She Said

DURCH DIE MAUER DES SCHWEIGENS

7/10


shesaid© 2022 Universal Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: MARIA SCHRADER

BUCH: REBECCA LENKIEWICZ

CAST: CAREY MULLIGAN, ZOE KAZAN, PATRICIA CLARKSON, ANDRE BRAUGHER, JENNIFER EHLE, SAMANTHA MORTON, ANGELA YEOH, MAREN HEARY, SEAN CULLEN, TOM PELPHREY U. A.

LÄNGE: 2 STD 9 MIN


Der Despot ist immer und überall, ganze zwei Stunden lang. Er durchdringt die Geschehnisse, die Schicksale und den Widerstand gegen Machtwillkür wie eine körperlose Entität – und dennoch haben wir ihn immer vor Augen, diesen beleibten, ekelhaften Riesen, der nur ein Wort zu sprechen braucht, schon würden alle nach seiner Pfeife tanzen. Bei so viel Macht liegt die Schuld auch bei denen, die diese Macht überhaupt erst zuließen. Wie bei jedem Tyrannen. Dieses Mal ist es Harvey Weinstein, ein zu 23 Jahren Haft verurteilter Frauenschänder, der nichts mehr genossen hat als seine Macht auf sexueller Ebene auszuspielen. Das so jemand Filme wie Pulp Fiction oder Shakespeare in Love ermöglicht hat, würde man am liebsten verdrängen. So wie Maria Schrader die physische Präsenz des Miramax-Imperators bis auf ganz wenige Szenen ausspart, weil es vollends genügt, einfach nur die Möglichkeit anzudeuten, einer wie er treibt überall sein Unwesen.

Dass sich durch den Verzicht des Abbildens diese Präsenz noch mehr verstärkt als durch schnöde Nachahmung, ist eines der Hattricks in diesem präzise ausformulierten Drehbuch von Rebecca Lenkiewicz, welches Maria Schrader genauso präzise in Szene setzt. Und wahrlich: Im Gegensatz zu ihrem letzten Film, den sehenswerten Androiden-Philosophikum Ich bin dein Mensch ist She Said ungleich komplexer – eine inszenatorische Abschlussprüfung, ein aus unzähligen Einzelteilen und ebenso vielen Gesichtern bestehendes Recherche-Puzzle, das sehr viel Fingerspitzengefühl erfordert, um keinen Faden zu verlieren oder in Erklärungsnotstand zu geraten. Schrader war sich ihrer Aufgabe bewusst – und steht in ihrer Sorgfalt Regiekollegen wie Alan J. Pakula (Die Unbestechlichen), Adam McKay oder Tom McCarthy (Spotlight) in nichts nach, wenn es heißt, die Chronik weltverändernder Geschehnisse aufregend genug auf die Leinwand zu bringen.

Der erste kluge Schachzug in der Inszenierung ist die Vorwegnahme eines Einzelschicksals in wortloser Klarheit und in wenigen Szenen: Wenn Laura Madden nach anfänglicher Euphorie, an einem Filmset zu arbeiten, in der nächsten Szene plötzlich verzweifelt weinend die Straße runterläuft, ihre Kleider unter dem Arm, dann sagt das alles: Hier passiert jede Menge Unrecht, und zwei New York Times-Journalistinnen, die sich auf investigative Recherchen verstehen, nehmen sich dieses Themas an. Erstmal geht es nur im Allgemeinen um sexuelle Belästigung in der Filmbranche, später dann wird es konkret: Besagter Harvey Weinstein dürfte einigen Dreck am Stecken haben, davon können nicht nur Promis wie Rose McGowan, Gwyneth Paltrow und Ashley Judd (Chapeau vor so viel Engagement – sie spielt sich nämlich selbst) ein Klagelied singen, sondern auch unzählige Assistentinnen, die als verstörtes Lustobjekt Weinsteins mit Geld und Verschwiegenheitsklauseln mundtot gemacht wurden. Dabei ist Weinstein vielleicht nur die Spitze des Eisberges, während gerade in dieser Branche Nötigung und Missbrauch scheinbar überall als Teil der Firmenpolitik gebilligt werden.

Wir wissen, wie es bislang ausgegangen ist. Wie es aber dazu kam, und mit welchem Eifer und welchem Teamgeist die New York Times – gedreht wurde an Originalschauplätzen wie tatsächlich in der Zeitungsredaktion – hier am Ball geblieben war, weiß zu faszinieren. Carey Mulligan und Zoe Kazan als das Ermittlerduo Jodi Kantor und Megan Twohey ordnen sich schauspielerisch dem großen Ganzen unter. Sie transportieren ihre Rollen mit genügend Persönlichkeit, aber nicht zu viel, um ihre eigene Biografie daraus zu machen. Dabei stechen speziell die kleinen Nebenrollen aus der Fülle an Namen hervor, wie Weinsteins Sprachrohr Lenny oder Samantha Morton als Zelda Perkins, die mit einem bewegenden Dialog die Zeit stillstehen lässt.

Die Zeit ist in diesem Film übrigens ein Trugschluss. Bei einer Länge von zwei Stunden mutet der Film viel länger an, was aber nicht zum Nachteil gereicht. Grund dafür ist die Fülle an Wendungen, Puzzleteilchen und Intermezzi, die diesen Journalismus-Thriller nie langweilig werden lassen, sondern am Köcheln halten. Dabei bleibt das Streben nach erzählerischer Klarheit stets vorrangig. Vielleicht verdrängt diese Methode mitunter die Emotionalität, will aber auch Menschen wie Kantor und Twohey ebenso danken wie dem Umstand, dass Frauen angesichts solch erlittener Schmach niemals mehr ihre Stimme verlieren müssen.

She Said

Causeway

FLUCHT ZURÜCK NACH VORNE

5/10


causeway© Apple TV+


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: LILA NEUGEBAUER

CAST: JENNIFER LAWRENCE, BRIAN TYREE HENRY, LINDA EDMOND, JAYNE HOUDYSHELL, FRED WELLER, NEAL HUFF U. A.

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


Mit einem tristen Indie-Drama wurde die Welt auf sie aufmerksam – zu einem tristen Indie-Drama kehrt Jennifer Lawrence nun zurück. Causeway ist ihr jüngstes Werk, und es erscheint in den dunklen Wintermonaten zeitgerecht auf dem Streamingdienst Apple TV+, denn dieser hat anscheinend ein Faible für Filme wie diese, die in unterschiedlicher Qualität einmal wirklich beeindrucken (wie das Sci-Fi-Drama Schwanengesang) oder lieber lethargisch bleiben, wie eben in diesem Fall. Ein Stück erarbeitete Lebensweisheit wie diese kann mitunter nur so tun, als hätte sie mehr auszusagen als ein kommerziell orientierter Comic-Blockbuster, denn diese sind ja schon allein aufgrund ihres Schwerpunkts auf Schauwerte gleich vorverurteilt, was Tiefe anbelangt. Sieht man allerdings genauer hin, können introvertierte Dramen wie dieses ihre wahre inhaltliche Ratlosigkeit auch nicht mehr kaschieren. Da kann Jennifer Lawrence noch so traumatisiert und emotional verkümmert ins Narrenkästchen blicken – der Film wird dadurch nicht griffiger oder gehaltvoller. Er bleibt zumindest inhaltlich von so geringer Spannkraft wie die Wasserspiegel der vielen Swimmingpools im feucht-tropischen Süden der USA, die Jennifer Lawrence alle reinigen muss. Doch warum nur tut sie das?

Lawrence spielt Lindsay, eine körperlich wie neuronal in Mitleidenschaft gezogene US Army-Ingenieurin, die bei einem Routineeinsatz in Afghanistan aufgrund eines Hinterhalts der Taliban schwer verletzt wurde. Der Unfall führte zu einer Gehirnblutung, die wiederum zur körperlichen Beeinträchtigung, die nur nach langen Monaten der Reha wieder so einigermaßen in den Griff zu bekommen war. Die Bilder des Schreckens von damals mindert das nicht – umso schwerer ist es, sich selbst genug zu motivieren, um, wieder daheim, zumindest vorübergehend ein neues Leben anzufangen, bis es wieder an die Front gehen kann. Denn das will sie, trotz oder gerade wegen dieser erschütternden Erlebnisse, die ein ziviles Dasein fast schon unmöglich machen. Dummerweise muss sie sich bei Muttern einquartieren – das Verhältnis zwischen den beiden pendelt zwischen zerfahren und vorsichtiger Annäherung, wobei schon einiges zu viel im Argen liegt, um länger in der Obhut der Vergangenheit bleiben zu wollen. Wie es der Zufall so will, trifft Lindsay auf den Mechaniker James (Brian Tyree Henry, zuletzt gesehen als Killer Lemon in Bullet Train), der ein ähnliches Schicksal mit sich herumträgt.

Klar wird aus dieser Begegnung mehr. Und auch aus der neuerlichen Zusammenkunft zwischen Mutter und Tochter. Causeway ist ein Aufarbeiten des Vergangenen und eine Suche nach einem Neuanfang. Für einen Indie-Film wie diesen klingt der Plot mittlerweile etwas abgenutzt und reicht gerade mal für eine Ausgangssituation, um unterschiedliche Ansätze darin zu entdecken. Das eindringliche Antikriegsdrama Brothers, ob als dänisches Original oder Remake mit Tobey Maguire und Jack Gyllenhal, ist ähnlich akzentuiert, entwickelt aber eine bedrohliche Eigendynamik. Die Tragikomödie Red Rocket von Sean Baker hat zwar keine traumatischen Kriegserlebnisse zu bieten, erzählt aber ebenfalls von Vergangenheit und Neuanfang auf erfrischend spitzbübische Weise. Familien spielen dabei immer eine Rolle, ob dysfunktional oder Geborgenheit bietend. Was Lila Neugebauer in ihrem ersten Langfilm daraus macht, scheint ein bisschen sehr gedankenverloren. Natürlich, Lawrence nimmt sich zurück und gibt sich ganz ohne Schminke und sonstige Accessoires bemüht natürlich. Brian Tyree Henry ist da schon chargierender, spontaner in seinen Emotionen, auch glaubhafter. Doch beide sind souverän in ihrer Arbeit, treten aber in der Entwicklung ihrer Figuren fast bis zuletzt auf der Stelle.

Für Langeweile sorgt Causeway aber dennoch nicht, was den beiden Darstellern geschuldet ist. Schauspielkino also für einen ruhigen Filmabend, der wenig Erhellendes bietet, seine Zuseher aber wissen lassen möchte, mit anscheinend viel Schwermut auch genug Gehaltvolles kommuniziert zu haben. Das lässt sich schnell glauben – in Wahrheit bringt das Thema für einen Langfilm viel zu wenig ins Rollen.

Causeway

Monstrous

ZU NAH AM WASSER GEBAUT

6/10


monstrous2© 2022 capelight pictures


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: CHRIS SIVERTSON

CAST: CHRISTINA RICCI, SANTINO BARNARD, COLLEEN CAMP, LEW TEMPLE, NICK VALLELONGA U. A.

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Noch bevor Olivia Wilde mit ihrer zweiten Regiearbeit Don’t Worry, Darling die 50er-Jahre wieder mal als etwas erklärt hat, was nicht der ganzen Wahrheit entsprechen kann, weil die aufgeräumte Glückseligkeit dieser Hausfrauen-Epoche wirklich nicht der Weisheit letzter Schluss vor allem für Frauen sein kann, begab sich bereits Ex-Wednesday Christina Ricci im himmelblauen Cadillac an die Grenzen ihrer Wahrnehmung: Monstrous nennt sich der Psychotrip, und es lässt sich mit diesem Titel bereits erahnen, wohin das führt. Als monströs lässt sich allerdings auch das Sein hinter dem Schein von Florence Pughs Desperate Housewives-Dasein definieren – also führen die Vermutungen auch für diesen Film in verschiedene Richtungen. Das Key Visual zur Bewerbung des Schauerdramas gibt allerdings mehr preis, als uns Zusehern wohl lieb gewesen wäre, doch es gibt dennoch so einiges in der Twilight-Zone dazwischen, dass wir vielleicht nicht ganz so vermutet hätten.

Zumindest erweckt alles mal den Eindruck, als wäre lediglich Christina Ricci als alleinerziehende Mutter, die in einem Haus am Rande einer Kleinstadt in Kalifornien Zuflucht sucht, in dieser pastelligen 50er Jahre-Blase gefangen. Beide – Mutter und Sohn – wollen den Launen des gewalttätigen Ehemannes entgehen und hier, in dieser Einschicht nahe eines Weihers ein neues Leben beginnen. Dummerweise haben Lauras Eltern dem Gatten die neue Anschlussnummer verraten – also meldet sich dieser immer wieder und bittet um Vergebung. Ein Umstand, der Laura aus ihrem Heile Welt-Setting holt. Und da ist dann noch ihr kleiner Junge, der in diesem alten Anwesen immer wieder unter Albträumen leidet und sich so gut wie sicher ist, dass in diesem Gewässer unweit des Hauses ein Monster lebt, dass sich allnächtlich ins Haus schleicht, um Cody zu quälen.

All diese Versatzstücke ergeben das abgerundete Bild einer Schauergeschichte, wie sie M. Night Shyamalan wohl erfinden würde oder vielleicht auch Guillermo del Toro. In Kreaturen aller Art ist letzterer sowieso schwer verliebt, und auch die Brücke vom Monströsen zum Übersinnlichen wurde nicht erst seit Crimson Peak geschlagen. In Monstrous vereinigen sich ebenfalls beide Komponenten, und es wäre aus meiner Sicht tatsächlich nicht ratsam, weitere Vergleiche heranzuziehen, denn auch wenn sich für Chris Siverstons Regiearbeit so manche vergleichbare Beispiele geradezu aufdrängen, würde jede weitere Erwähnung zu viel verraten. Ich kann nur so viel sagen, dass Christina Ricci als einsame, und natürlich auch desperate Hausfrau eine gute Figur macht. Ihr akkurates Erscheinungsbild in Szenen, die an Werbeplaketten damaliger Zeiten erinnern, als so manches hilfreiche Küchengerät neu auf den Markt kam, setzt einen verwirrenden Kontrapunkt zu einer schwer deutbaren Heimsuchung, die sich natürlich nicht auf Conjuring-Niveau begibt, das Herz nicht zum Rasen bringt und auch so gut wie keine Jumpscares auf Lager hat. Monstrous will etwas ganz anders erzählen, als nur verschrecken oder Geister herbeirufen, die es nicht gut meinen würden.

Die Geschichte nimmt trotz all des Phantastischen plausible Wendungen, um dorthin zu gelangen, wo Monstrous hinmöchte: zum etwas umständlich erzählten, aber ganz anderen Mutter-Sohn-Melodram, dass mit Traumata, Verlust und Erkenntnis zu tun hat. Dass sich aber an bereits etablierten und ruhmreichen Genreperlen bedient. Ungeniert zwar, aber auf eine Weise, die bereits Bekanntes geschickt zusammenmontiert. Und zwar so, dass man dem Film kaum vorwerfen kann, nicht genügend eigene Ideen gehabt zu haben.

Monstrous

Im Labyrinth des Schweigens

DAS BÖSE ZUR RECHENSCHAFT ZIEHEN

6/10


labyrinthdesschweigens© 2014 Universal Pictures


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2014

REGIE: GIULIO RICCIARELLI

CAST: ALEXANDER FEHLING, GERT VOSS, JOHANNES KRISCH, ANDRÉ SZYMANSKI, JOHANN VON BÜLOW, ROBERT HUNGER-BÜHLER, LUKAS MIKO, FRIEDERIKE BECHT U. A. 

LÄNGE: 2 STD 3 MIN


Was habe ich nicht die schauspielerischen Spitzen dieses großartigen Künstlers auf den Brettern des Wiener Burgtheaters genossen! Egal, ob Thomas Bernhard oder Samuel Beckett – mit seiner sonoren Stimme und seinem Charisma war Gert Voss immer ein Erlebnis. 1995 gar von der Times als bester Schauspieler Europas genannt, verstarb dieser mit nur 72 Jahren – sein letzter Auftritt lässt sich im Holocaust-Aufarbeitungsdrama Im Labyrinth des Schweigens bewundern, in welchem er den legendären Eichmann-Jäger Fritz Bauer verkörpert. Voss hat seine Version des Staatsmannes ganz anders angelegt als dies ein Jahr später Burghart Klaußner in Der Staat gegen Fritz Bauer getan hat. Die zerzauste weiße Haarpracht, kettenrauchend und im Verhalten recht sperrig – zumindest optisch weiß Klaußner die historische Persönlichkeit schillernder und naturgetreuer zu verkörpern. Voss ist da womöglich bereits von seiner Krankheit gezeichnet, bleibt lieber er selbst als jemand anderer, erreicht aber immer noch Größe. Allein dafür wäre dieser Film schon sehenswert. Und natürlich kann ein Film nicht nicht ansehenswert sein mit einer Thematik wie dieser, geht’s doch um so etwas menschenrechtlich relevantes wie die in Frankfurt stattgefunden Auschwitz-Prozesse. Der Film beleuchtet, wie es dazu eigentlich gekommen war.

Im Mittelpunkt dieses in seinen Fakten tatsächlichen Geschehens steht allerdings eine fiktive Figur, die im Grunde die drei wirklichen Anwälte zusammenfassend darstellt: Alexander Fehling gibt den jungen Anwalt Johann Radmann, der sich erstmal nur mit juristischem Pipifax auseinandersetzen muss – Bezirksgericht auf langweilig. Bis ihm allerdings die Aussage eines Holocaust-Überlebenden namens Kirsch in die Hände fällt (gewohnt intensiv: Johannes Krisch), der dann folglich vieles ins Rollen bringt, in erster Linie aber ganz viel Papierkram und Organisatorisches. Ziel ist es schließlich, so viele Zeitzeugen wie möglich zur Aussage zu bewegen, um damit so gut wie alle Nazis, die in Auschwitz stationiert waren, des Mordes oder zumindest der Beihilfe dessen zu verurteilen. Fritz Bauer ist da als Generalstaatsanwalt ganz vorne mit dabei (in eingangs erwähntem Film von Lars Kraume sieht man ganz genau, auf welchen Widerstand aus den eigenen Reihen er damals gestoßen war). Im Laufe seiner Arbeit allerdings verbeißt sich Radmann auf eine ganz bestimmte Person – nämlich jene des nach Brasilien geflüchteten KZ-Arztes Josef Mengele, dem Inbegriff unmenschlicher Scheußlichkeiten.

Im Labyrinth des Schweigens ist konventionelles, polithistorisches Erzählkino, notwendigerweise chronologisch aufgebaut und vermengt mit den Versatzstücken eines pseudobiographischen Begleitdramas rund um Fehlings Filmfigur. Geschichtsdramen wie diese brauchen einen gefälligen, dramaturgischen Unterbau, schon allein deshalb, um eine Identifikationsfigur auf Augenhöhe zu schaffen. Hier, im Frankfurt der späten 50er Jahre, kauert der Faschismus hinter den Masken jener, die es sich gerichtet haben. In einer Szene verfällt Anwalt Radmann geradezu in verzweifelte Panik, weil er plötzlich in allen und jeden einen heimlichen Nazi zu erkennen glaubt. Dieser braune Dunst wabert über dem Retro-Interieur privater Wohnungen und Büros – ein schwelender Zustand, den Regisseur Giulio Ricciarelli relativ gut einzufangen weiß.

Ganz besonders begrüßenswert ist aber vielmehr die Art und Weise, wie der Film mit den schrecklichen Details umgeht, die weder breitgetreten noch als sentimentales Betroffenheitskino demonstrativ eingesetzt werden. Über die erzählenden Gesichter unterschiedlichster Art legt er den Mantel des Schweigens, nur ab und zu werden so manch erschütternde Erinnerungen artikuliert, und der ganze schreckliche Rest lässt sich in den eigenen Gedanken sowieso nacherleben – wenn man es zulassen kann und will. Durch diese pietätvolle Balance findet Im Labyrinth des Schweigens nie sein Ziel aus den Augen. Was bleibt, ist wichtiges Kino, allerdings nach bewährtem Muster, das durch seine prosaische Norm zwar interessant ist, aber nie wirklich emotional vereinnahmt. Dass dann tatsächlich so jemand wie Mengele bis in die 70er Jahre hinein unbehelligt weiterleben konnte, macht einem zumindest klar, wie sehr man in Sachen Gerechtigkeit damals wie heute gegen Windmühlen kämpft.

Im Labyrinth des Schweigens

El Camino – A Breaking Bad Movie

BLICK ZURÜCK NACH VORNE

6/10

 

elcamino© 2019 Netflix

 

LAND: USA 2019

REGIE: VINCE GILLIGAN

CAST: AARON PAUL, JESSE PLEMONS, ROBERT FORSTER, SCOTT MCARTHUR, CHARLES BAKER, SCOTT SHEPHERD, BRYAN CRANSTON, JONATHAN BANKS U. A.

 

Der Spoilometer gibt Entwarnung: denn dass Aaron Paul alias Jesse Pinkman einer der wohl besten Fernsehserien der Welt überlebt hat, ist seit dem Trailer zu El Camino – A Breaking Bad Movie kein Geheimnis mehr. Und wer die Serie damals als Mutter aller Binge-Watch-Formate inhaliert hat wie eine frische Tüte Kartoffelchips, der wird wohl die letzten Minuten der letzten Staffel wohl auch nie wieder vergessen: Heisenberg am Boden und Pinkman auf der Flucht, bewerkstelligt in einem schwarzrot-gestreiften El Camino, noch dazu fertig mit der Welt und dem Leben, gepeinigt, verängstigt, verwahrlost. Dieser El Camino ist es auch, der mühelos die Brücke schlägt zwischen dem Finale aus 2013 zu dem nun auf Netflix erschienenen Epilog einer Kette unrühmlicher, bizarrer und tragischer Ereignisse, die mit der Krebsdiagnose des Chemielehrers Walter White überhaupt erst begonnen haben. Mit gewissem Know-How lässt sich viel anrichten, zum Guten wie zum Bösen, und das haben der kongeniale Bryan Cranston und sein Schüler Aaron Paul in einer 5staffeligen Langzeitstudie eindringlich bewiesen. Wer da nicht Couchmaniküre betrieben hat, dürfte etwas ganz anderes gesehen haben, nur nicht Breaking Bad. Und es ist schön, nach so vielen Jahren sozusagen wieder heimzukommen nach Albuquerque, an den Ort weniger schöner, aber unter- und oberweltbewegender Extreme.

Mastermind Vince Gilligan hat letzten Endes also doch darauf verzichtet, das Schicksal des Jesse Pinkman der Fantasie seiner Fans zu überlassen. Das teilweise offene Ende hatte seinen unorthodoxen Reiz, so wie der ganze Stil der Serie, aber dennoch: wie der nicht erklingende letzte Ton einer uns bekannten Melodie dürfte die vage Zukunft wie Schrödingers Katze Gilligan so sehr gequält haben, das der letzte Vorhang um alles in der Welt noch fallen musste. Wir wissen also: Pinkman ist seinen Peinigern entkommen, diese wiederum haben unter dem Kugelhagel von Walter Whites tödlichem MG-Selbstauslöser das Zeitliche gesegnet. Einer von Ihnen, ein ganz perfider Bösling mit Hang zum beiläufigen Alltagsgrauen (Jesse Plemons in erschreckend unguter Psychopathen-Jovialität) dürfte dabei vorher schon sein unrechtmäßig Erspartes irgendwo in die Möblage seiner vier Wände integriert haben – welches Pinkman aber zwecks Neuanfang dringend nötig hat. Blöd nur, dass von dieser Kohle auch andere Leute wissen, und so entwickelt sich das spannende BB-Nachspiel zu einer Art The Good, the Bad and the Ugly, alle auf der Suche nach dem Schatz des Toten, während die Kavallerie Pinkman ganz oben auf die Liste gesetzt hat. Gilligans Reminiszenz an die Heist-Western gipfelt sogar in einer skurrilen Duellszene, die wie ein Plug-In formschön ins Breaking Bad-Universum passt. Notwendig wäre El Camino aber nicht gewesen, geschweige denn ungeduldig herbeigesehnt. Die Umstände einer Flucht nach vorne kann man in Erfahrung bringen, muss man aber nicht. Der Plot war damals schon auserzählt – die einen überleben, die anderen sterben. Pinkman wäre seinen Weg schon gegangen, unterkriegen ließ sich der Bursche ohnehin nie. Das Wiedersehen macht aber dennoch Spaß, und vor allem nerdige Flashbacks halten mit Cameos einiger kultiger Charaktere aus der Serie nicht hinterm Berg. Vor allem in diesen Szenen lässt sich erkennen, wie Aaron Paul seinen Charakter eigentlich angelegt und im Laufe der Geschichte verändert hat: vom blauäugigen, jugendlichen Kleinkriminellen zum traumatisierten Leidensgenossen, dem nichts mehr bleibt außer die Zähigkeit, sich neu zu erfinden.

Der steckbrieflichen Sogwirkung seiner Schöpfung bleibt Gilligan treu, auch in El Camino kann man schwer wegsehen oder sich währenddessen mit anderem beschäftigen. Dabei liegt die Qualität des Thrillers in seinen Konstellationen des Zufalls. Breaking Bad ist somit nach dem Abspann von El Camino endgültig Fernseh- und ein bisschen auch Filmgeschichte. Zeit also, dass sich Gilligan etwas Neues ausdenkt. Und das sollte man, erfahrungsgemäß, eigentlich nicht verpassen.

El Camino – A Breaking Bad Movie

Joker

DAS LACHEN, DAS IM HALSE STECKT

9/10

 

joker-1© 2019 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved. TM & © DC Comics

 

LAND: USA 2019

REGIE: TODD PHILLIPS

CAST: JOAQUIN PHOENIX, ZAZIE BEETZ, ROBERT DE NIRO, BRETT CULLEN, FRANCES CONROY, SHEA WHIGHAM U. A.

 

Lachen ist die beste Medizin, ist Arbeit für den Körper (mehr als 100 Muskeln sind daran beteiligt, von der Gesichts- bis zur Zwerchfellmuskulatur – alle Achtung!) und Balsam für die Seele. Mit Lachyoga lassen sich Depressionen oder andere seelische Erkrankungen mildern, was aber wissenschaftlich noch nicht ganz zu beweisen war. Aber Lachen muss doch vom Herzen kommen, oder nicht? Muss empfunden werden. Arthur Fleck empfindet es nicht. Der Mann, der später mal die Nemesis für Batman werden soll, ist, so könnte man sagen, am Lachen erkrankt. Eine neurologische Störung vermutlich, doch so gut kommt das fehlplatzierte Gelächter nicht wirklich an, nicht in der Gesellschaft, und nicht in Situationen, wo es eigentlich um Leben und Tod geht. Lachen wird dabei so richtig ungesund. Und hinterlässt den Beigeschmack des Irrsinns. Todd Phillips, Macher der Hangover-Filmreihe (wer hätte das gedacht!?) wechselt also von derben Lachnummern zum Lachen als Bürde und Anfall, der den Atem raubt. Sein Joker ist ein Film über die Be Happy-Insistenz des Lachens, so gellend wie bei Edgar Allan Poe oder so fratzenhaft wie bei Victor Hugos lachendem Mann. Über den karitativen Mehrwert von Cliniclowns und der subjektiven Auslegung von Humor. Tod Phillips hat zwar die Seiten gewechselt, aber es sind immer noch die Seiten der selben Medaille. Dabei gerät Joker nicht nur zur Kehrseite der Komödie, sondern auch zur Kehrseite des DC-Universums. Arthur Fleck bezeichnet sein Leben irgendwann nicht mehr als Tragödie, sondern als Komödie. Und seine Witze, die würde ohnehin keiner verstehen. Ist also Joker eine Komödie? Ist Humor nicht sowieso das schwierigste Werkzeug der Unterhaltung, und derselbe Witz sowohl gut als auch schlecht, je nachdem wen man fragt? Diese Grauzone scheint so nebulös zu sein wie das „patscherte“ Leben dieser geschundenen, traumatisierten Kreatur, die in ihrer aussichtslosen Existenz das Schlimmste noch verdrängt hat. Wen würde es da nicht den Boden unter den Füßen wegreißen? Arthur Fleck wird irgendwann schwerelos, weil er nichts mehr zu verlieren hat. Das ist, trotz aller Bemühungen, witzig zu sein, ein Kreuzweg in eine alternative, archaische Freiheit, die sich allen Paradigmen einer geordneten Gesellschaft widersetzt.

Die Paradigmen könnten sich mit Todd Phillips´ Joker im Blockbuster-Universum des Kinos ebenfalls einer radikalen Neuordnung hingeben. Kann sein, dass das Publikum mit Effektbomben wie Age of Ultron oder Man of Steel längst gesättigt ist. Kann sein, dass die Zielgruppen eigentlich das wollen, was auch im Horror-Genre so gut funktioniert: Weg vom CGI-Getöse, was manche Filme wirklich übertrieben haben, hin zur Auseinandersetzung mit den inneren Dämonen. Hin zum Hinterfragen der eigenen Werte und der Deckungsgleichheit des eigenen Ichs mit der Inszenierung für die anderen, die ja laut Sartre bekanntlich die Hölle sind. Das sieht auch der spätere Joker so, dem einfach keiner zuhört, den man schmäht oder im Stich lässt. Kränkung ist das Schlimmste, was einem psychisch labilen Menschen widerfahren kann. Was daraus erwächst, lesen wir wöchentlich in der Zeitung. So in etwa entsteht auch die Ikone des diabolischen Spaßmachers, der „Sympathy for the Devil“ schürt, und der eigentlich will, was sowieso jeder von uns will: Selbstbestimmung. Selten wurde ein Antagonist von der Pike auf so fein seziert, selten hatte die Metamorphose in einen Verbrecher so viel Bühne. Vielleicht ist die in der Ruhe liegende Kraft die neue Action auf der Leinwand. Vielleicht sind es die inneren Grabenkämpfe, ist es der Fokus auf Ursache und Wirkung in einem abgegrenzten Kosmos, in diesem Falle der urbane Horror namens Gotham. Und ja – Joker ist im DC-Universum inhärent, ist also eindeutig ein Comicfilm, er lässt sich nur schwer nur als Psychothriller abkoppeln, das wäre zu wenig, sondern kann sehr wohl und im Besonderen als die erste Episode für etwas betrachtet werden, das noch kommen und den Mythos Batman noch mehr auf die Realität herunterbrechen wird als es bereits Christopher Nolan getan hat.

Joker ist tatsächlich von den frühen Grunge-Thrillern Martin Scorseses inspiriert. Alles versinkt im Dreck, jeder boxt sich durch. Eine Stadt als Moloch. Inmitten dieser fahlgrünen Neon- und flackernden U-Bahn-Lichter eine groteske, gekrümmte Gestalt, morbide Fantasien in sein Notizheft kritzelnd und in entrückten Traumtänzen seinen bis auf die Knochen abgemagerten Körper verrenkend. Speziell in diesen Szenen erinnert Joker sehr wohl auch an die Filme von David Cronenberg, insbesondere Spider mit Ralph Fiennes, ein expressives schizophrenes Szenario, ungut bis dorthinaus. Oder an Brad Andersons Der Maschinist – da war Christian Bale derjenige, der als Hungerleider den Irrsinn gepachtet hat, alles im Schein schimmlig-kalten Lichts. So wie Joaquin Phoenix, der sich selbst in der Interpretation dieser popkulturellen Figur nichts schenkt, uns aber alles: So nuanciert, so verpeilt und so trotzig, so dämonisch und gleichzeitig in so verklärender Apotheose in den Olymp der Genugtuung – Phoenix serviert uns Schauspielkunst vom Feinsten, er fasziniert und fordert zugleich. Er zieht den Blick auf sich, doch am Liebsten will man nicht hinsehen. Wie er zum Joker wird, ist atemberaubende Charakterstudie und Erfüllung aller Erwartungen zugleich. Todd Phillips hat seinen Film in einen optisch erlesenen Reigen überhöhter Altarbilder verwandelt – nahezu jedes einzelne Take ist in Farbe, Licht und Form ein ikonisches Panel, das zu einem perfekt getimten Stück zermürbenden, vielschichtigen, mitunter auch blutigen Charakterkinos verschmilzt, unterlegt mit dröhnenden Klängen, dazwischen ertönt Frank Sinatra. Und es sei gesagt, obwohl man keine Vergleiche ziehen sollte – für mich kann es ab heute nur einen geben: und das ist Phoenix´ Joker.

Joker

Another Earth

BACKUP FÜRS LEBEN

7,5/10

 

anotherearth© 2011 20th Century Fox

 

LAND: USA 2011

REGIE: MIKE CAHILL

MIT BRIT MARLING, WILLIAM MAPOTHER, MATTHEW-LEE ERLBACH, MEGGAN LENNON U. A.

 

Schade, dass Mike Cahill seit 2014 keinen Film mehr gemacht hat. Dabei zählt der Bilderstürmer für mich seit I Origins – Im Auge des Ursprungs zu den führenden Philosophen des Kinos, visionär im Denken und mutig in der Ausführung ersonnener Gedankenspiele, die an die durchdachten Ideen eines Jaco van Dormael erinnern. Was war I Origins nicht für ein inspirierendes Erlebnis. Die ungestüme Schicksalssymphonie Another Earth war drei Jahre zuvor Cahill´s erster Langspielfilm, realisiert für wohlfeile 200 000 Dollar, und gemeinsam mit Lebensgefährtin Brit Marling, die sich in diesem anmutigen bizarren Hirngespinst einfügt wie Klimt´s Adele in die Ornamentik ihres Schöpfers.

Marling ist’s, die die junge Studentin Rhoda spielt, die einen Verkehrsunfall verursacht – weil am Himmel eine zweite Erde sichtbar ist. Mit Kontinenten und Meeren, das kann man vom Boden aus mit freiem Auge gut erkennen, vor allem nachts. Dass nicht nur Smartphones im Straßenverkehr meist schreckliche Konsequenzen nach sich ziehen – das erfährt die traumverlorene Blonde aus erster Hand. Frau und Kind des gerammten Fahrzeugs sind tot, der Vater überlebt. Weder Sie noch der trauernde Witwer bekommen ihr Leben von nun an wieder in den Griff. Niemandem würde es anders ergehen. Wenn das Schicksal mit eherner Faust zuschlägt, wünscht man sich, die Zeit zurückdrehen zu können. In Ermangelung dessen hilft nur noch Absolution. Rhoda macht den Witwer ausfindig, tarnt sich als Putzfrau und fängt an, ins Leben und in die Wohnung des völlig verwahrlosten Musikers wieder Ordnung reinzubringen. Die zweite Erde, die rückt derweil immer näher. Wenig später der erste Kontakt – und die Gewissheit, dass der Planet eine Spiegelung der eigentlichen Erde ist. Oder die eigentliche Erde eine Spiegelung des mobilen Trabanten. Eine Tatsache, die plötzlich möglich macht, was bislang unvorstellbar war.

Mike Cahill´s Vision von einer zweiten Chance, die sich allen physikalischen Gesetzen zum Trotz am Himmel manifestiert, ist ein assoziativ skizziertes Philosophikum, grobkörnig schraffiert, in einigen Momenten haarfein detailliert, dann wieder wie ein Found Footage-Video. Impulsiv gefilmt, aus dem Bauch heraus und spröde, nah an den Personen. Dann aus der Distanz und manchmal sogar in ikonografischer Apotheose. Ein Preludium für gequälte Seelen, die plötzlich auf das Backup ihres Lebens zurückgreifen können, gemäß der Hypothese paralleler Welten, die im Grunde genau so sind wie die unsere, die sich aber stetig und bis in die unendlichste Variation hin anders entwickeln als jene Realität, der wir inhärent sind. Was aber, wenn eines dieser Universen mit dem unsrigen überlappt? Was wäre dort anders als hier? Was besser? Und würden die Toten dort noch leben?

Another Earth ist wie ein abgehobener Traum, und vielleicht hat Mike Cahill tatsächlich einen solchen geträumt. Belegende Bilder dafür hat er zumindest geschaffen, und seine Überlegung führt zu einem Ende, das den Betrachter weiterdenken lässt als der Film andauert. Mit kreativen Leerräumen, um Unausgesprochenes für uns selbst zu artikulieren. Another Earth funktioniert nicht allein, dafür braucht es die Welt im Kopf seines Publikums. Solche Filme sind viel zu selten, um sie zu ignorieren. Das ist Kino, das weiterwill und nicht aufhören wird, Fragen zu stellen und neue aufzuwerfen.

Another Earth

Dhepaan – Dämonen und Wunder

NIRGENDWO MEHR SICHER

7,5/10

 

dheepan© 2015 Why Not Productions–Page 114–France 2 Cinéma

 

LAND: FRANKREICH 2015

REGIE: JACQUES AUDIARD

MIT ANTONYTHASAN JESUTHASAN, KALIEASWARI SRINIVASAN, CLAUDINE VINASITHAMBY U. A.

 

Die paradiesische Insel Sri Lanka war noch bis vor knapp einem Jahrzehnt ein vom übellaunigen Schicksal gebeuteltes Eiland südlich des indischen Subkontinents. Bereisen konnte man das Land dennoch, nur eben nicht an Orte, die von den tamilischen Separatisten besetzt waren. Da herrschten ähnliche Zustände wie im Norden Sumatras. Dort kämpften ebenfalls bis vor kurzem noch die muslimischen Aceh um die Unabhängigkeit. Dann kam 2004 der Tsunami – irgendwie der Anfang vom Ende. In diese Zeit hinein – wann genau ist aus dem Film nicht zu erfahren – gelingt drei zu einer falschen Familie zusammengewürfelten Personen die Flucht nach Paris. Dhepaan, der tamilische Krieger, eine wildfremde junge Frau und ein Waisenkind. Alle drei wollen anfangs nichts voneinander wissen. Das Konzept Familie kommt ihnen aber relativ gelegen – die Chance, auf diese Weise irgendwo neu anzufangen ist so deutlich größer. Familien haben Vorzug. Familien muss geholfen werden. Yalini, die junge Frau, will aber nach London, zu ihrer Cousine. Das Mädchen selbst, das bald in Frankreich auf die Schule muss, will nirgendwo hin, nur bei ihren neuen Eltern bleiben. Zu sagen, dass dies Menschen sind, die nichts mehr zu verlieren haben, erscheint zumindest bei der Reservemama und der Ziehtochter unangebracht. Den Frieden wollen sie finden und bewahren. Das Glück und die Geborgenheit eines beständigen Neuanfangs.

Das wollte Rambo auch. Heimgekehrt aus dem Vietnamkrieg, war die Visage des schlaksigen Stallone nirgendwo mehr willkommen. Zuflucht in der Heimat? Keine Chance. Aber, anders gefragt, wie komme ich jetzt auf Rambo? Beide Filme haben natürlich nicht viel, aber Wesentliches gemeinsam. Dazu muss man die Figur des Dheepan näher betrachten. Der bärtige Tamile ist der einzige, der nichts mehr zu verlieren hat – Familie tot, Land verwüstet. Traumatisiert durch Bomben, Granaten und dem Gräuel, den der Krieg mit sich bringt. Aber Dheepan reißt sich zusammen. Macht seinen Job als Hausmeister besser als gut, geht den Dealerbanden im Pariser Banlieue so ziemlich aus dem Weg, will sich also integrieren. Und mit der Zeit folgt so etwas ähnliches wie Respekt. So ein Problemviertel heißt aber nicht umsonst Problemviertel – es dauert nicht lange, dann erbeben die Wohnblocks irgendwo am Rande der Staat unter den Schüssen übervorteilter Gangsterbanden. Dheepan stolpert also weg vom Krieg in einen neuen hinein. Die Trigger sind aktiv, der Horror übermannt ihn. Der Krieger kehrt zurück. Wie bei Rambo. Beide finden sich in einem Gefecht wieder, der in ihren Köpfen tobt. Proben den Ausfall, wo Rückzug durchaus möglich wäre. Doch das Trauma gestattet kein Winseln um Gnade. Plötzlich geht es um Überleben oder Auslöschung.

Jacques Audiard meistert wieder mal einen Film, der seinen Figuren so genau zusieht, dass es fast schon zu distanzlos wird. Nur sehr langsam kommt Dheepan – Dämonen und Wunder in die Gänge, verliert sich aber niemals in Periphärem. Akribisch beobachtet Audiard die Integration in eine fremde Welt. Die Anpassung wird zur Zerreißprobe mit Höhen und Tiefen, das Wunder eines Neuanfangs hadert mit den Dämonen der Entbehrung. Interessant, wie der Film das Wirrwarr an Sprachen löst. Übersetzt wird das Tamilisch der drei Darsteller, bei Französisch und Englisch liest man die Untertitel. Die Gliederung zwischen Vertrautheit und Fremde wird damit fabelhaft vollzogen. Und wenn man glaubt, dass die Lüge, welche die Familie vorerst zusammenhält, dem Druck der Bewährung nicht mehr standhält, fällt die bereits angekündigte Bedrohung eines neuen Krieges, und sei es nur ein Kleinkrieg, über die Schutzsuchenden her. Nirgendwo ist es mehr sicher. Audiard kennt wenig Trost, nur den Wert des Zusammenhalts. Und die zweite Chance, die eigene Familie vor dem Untergang zu bewahren.

Dheepan – Dämonen und Wunder ist nicht umsonst ausgezeichnet worden. Auch wenn der Film vom Dasein als Flüchtling erzählt, ist er dennoch mehr als nur das – sondern eben auch eine Art des Antikriegsfilms, die nicht sofort als solche zu erkennen ist. Doch meist liegt in den Posttraumata, wie sie Dheepan mit sich herumträgt und womöglich niemals loswerden wird, die ganze Anklage an den Krieg verborgen. Dheepan ist so distanzlos wie kraftvoll, so poetisch wie radikal. Ein Film, der den Flüchtenden als hadernden Menschen besser verstehen lässt.

Dhepaan – Dämonen und Wunder

Colossal

MONSTERMÄSSIG DANEBEN BENOMMEN

7/10

 

colossal© 2017 Universum Film

 

LAND: SPANIEN, KANADA, USA, SÜDKOREA 2017

REGIE: NACHO VIGALONDO

MIT ANNE HATHAWAY, JASON SUDEIKIS, DAN STEVENS, TIM BLAKE NELSON U. A.

 

Wirklich mal so richtig die Sau rauslassen. Sich einfach gehen lassen. Wer würde das nicht gern? Vor allem dann, wenn vieles einfach nur stinkt. Und sich das Leben gerade von seiner abstoßendsten Seite zeigt. Da würde man gerne mal so wie Michael Douglas als D-Fens in Falling Down den Alltag einer Großstadt unsicher machen. Aber bei den meisten von uns sind das lediglich zollfreie Gedanken, die sich davor hüten, Wirklichkeit zu werden. Ausnahmen gibt es leider. Amok an Schulen, Amok auf Brücken, Weihnachtsmärkten, bevorzugt zu touristischen Stoßzeiten. Diese Individuen, sie kotzen sich aus, auf Kosten der anderen. In vollem irrationalen Bewusstsein entfesseln sie ein Monster, das alles zerstört, was ihm in den Weg kommt. Wie ein Golem, ein Frankenstein, der ausbricht und eine Spur der Verwüstung durch die urbane Landschaft zieht. Und dann gibt es aber Leute, deren Leben sich zwar auch auf Talfahrt befindet, die aber nicht merken, dass ihr entfesseltes Monster nicht weniger gebärdungsfreudig durch die Straßen strolcht und das Leben anderer beeinflusst. Man kann sich also nicht so einfach gehen lassen. Nicht, wenn es die Freiheit des anderen einschränkt. Und genau das wäre meine Prämisse für eines der kuriosesten Filmerlebnisse der letzten Zeit.

Der spanische Regisseur Nacho Vigalondo muss womöglich Erfahrungen mit Menschen gemacht haben, die in ihrer egomanischen Ignoranz nicht nur sich selbst, sondern auch andere ruiniert haben. Die in ihrem andauernden Kreisen um ihre eigene Person vergessen, dass das Menschsein vor allem eines ist – Leben in der Gemeinschaft. Das beginnt bei der Partnerschaft und reicht bis zum Miteinander aus Sicht der Weltbevölkerung. Es wäre wirklich wünschenswert, die Selbstreflexion bei all diesen Mitmenschen, die uns umgeben, als selbstverständlich zu erachten. Doch was nicht ist, wird zumindest nicht in absehbarer Zeit besser. Besser wird’s auch nicht im Leben von Anne Hathaway, die sich als arbeitslose Mittdreißigerin so ziemlich hängen und das Chaos walten lässt. Geregeltes Leben – Können vor Lachen. Und weil sie die Geduld ihres Lebenspartners über die Maßen strapaziert, fliegt sie auch in hohem Bogen aus der Wohnung – und kehrt ins verlassene Familienheim ihrer Kindheit zurück. Der Rezession nicht genug, trifft sie auch noch ihren alten Schulfreund, mit dem sie fortan abhängt und maximal als Teilzeitkraft in dessen Bar zu kellnern beginnt. Von da an wird’s skurril. Und es wäre zu vermuten, Drehbuch-Extremist Charlie Kaufman hätte wiedermal ordentlich in die Tastatur gehauen. Denn ein gigantisches Monster, ein Kaiju quasi, erscheint wie aus dem Nichts in der südkoreanischen Stadt Seoul. Das Phänomen ist weltweites Tagesthema Nr. 1 und dominiert die Schlagzeilen rauf und runter. Unglaublich, das sowas passiert, denkt sich Hathaway. Denken sich alle. Bis die verantwortungslose Dame erkennt, dass zwischen ihr und dem gigantischen Wesen eine Verbindung besteht.

Das klingt schrecklich bizarr, fast so abstrus wie Being John Malkovich. Jedenfalls gelingt es diesem Werk, zwei Filmgattungen zu kombinieren, die im Grunde überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Ein gewagter Mix, muss man schon sagen. Als würde die Monsterschau Pacific Rim die Verträglichkeitsprüfung für ein Young Adult-Psychodrama bestehen. Zugegeben, Action-Nerds werden sich ziemlich wundern – und enttäuscht von dannen ziehen. Der Pacific-Rim-Part hat schon seine Wucht, dient aber nur dazu, die Irrationalität menschlichen Verhaltens und der Bezwingung kenternder Lebensumstände Gestalt zu verleihen. Jason Sudeikis als unberechenbarer Sonderling fernab jeglichen Brachialhumors bietet einer entzückend konfusen Hathaway ordentlich Paroli – und auf welchem Wege und wie unerwartet sich die Sache weiterspinnt, ist faszinierend, wenn auch teilweise genauso konfus wie die Welt der beiden Freunde aus Kindertagen.

Colossal ist dennoch so versponnen wie erlebenswert. Nichts, was man schon gesehen hat. So einzigartig wie die Filme von Spike Jonze und so irritierend wie ein lebhafter Traum, dessen Stimmung man in den nächsten Tag mit hineinnimmt. Mag sein, dass meine Prämisse gar nicht das ist, was Vilagondo bezwecken wollte. Doch wie bei surrealen Gemälden oder dem Kino von David Lynch und ähnlich gelagerten Konsorten kann keine Interpretation wirklich falsch sein, vorausgesetzt man findet eine.

Colossal

Empörung

AM KUCKUCKSNEST VORBEI

7,5/10

 

empoerung© X-Verleih 2016

 

ORIGINAL: INDIGNATION

LAND: USA 2016

REGIE: JAMES SCHAMUS

MIT LOGAN LERMAN, SARAH GADON, TRACY LETTS, TIJUANA RICKS U. A.

 

Die Bücher von Philip Roth sollte ich wirklich mal lesen. Derweil kenne ich den wohl bekanntesten amerikanischen Romancier der Gegenwart eigentlich nur aus dem Kino – wo er in erster Linie eigentlich nicht hingehört. Roth sollte gelesen werden, keine Frage. Und spätestens nach Sichtung der jüngsten Verfilmung eines seiner Bücher kann das garantiert kein Fehler sein. Alleine 2016 haben sich gleich zwei Celluloid-Künstler den gesellschaftskritischen Stoffen des Literaten angenommen. Niemand geringerer als Ewan McGregor wollte bei seinem Regiedebüt ohne Umschweife gleich ans Eingemachte gehen. Den Roman Amerikanisches Idyll zu verfilmen ist gleich mal eine schauspielerische wie dramaturgische Herausforderung. Spannende Geschichte, aufwühlend und tiefgründig. Und siehe da – für einen Erstling überraschend stilsicher umgesetzt. Dankenderweise auch aufgrund der empathischen Schauspieler.

Die Blöße, mit etwas Gefälligerem als Philip Roth sein Regiedebüt zu zementieren, wollte sich Filmproduzent James Schamus aber dann auch nicht geben. Wenn schon McGregor sich nach Höherem streckt, wäre es blamabel, hier hinten anzustehen. Also welche Bücher haben wir noch, von Philip Roth? Empörung, Originaltitel Indignation. Wie in den meisten Büchern Roth´s – auch wenn ich sie nicht gelesen habe, aber soviel weiß ich – spielt die Handlung auch hier im amerikanischen Osten, wir haben eine in den 50er Jahren etablierte jüdische Familie, die sich im Schweiße ihres Angesichts alles aus eigener Hand aufgebaut hat. Und wir haben, was Philip Roths Werke so aufwühlend dicht gestaltet – die Auflehnung des Nonkonformismus. Die Schwierigkeit des selbstständigen Denkens in einem gesellschaftlichen System der geordneten Gleichheit und Hörigkeit. Empörung erzählt von einer unorthodoxen Liebesbeziehung an einer konservativen Universität im Ohio der Nachkriegszeit. Eine Zeit, in der Agnostizismus undenkbar, psychosoziale Auffälligkeit untragbar war. Sprichwörtliches Ertrinken war die Folge davon, wenn man gegen den Strom schwimmen wollte. Im Angesicht untergeordneten Ehrgeizes und christlich-konservativer Kuratel sind Querdenker und Individualisten die „Judasse“ einer gleichförmigen Gemeinschaft, sie sich im Gruppenzwang zum Erfolg hindurchaalt, dabei aber das eigene, selbstständig denkende Ich verrät. So ein „Judas“ ist der Student Marcus.

Die eremitische Tendenz des Freigeistes und die Ablehnung der Kirchenpflicht wäre ja schon unbequem genug – die Beziehung zur psychisch labilen Olivia, die ihrem Liebhaber nach Monika Lewinski den wohl folgenschwersten Fellatio Amerikas gönnt, setzt der Empörung wohl die Krone der Verschwörung aufs Haupt. Was anders ist, gehört ausgesondert. Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Wobei die Definition von Schlecht wohl im Auge des alleinherrschenden Rektors liegt. Fast möchte man meinen, der verfilmten Prosa eines Ödön von Horvath zu folgen. In seinem Roman Jugend ohne Gott sind es auch die Andersdenker, die dem Widerstand folgen. Die ausbrechen aus der diktierten Gehirnwäsche. Auch Erich Kästner lässt in seinem Ich-Roman Fabian seine Figur gegen den Sturm breschen. Horvath, sowieso ein Pessimist in Reinkultur, kann seine Querdenker niemals gewinnen lassen. Auch Kästner tut das nicht. Und Philip Roth, der mit Empörung einen Roman wie aus einer anderen Epoche vorlegt, ebenso wenig. Wer hätte da gedacht, dass sich „Percy Jackson“ Logan Lerman mit der tragischen Figur des ideologisch und geistig unterjochten Marcus so sehr identifiziert. Lerman verkörpert das strebsame Genie in unnahbarer, ablehnender Intensität. Fast schon sichtbar, wie diese unbequeme, entnervte, widerspenstige Seele in einem Schraubstock unduldsamer Intoleranz steckt. Und sich letztendlich beugen, verbiegen, brechen muss. Der junge Schauspieler ist beeindruckend. Empörung ist aber durchaus auch abgesehen von seinem Spiel und die von Sarah Gadon verkörperte undurchschaubare Olivia in seiner ganzen erzählerischen Dichte und Schwermut nicht minder sehenswert. Alleine das Psychoduell zwischen dem Universitätsdirektor und dem aufbrausenden Marcus ist das Herzstück des Films – vielleicht auch des Buches – und wird zu einem verstörend fesselnden, analytischen Schlachtfeld von vernichtend manipulativer Polemik. Empörung ist großes Erzählkino, ernüchternd, leidenschaftlich und schmerzhaft.

Empörung