Der Spatz im Kamin (2024)

DIE KATZE IST TOT

7/10


spatzimkamin© 2024 Viennale


LAND / JAHR: SCHWEIZ 2024

REGIE / DREHBUCH: RAMON ZÜRCHER

CAST: MAREN EGGERT, ANDREAS DÖHLER, BRITTA HAMMELSTEIN, LUISE HEYER, MILIAN ZERZAWY, PAULA SCHINDLER, LEA ZOË VOSS, ILJA BULTMANN, LUANA GRECO U. A.

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Familie und ihre dunklen Geheimnisse. Gerade in den skandinavischen Dramen eines Henrik Ibsen, August Strindbergs oder später in den gallig-polemischen Satiren eines Edward Albee kommen Familien, gepfercht in einen sinnbildlichen Druckkochtopf, an ihren Siedepunkt. Was raus muss, muss raus, es ist wie bei einem entzündeten Blinddarm oder einem faulen Zahn. Das Problem dabei ist nur: Sich des Eiterherds zu entledigen, dafür braucht es Mut und Anstrengung. Oder gerade den richtigen Moment. Welcher wäre dafür nicht besser geeignet als eine Familienfeier anlässlich des Geburtstages von Papa Markus. Der Mann hat drei Kinder und eine Ehefrau, die längst nicht mehr das ist, was sie damals war, als beide sich kennengelernt haben. Nun – Zeit, Alltag, Stress und Midlife-Krisen ändern oft alles, und nichts lässt sich mehr wiedererkennen. Die ganze kaputte Familie soll anrücken – Schwester mit Schwager, die entlaufene Tochter, sogar die Hundesitterin, die vis a vis in der Holzhütte wohnt, um ihr nach einem Aufenthalt im Gefängnis eine zweite Chance zu geben. Der Haussegen hängt schief, und es scheint, als würde die miese Stimmung einzig und allein von Mama ausgehen, während der Rest der Sippschaft sich darin übt, diese Frau entweder zu hassen oder zu meiden.

An einem Wochenende wie diesen, an welchem sich versehentlich ein Spatz in den Kamin verirrt und vielleicht auch die Katze stirbt (um Schrödingers Dilemma zu bedienen), könnte die große Katharsis stattfinden, der große Kehraus nach einem Feuerwerk aus Gift und Galle, verletzenden Worten und völlig falsch verteilter Rollen. Der Spatz im Kamin ist für mich der erste Film der Gebrüder Zürcher, ein waschechtes Schweizer Fabrikat, ein pointiertes Familiendrama mit spitzen Zungen und paraverbaler Botschaften. Zwar untereinander nicht zusammenhängend, ist dieser Teil nach Das merkwürdige Kätzchen und Das Mädchen und die Spinne nun der letzte einer sogenannten Tier–Trilogie, die jeweils den animalischen Symbolismus bedient. Alle drei gehen in Medias Res, was soziale Mikrokosmen betrifft, in denen Liebe, Hass, Sehnsüchte und Geheimnisse reif für die Ernte sind. In diesem Schweizer Sommer schwant einem Übles, mag man den Haushaltseifer des Jungen als bedrohlich betrachten und die falsche Freude der Besucher als aufgesetzt. Während alle anderen gar nicht mal so tun, als ob, sondern die Wahrheit hinter allem auf provokante Weise höher schaukeln, bleibt Maren Eggert (zuletzt in Ich bin dein Mensch neben „Roboter“ Dan Stevens zu sehen) die zentrale Figur einer strindberg’schen Mutterfigur, die, immer noch wohnhaft im Haus ihrer Eltern und scheinbar verbunden mit einem Fluch, das Erbe der eigenen Ahnen antritt. Familie wird in Der Spatz im Kamin zur Wucherung auf den Fundamenten des Vergangenen. Wie Eggert sich diesem Geschwür entledigt und gleich die ganze Verwandtschaft mitreißt, das schildert Ramon Zürcher mal nüchtern, mal radikal, mal versunken in einer metaphysischen Traumwelt.

Im letzten Drittel dringt das Irreale wie eine helfende Hand für Eggerts Figur in die bittere Realität, verliert aber dadurch auch etwas an Substanz. Es scheint, als wäre die Flucht in den Traum der einzige Ausweg in den Augen Zürchers, und ja, das Theater arbeitet mit solchen Elementen relativ oft. Tabula Rasa spielt es in diesem Drama wohl weniger, dafür hat die in der Psychotherapie erfolgreich praktizierte Familienaufstellung ihren Film gefunden. Nach der Erkenntnis, wo wer hingehört, obwohl er ganz woanders steht, ebnet den Weg zum Neuanfang.

Der Spatz im Kamin (2024)