingen geht niemanden Dritten auch nur irgendwie an, was Sache ist. Zählen die Beteiligten allerdings nicht mehr zum jungen Eisen, könnte der Nachwuchs mehr mitzureden haben, als den Beteiligten lieb wäre. All diesen aufreibenden Hürden, die plötzlich aufpoppen, nachdem Madeleine ihre Selbstständigkeit verloren hat und plötzlich auf Hilfe von außen angewiesen ist, begegnet eine großartig aufspielende Barbara Sukowa in einer ihrer besten Rollen mit Argwohn und kämpferischer Jugendlichkeit. Martine Chevallier hingegen spielt die zu Beschützende fein nuanciert und mit einem Repertoire an sehnsüchtigen Blicken. Wie die beiden Frauen füreinander kämpfen, wie sehr sie sich brauchen und was sie überwinden, um zusammen zu sein, sind fast schon Shakespear´sche Liebeswirren für eine entsexualisierte Generation, die aber genauso queer sein kann wie jene, die bei den Regenbogenparaden auf die Straße geht.

Wir beide ist jedenfalls eine der besten Liebesfilme der letzten Zeit – authentisch, poetisch und mit augenzwinkerndem Humor.

Wir beide