Paris schläft (1925)

DORNRÖSCHEN AN DER SEINE

7/10


Paris-schlaeft© 1923 Fondation Jérôme Seydoux-Pathé


ORIGINALTITEL: PARIS QUI DORT

LAND / JAHR: FRANKREICH 1925

DREHBUCH / REGIE: RENÉ CLAIR

CAST: HENRI ROLLAN, CHARLES MARTINELLI, LOUIS PRÉ FILS, ALBERT PRÉJEAN, MADELEINE RODRIGUE, MYLA SELLER, ANTOINE STACQUET, MARCEL VALLÉE U. A.

LÄNGE: 61 MIN.


Nimmt man Georges Méliès‘ Reise zum Mond aus dem Jahr 1902 her, dann lässt sich durchaus die Meinung vertreten, das Genre der Science-Fiction könnte das älteste in der Geschichte des Films sein. Wenn schon die Möglichkeit bestand, Dinge abzubilden, die es gar nicht gibt, um das Publikum dann einer Illusion auszusetzen, in welcher es das Gespür dafür bekommt, Welten wie diese könnten existieren, dann war das zu verlockend, um eben nur auf Reales zu setzen. Die Reise zum Mond: wenn schon nicht State of the Art umsetzbar, dann zumindest mit den Mitteln des Films. Die Lust am Phantastischen setzte sich mit Murnaus Nosferatu oder dem Golem munter fort, später begründete Fritz Lang mit Metropolis die dystopische Science-Fiction. Irgendwo dazwischen erblickte ein französisches Werk das Licht der Welt, welches vermutlich die wenigsten kennen – und dank des Spezialitätensenders arte erst kürzlich sein Heimkino fand. Die Rede ist von der romantischen Technik-Träumerei Paris schläft, entstanden 1925 und unter der Regie von Kultfilmer René Clair, der später Klassiker wie Unter den Dächern von Paris oder Es lebe die Freiheit inszenieren sollte, letzterer übrigens die Vorlage zu Charlie Chaplins Utopie Moderne Zeiten.

Mit dem Stummfilm Paris schläft nimmt der Virtuose, der bis in die Sechzigerjahre aktiv war, so manches Versatzstück späterer Genrewerke vorweg. Das Spiel mit der Zeit, das Stoppen dieser, das Aushebeln urbaner Infrastruktur und den Ausnahmezustand einer entvölkerten Metropole. Doch weder Untote streifen über die Champs Élysées, noch hat ein Virus alles Leben dahingerafft, noch ist die Menschheit von einem Moment auf den anderen durch einen atomaren Supergau spurlos verschwunden wie in der australischen Vision Quiet Earth – Das letzte Experiment von Geoff Murphy. In den Zwanzigern laufen solche Szenarien noch streichelweicher ab als rund hundert Jahre später. Will heißen: hier bremst eine höhere Macht die Bewohner von Paris lediglich in dem, was sie gerade vorhatten zu tun. Irgendwo in den Untiefen französischer Restaurants hätte ein Koch seinem Küchenjungen höchstwahrscheinlich eine schallende Ohrfeige verpassen wollen, bevor sich alles Leben einer Art Stasis unterwirft. Prinzessinnen, Rosen und Dornen gibt es zwar keine, doch der Fluch scheint ähnlich. Als eines Morgens das Wachpersonal des Eiffelturms, in diesem Fall der junge Albert, vergeblich auf die Ablösung wartet, wagt dieser sich in die Niederungen der Stadt hinunter, um festzustellen, dass die ganze Stadt im Schlummer liegt. Alsbald trifft er auf eine Gruppe Ausgeschlafener, die zum Zeitpunkt der merkwürdigen Katastrophe in einem Flugzeug saßen. So schlendert die aufgeweckte Gruppe durch Paris, nimmt sich, wonach ihr verlangt, macht sich so seinen Spaß mit dem auf Pause versetzten Volk und zieht sich dann aufs Pariser Wahrzeichen zurück, um dem Müßiggang zu frönen. Die aufkommende Langweile wird jäh unterbrochen, als die Tochter eines experimentierfreudigen Wissenschaftlers aufkreuzt, der die ganze Misere eigentlich verschuldet hat.

Dabei ist es witzig, zu beobachten, mit welchen einfachen, geradezu banalen Tricks René Clair hier gearbeitet hat. Im Grunde wechseln nur Bewegtbilder mit Standbildern, ansonsten versuchen die Komparsen, von denen es eine ganze Menge gibt, schön stillzuhalten. Und ja, es funktioniert, wenngleich die entvölkerten Straßenzüge gar nicht notwendig gewesen wären, da all die Passanten nicht verschwunden, sondern nur in ihrer auszuführenden Bewegung angehalten wurden. Insofern sollte man Clairs Film in Sachen Stringenz lieber nicht auf Herz und Nieren prüfen. Diese Gnade kann man Stummfilmen wie diesen, die ohnehin Pionierarbeit leisten, letztlich gewähren.

Das bisschen Endzeit-Feeling gerät zum gesellschaftsparodierenden, überhaupt nicht ernst zu nehmenden Lustspiel, darin eingewoben eine leichte satirische Romanze. Und eine technologische Zukunft, die in simplen Gerätschaften ihren Ausdruck findet. Natürlich ist das immens naiv, aber gerade diese arglose Verspieltheit, mit der Raum und Zeit wie ein Jo-Jo auf und abgerollt wird, lässt Paris schläft zu einer boulevardesken Utopie werden, die in der Chronik des Science-Fiction-Films ihren fixen Platz haben sollte.

Paris schläft (1925)