Tár (2022)

AUS DEM TAKT GERATEN

5/10


tar© 2022 Focus Features, LLC.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE / PRODUKTION: TODD FIELD

CAST: CATE BLANCHETT, NINA HOSS, NOÉMIE MERLANT, JULIAN GLOVER, MARK STRONG, SOPHIE KAUER, ALLAN CORDUNER, MILA BOGOJEVIC, ADAM GOPNIK U. A.

LÄNGE: 2 STD 38 MIN


Wann geht’s denn endlich los? Eine Frage, die sich nach einer gefühlten halben Stunde Podiumsdiskussion mit Cate Blanchett als Dirigentin Lydia Tár durchaus stellen lässt. Wir haben das nach Abspann aussehende Intro gesehen und folgen nun fachkundigen Fragen, die mit Sicherheit das musikaffine Publikum, insbesondere für Klassik, interessieren wird. Mahler hin, Mahler her, es fallen diverse Namen wie Claudio Abbado, Karajan, Bernstein und Furtwängler. Die Virtuosin zeigt sich gesprächsbereit und engagiert. Ist freundlich, aber bestimmt. Ein Star der Musikszene eben. Ganz oben am Zenit des Schaffens, inklusive Autobiographie und allen wichtigen Preisen, die man nur so abräumen kann – so jemand nennt sich EGOT. Tár ist ein Mensch, der sich dadurch definiert, für die Kunst zu leben und Teil der Kunst zu sein. Über eine halbe Existenz hinweg errichtet sie ihr eigenes strenges, prinzipientreues, fast schon dogmatisches Königreich. Genau so geht klassischer Ruhm.

Nach dem Abarbeiten von Társ künstlerischem Lebenslauf und Verweisen zu möglichen Vorbildern geht Todd Fields Beobachtung ihres Alltags weiter. Und langsam formt sich der Charakter einer selbstbewussten Größe, die ihrem streng durchgetakteten Terminkalender folgt, den ihre persönliche Assistentin Francesca (Noémie Merlant, grandios in Portrait einer jungen Frau in Flammen) schon im Schlaf herunterrasseln kann. Ohne Francesca wäre Tár selbstredend aufgeschmissen, doch im Idealfall soll sich ein Künstler nur auf seine Kunst konzentrieren. Vergessen darf er dabei nicht, auch sozial integer zu bleiben. Tár versucht es, was sich manchmal besser, manchmal schwieriger gestaltet. Es sind die Opfer, die eine Weltberühmtheit bringen muss – es ist der Fokus auf das Perfektionieren schwieriger Stücke vorzugsweise von Mahler oder Beethoven. Das Ensemble des Orchesters ist da nur Werkzeug. Ein liebgewonnenes Werkzeug. Und Tár tut, was sie kann. Vermeidet eklige Arroganz, vergisst manchmal, die ihr zu Diensten Stehenden entsprechend zu würdigen, hat nur das Ziel der Vollendung ihres Schaffens im Blick. Wer sich darauf einlässt, muss scheinbar wissen, wie so jemand tickt.

Und dann passiert das, was Promis manchmal passiert: Tár gerät in Misskredit. Zu Recht oder nicht, wen juckt das schon. Jedenfalls gerät ihre Welt aus den Fugen, nachdem Tár beschuldigt wird, mit dem Suizid einer ehemaligen Musikerin aus ihrem Mentoring-Programm Accordion Fellowships etwas zu tun zu haben. Sexuelle Ausbeutung? Machtmissbrauch? Alles nur Vermutungen, Andeutungen und vage What if-Konstrukte, denen sich Tár nun ausgesetzt sieht. Mit diesem Dilemma unterliegt bald auch ihre Wahrnehmung einer Verzerrung, die Wirklichkeit hat kaum mehr gute Erklärungen parat. Ihr soziales Umfeld zeigt ihr die kalte Schulter, Mentoren und Kollegen üben sich im Schuldspruch aufgrund eines Verdachts, der sich niemals erhärtet. Klar ist der Stern Társ daraufhin auf Sinkflug. Doch eine, die schon alles gehabt hat, muss sich nicht zwingend an einen Zustand klammern, der längst in einen Erfolgstrott verfallen ist.

Der für 6 Oscars nominierte Streifen und nach Little Children Todd Fields erste Regiearbeit nach 16 Jahren ist Arthouse-Kino, welches sich in seiner eigenen Themenwolke – nämlich in der Welt der Klassik und jener, die sie interpretieren – zu sehr bequem macht, um heraustreten zu wollen. Der Schritt in ein anderes Genre als das des Künstlerdramas ist zu zögerlich, um ihn letztendlich getan zu haben. Das Schauspiel von Cate Blanchett hätte es wohl nicht verändert, denn sie genügt sich und dem Publikum vollkommen. Es gelingt ihr, eine Figur mit Biografie zu erschaffen, und noch dazu eine, die man weder verurteilen noch anhimmeln kann – bewundern vielleicht schon, ob ihres Könnens und ihrer Tatkraft. Zu so einer Figur gehören Manierismen und Verhaltensweisen, die aber nichts Pathologisches an sich haben und später auch nicht haben werden. Nehmen wir mal Natalie Portman in Black Swan. Darren Aronofsky hat da viel energischer mit anderen Genres kokettiert, sein Ballettthriller wurde zum polanski’schen Horror, Portman zur Furie. Tár mag zwar auch manchmal austicken, doch richtig manisch wird sie nie. Insofern bleibt Todd mit seiner Halbgöttin im Hosenanzug auf dem Boden, schickt sie vielleicht manchmal durch entrische Gänge, die im Dunklen liegen, will sie aber letztendlich nirgendwo einordnen. Weder als Soziopathin noch als Opfer des Ruhms. Was zur Folge hat, dass bis auf Blanchetts Figur alle anderen Charaktere schemenhaft herumspuken. Genauso vage bleibt die mysteriöse Vergangenheit einer Dreiecksbeziehung und der Stein des Anstoßes, der Problemfall selbst, um welchen sich Társ Schicksal rankt. Reduziert auf Erwähnungen im Gespräch, die man leicht überhören kann, bleibt der Kern des Plots zu volatil, um jene Gewichtigkeit zu erlangen, die er hätte haben sollen. Tár als Film gefällt sich zu sehr in seiner Fachsimpelei und verlässt sich fast ausschließlich auf den Inhalt seiner Dialoge. Todd widersteht dem Versuch, Társ Charakter aus ihrer Reaktion auf die Umstände zu zeichnen, sondern formt sie bereits außerhalb der Geschichte, was dieser viel zu viel Zeit abringt. Das, was interessant ist, kommt als beiläufige Andeutung eines möglichen Skandals zu kurz. Obwohl überall hoch gelobt, empfinde ich Tár als ein Werk, das sich in seinen Prioritäten verpeilt.

Tár (2022)

She Said

DURCH DIE MAUER DES SCHWEIGENS

7/10


shesaid© 2022 Universal Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: MARIA SCHRADER

BUCH: REBECCA LENKIEWICZ

CAST: CAREY MULLIGAN, ZOE KAZAN, PATRICIA CLARKSON, ANDRE BRAUGHER, JENNIFER EHLE, SAMANTHA MORTON, ANGELA YEOH, MAREN HEARY, SEAN CULLEN, TOM PELPHREY U. A.

LÄNGE: 2 STD 9 MIN


Der Despot ist immer und überall, ganze zwei Stunden lang. Er durchdringt die Geschehnisse, die Schicksale und den Widerstand gegen Machtwillkür wie eine körperlose Entität – und dennoch haben wir ihn immer vor Augen, diesen beleibten, ekelhaften Riesen, der nur ein Wort zu sprechen braucht, schon würden alle nach seiner Pfeife tanzen. Bei so viel Macht liegt die Schuld auch bei denen, die diese Macht überhaupt erst zuließen. Wie bei jedem Tyrannen. Dieses Mal ist es Harvey Weinstein, ein zu 23 Jahren Haft verurteilter Frauenschänder, der nichts mehr genossen hat als seine Macht auf sexueller Ebene auszuspielen. Das so jemand Filme wie Pulp Fiction oder Shakespeare in Love ermöglicht hat, würde man am liebsten verdrängen. So wie Maria Schrader die physische Präsenz des Miramax-Imperators bis auf ganz wenige Szenen ausspart, weil es vollends genügt, einfach nur die Möglichkeit anzudeuten, einer wie er treibt überall sein Unwesen.

Dass sich durch den Verzicht des Abbildens diese Präsenz noch mehr verstärkt als durch schnöde Nachahmung, ist eines der Hattricks in diesem präzise ausformulierten Drehbuch von Rebecca Lenkiewicz, welches Maria Schrader genauso präzise in Szene setzt. Und wahrlich: Im Gegensatz zu ihrem letzten Film, den sehenswerten Androiden-Philosophikum Ich bin dein Mensch ist She Said ungleich komplexer – eine inszenatorische Abschlussprüfung, ein aus unzähligen Einzelteilen und ebenso vielen Gesichtern bestehendes Recherche-Puzzle, das sehr viel Fingerspitzengefühl erfordert, um keinen Faden zu verlieren oder in Erklärungsnotstand zu geraten. Schrader war sich ihrer Aufgabe bewusst – und steht in ihrer Sorgfalt Regiekollegen wie Alan J. Pakula (Die Unbestechlichen), Adam McKay oder Tom McCarthy (Spotlight) in nichts nach, wenn es heißt, die Chronik weltverändernder Geschehnisse aufregend genug auf die Leinwand zu bringen.

Der erste kluge Schachzug in der Inszenierung ist die Vorwegnahme eines Einzelschicksals in wortloser Klarheit und in wenigen Szenen: Wenn Laura Madden nach anfänglicher Euphorie, an einem Filmset zu arbeiten, in der nächsten Szene plötzlich verzweifelt weinend die Straße runterläuft, ihre Kleider unter dem Arm, dann sagt das alles: Hier passiert jede Menge Unrecht, und zwei New York Times-Journalistinnen, die sich auf investigative Recherchen verstehen, nehmen sich dieses Themas an. Erstmal geht es nur im Allgemeinen um sexuelle Belästigung in der Filmbranche, später dann wird es konkret: Besagter Harvey Weinstein dürfte einigen Dreck am Stecken haben, davon können nicht nur Promis wie Rose McGowan, Gwyneth Paltrow und Ashley Judd (Chapeau vor so viel Engagement – sie spielt sich nämlich selbst) ein Klagelied singen, sondern auch unzählige Assistentinnen, die als verstörtes Lustobjekt Weinsteins mit Geld und Verschwiegenheitsklauseln mundtot gemacht wurden. Dabei ist Weinstein vielleicht nur die Spitze des Eisberges, während gerade in dieser Branche Nötigung und Missbrauch scheinbar überall als Teil der Firmenpolitik gebilligt werden.

Wir wissen, wie es bislang ausgegangen ist. Wie es aber dazu kam, und mit welchem Eifer und welchem Teamgeist die New York Times – gedreht wurde an Originalschauplätzen wie tatsächlich in der Zeitungsredaktion – hier am Ball geblieben war, weiß zu faszinieren. Carey Mulligan und Zoe Kazan als das Ermittlerduo Jodi Kantor und Megan Twohey ordnen sich schauspielerisch dem großen Ganzen unter. Sie transportieren ihre Rollen mit genügend Persönlichkeit, aber nicht zu viel, um ihre eigene Biografie daraus zu machen. Dabei stechen speziell die kleinen Nebenrollen aus der Fülle an Namen hervor, wie Weinsteins Sprachrohr Lenny oder Samantha Morton als Zelda Perkins, die mit einem bewegenden Dialog die Zeit stillstehen lässt.

Die Zeit ist in diesem Film übrigens ein Trugschluss. Bei einer Länge von zwei Stunden mutet der Film viel länger an, was aber nicht zum Nachteil gereicht. Grund dafür ist die Fülle an Wendungen, Puzzleteilchen und Intermezzi, die diesen Journalismus-Thriller nie langweilig werden lassen, sondern am Köcheln halten. Dabei bleibt das Streben nach erzählerischer Klarheit stets vorrangig. Vielleicht verdrängt diese Methode mitunter die Emotionalität, will aber auch Menschen wie Kantor und Twohey ebenso danken wie dem Umstand, dass Frauen angesichts solch erlittener Schmach niemals mehr ihre Stimme verlieren müssen.

She Said

Elvis

DER KÖNIG KOMMT BIS VEGAS

7,5/10


elvis© 2021 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: BAZ LUHRMANN

CAST: AUSTIN BUTLER, TOM HANKS, HELEN THOMSON, RICHARD ROXBURGH, OLIVIA DEJONGE, LUKE BRACEY, DAVID WENHAM, KELVIN HARRISON JR., KODI SMIT-MCPHEE U. A.

LÄNGE: 2 STD 39 MIN


Der Zeitpunkt scheint gekommen, an dem alle Elvis-Imitatoren rund um den Globus ihre Fake-Koteletten abziehen und ihre Glockenhosenoutfits zusammenpacken können – denn jetzt gibt es einen, der schlägt sie alle. Da gibt es nichts mehr über ihm, außer Elvis selbst, doch der ist leider schon seit 45 Jahren tot, wobei er sein eigenes Alter bereits um 3 Jahre überschritten hat. Elvis ist also länger schon Geschichte, als er überhaupt gelebt hat. Das Gerücht, das Elvis noch lebt, könnte mit Baz Luhrmanns tiefer Verbeugung vor einem Musik- und Showgenie neue Nahrung erhalten.

Denn Austin Butler, bislang vorwiegend in Nebenrollen und in einzelnen Fernsehserien zu sehen, schenkt dem King of Rock ’n‘ Roll ein neues, doch vertrautes Antlitz – er macht ihn nicht nur insofern lebendig, weil er dem Mann aus Memphis, Tennessee, so verblüffend ähnlich sieht. Sondern weil er weiß, wie er geht, steht, sich bewegt und vor allem – wie er lächelt. Sein charmantes Kokettieren mit dem weiblichen Publikum hat nebst den markanten Hüftbewegungen, die später Michael Jackson uminterpretieren wird, die eigentliche Hysterie ausgelöst und eine fast schon beängstigende Fankultur begründet. Austin Butler bekommt das genauso hin – vereint mit Outfit, Frisur und den richtigen Rhythmen wird eine Ikone lebendig, die man maximal in stadthallenfüllenden Tributshows aus sicherer Entfernung bewundern konnte – mit Lookalikes, Evergreens und einer damit einhergehenden Reisebegleitung in die Jugendjahre der Elterngeneration.

In Elvis wird nämliche Person hautnah erlebbar und somit zu einem Erlebnis, das in seiner kultischen Verehrung sogar jene Performance, die Rami Malek als Freddy Mercury hingelegt hat, in den Schatten stellt. Natürlich, auch er hat den Preis für die Rückholung des Queen-Leaders verdient, wenngleich die optischen Anpassungen manchmal etwas überzeichnet wirken. Butler hingegen spielt Elvis so, als wäre er niemals jemand anderer gewesen. Er muss sich mit der Biografie dieses Mannes akribisch auseinandergesetzt haben. Und nicht nur er. Auch Baz Luhrmann, dem der Stoff sicher schon lange in den Fingern gejuckt haben muss, erweist sich als profunder Kenner eines Teils der modernen Musikgeschichte. Natürlich, wie von Luhrmann zu erwarten, errichtet dieser seinen sakralen Triptychon-Altar aus funkelnden Devotionalien, manchmal zu braver biographischer Chronik und dem Blick hinter dem Bühnenvorhang, wo Drogen, Intrigen und Panik herrschen. Luhrmann feiert dabei das Zeitkolorit der Nachkriegsdekaden bis ins kleinste Detail und liebt das Konterfei seines Stars, weil er selbst kaum glauben kann, wen er da gecastet hat. Andererseits aber nimmt dieser seine Aufgabe ernst genug, nicht nur eine Elvis-Tribute-Show zu liefern, sondern auch den Menschen und sein Umfeld ganz ohne Getöse zu analysieren.

Diese Dreifaltigkeit gereicht dem Film zum Erfolg. Denn es bleibt nicht nur beim routinierten Abbild der Lebensgeschichte einer Kultfigur. Das mächtige Mittelstück von Luhrmanns Altar ist der Versuch einer Reise in eine gebrochene, gegängelte und verschreckte Seele. In die finsteren Winkel des Showbiz, das den Goldesel so oft bemüht, bis dieser zusammenbricht. Die Gier ist hierbei der Hounddog, die Bereicherung anderer am zum Objekt verkommenen Rampensau erweckt Suspicious Minds. Diese verdächtigen zu Recht einen gewissen Colonel Parker – Elvis Mentor, Mutterersatz und Mädchen für alles. Sein Marketing-Genie, sein Manager. Einer, der mit freier Hand über den „King“ verfügen wird. Plötzlich wird die Bühne zum Thronsaal, und der Monarch zur Marionette, die nach der Pfeife des Kanzlers tanzt. Tom Hanks hat sich hierfür eine Latex-Wamme sowie Wampe anlegen lassen, die ein bisschen aufgesetzt wirkt und den guten Mann von Hollywood in seinen schauspielerischen Möglichkeiten bremst, da man stets darauf konzentriert ist, nicht Hanks selbst, sondern einen alten, geldgeilen „Felix Krull“ darin zu entdecken, der gar nicht ist, wer er zu sein scheint. Diesem Löwen hat sich Elvis zum Fraß vorgeworfen, nichtsahnend und darauf vertrauend, dass es andere gut meinen könnten.

In diesem Gefüge aus Macht und Missbrauch, erinnernd an Pinocchios Schicksal unter den Fängen von Kater und Fuchs, erscheint Elvis‘ Lebens- und Erfolgsgeschichte wie eine Passion, wie ein Lehr- und Mahnbeispiel über Ausbeutung und Manipulation talentierter Geister. Damit verknüpft, überzeugen Butler und Luhrmann auch damit, Elvis als einen ehrgeizigen, wenngleich auch naiven Perfektionisten darzustellen, der außer dem Besten sonst nichts geben will. Am Ende bleiben Wehmut und Mitgefühl für einen Pionier. Erscheinen Bilder vom echten Elvis, die von den inszenierten kaum mehr zu unterscheiden sind. Elvis Erfolgsgeschichte ist eine, die niemand jemals haben will. Und Vegas? Wird zum Vorhof der Hölle, aus dem es kein Entkommen gibt.

Elvis

Death Note

AUF DIE SCHWARZE LISTE

5,5/10


deathnote© 2017 Netflix


LAND / JAHR: USA 2017

REGIE: ADAM WINGARD

CAST: NAT WOLFF, KEITH STANFIELD, MARGARET QUALLEY, WILLEM DAFOE, SHEA WIGHAM, MASI OKA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Dem bleibenden Eindruck folgend, welchen Godzilla vs. Kong bei mir hinterlassen hatte, musste ich mal in Erfahrung bringen, was denn Regisseur Adam Wingard sonst noch so Filmisches fabriziert hat. Dabei stieß ich neben dem Found Footage-Sequel Blair Witch auf die finstere Manga-Verfilmung Death Note, die derzeit auf Netflix abrufbar ist. Eine, wie es scheint, pechschwarze Final Destination-Variante, die allerdings den einzigen Unterschied hat, dass nicht der Tod höchstpersönlich manch Auserwählten ins Gras beißen lässt, sondern ein ganz normaler Mensch. Eins sei dabei angemerkt: dieser ganz normale Mensch, in diesem Fall Schauspieler Nat Wolff, kommt auch nicht aus heiterem Himmel auf die Idee, vor lauter Langeweile andere Menschen sterben zu lassen. Klar wünscht man ab und an rein impulsiv unangenehme Gesellen zum Teufel, doch damit, dass diese schnell erdachten Stoßflüche Wirklichkeit werden, rechnet niemand.

Wirklich nicht? Die seltsame Gottheit namens Ryuk schon, ein metaphysisches Wesen mit joker´schem Dauergrinser und finsterer Igelmähne, schwarz wie die Nacht und mit Augen wie glühende Kohlestückchen. Erdacht wurde diese phänomenale Kreatur von den Künstlern Tsugumi Ohba und Takeshi Obata für ihren titelgebenden Shōnen, einer Art japanischen Comic für männliche Young Adults – die am meisten verbreitete Art künstlerischer Bildergeschichten in Ostasien. Ergänzt mit Willem Dafoes sonorem Organ entsteht so eine den wortkargen Sensenmann in den Schatten stellende Spukgestalt, die so nervig, verführerisch und gleichermaßen erschreckend ist, dass von ihr eine Faszination ausgeht, der sich nicht nur Nat Wollf kaum entziehen kann. Ryuk, obwohl ein Todesgott, erfüllt hier die Ansprüche eines literarisch volkstümelnden Teufels. So wie bei all den anderen Gleichnissen, die von Pakten mit dem Antichrist berichten, denen ein ambivalent zu betrachtender Eigennutz zugrunde liegt, der nicht selten mit den sieben Todsünden korreliert, hat auch Death Note einen moralischen Anspruch zu verlieren.

Diesem Jungen also, Light Turner, fällt buchstäblich ein alter Schinken in die Hände, halb voll gekritzelt mit unzähligen Namen und Todesursachen. Bald darauf erscheint dem völlig verstörten Turner der uns bereits bekannte, nach Äpfeln gierende Shinigami, der ihm alsbald über seine Macht aufklärt. Eine Woche lang ist Turner, wenn er will, Herr über Leben und Tod. Sobald er einen Namen, dessen zugehöriges Konterfei er kennen muss, ins Buch schreibt und dazu noch die Art und Weise, wie derjenige umkommen soll, hat der Tod freie Bahn. Klar, dass so viel Verantwortung einen Otto Normalverbraucher überfordert. Aus wütendem Gelegenheitskiller wird moralischer Ritter. Kann das lange gut gehen? Es wäre kein Fantasyhorror wie dieser, würde das Universum unter diesen Voraussetzungen nicht aus dem Lot geraten.

Aller Anfang ist zumindest mal beeindruckend: Man wähnt sich bereits in einem morbiden Märchen voller explizit dargestellter Blut- und Beuschel-Tode, im Hintergrund der hämisch gackernde Riesenkobold, der seinen Senf dazu gibt. Da es sich hierbei um die Verfilmung eines Mangas handelt, ist es mit einem geradlinigen Plot aber nicht getan. Die ermittelnden Behörden kommen dazu. Einer von ihnen: ein dem Zucker verfallener Hoodie-Träger, der nicht schlafen, eine diabolische Freundin, die ihrem Loverboy das Buch abspenstig machen will. Das alles verstrickt und vertrackt sich zu einem ausladenden und folglich konfusen Mindfuck, der über seine eigenen Regeln stolpert; der sich schwertut, den Blick auf das Wesentliche zu behalten. Das mit dem Buch letzten Endes viel mehr möglich ist, als es scheint, ermattet zusätzlich die Ambition, allen Details folgen zu wollen. Mangas sind generell enorm komplex. Verfilmungen selbiger hinken dabei gerade mal so hinterher. Jüngstes Beispiel: der chinesische Fantasyfilm Animal World rund um eine tödliche Schere-Stein-Papier-Challenge. Auch hier bleibt man stellenweise ratlos zurück. Bei Death Note bleibt nur Ryuk selbst seinen Modi treu, während all das Getöse um Leben und Sterben lassen recht viel an Dynamik verliert.

Death Note

Raum

AUF DER ANDEREN SEITE DER WAND

7,5/10 


raum© 2015 Film 4


LAND / JAHR: KANADA 2015

BUCH: EMMA DONOGHUE, NACH IHREM ROMAN

REGIE: LENNY ABRAHAMSON

CAST: JACOB TREMBLAY, BRIE LARSON, JOAN ALLEN, WILLIAM H. MACY, TOM MCCAMUS, SEAN BRIDGERS, CAS ANVAR U. A. 

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


Was gibt es nicht für menschliche Monster auf dieser Welt. Damit meine ich nicht mal Diktatoren und Kriegsherren, die das Schwarzbuch füllen, sondern der unscheinbare Otto Normalverbraucher, dessen Horizont maximal bis zur Befriedung des eigenen kaputten Egos reicht, und dessen Kindheit womöglich selbst ganz anderen unscheinbaren Otto Normalverbrauchern zum Opfer gefallen sein könnte. Jene, die sonst, wohin sie auch blicken, nur ihr eigenes Unvermögen erkennen, halten sich zwecks Kompensation dieses Umstands rechtlose Leibeigene, die in Isolation Wochen, Monate und Jahre damit zubringen, nicht gänzlich zu zerbrechen. Ich kann mich noch genau an das erste Fernsehinterview von Natascha Kampusch erinnern, die nach 3096 Tage in Gefangenschaft unter der Herrschaft eines gewissen Priklopil von ihrer geraubten Kindheit erzählt hat. Den ruinierten Seelen unter Peiniger Fritzl blieb so eine Medienkonvertierung erspart. Was Buchautoren aber, inspiriert durch diese skandalösen Zustände, nicht davon abgehalten hat, ähnliche Szenarien zu entwerfen. Zum Beispiel die Kanadierin Emma Donoghue. Ihre Vorlage Raum aus 2010 wurde zum Bestseller. Solche Inhalte stillen die Neugier am Schrecklichen, am geradezu Undenkbaren. So tickt die Psyche so mancher Leser und Seher nun mal – der Impact des Leidens anderer stillt die Furcht und relativiert die eigene Ohnmacht, die dann nicht mehr ganz so farbintensiv im Alltag verweilt.

Der irische Filmemacher Lenny Abrahamson, der vor seinem Durchbruch mit Raum Michael Fassbinders Konterfei im Künstlerdrama Frank hinter Fiberglas versteckt hat, wendet sich allerdings weitgehend davon ab, peinlich berührten Voyeurismus zu bedienen. Donoghues Drehbuch fokussiert von Anfang an jene Figur, aus dessen Sicht diese ganze Geschichte erzählt wird. Es ist nicht Brie Larson als die 7 Jahre in Gefangenschaft dahindämmernde Joy – sondern es ist der kleine, in ebensolche Isolation hineingeborene Jack, sagenhaft gut verkörpert von Jacob Tremblay, und der eigentlich den ganzen Film so ziemlich im Alleingang trägt, da kann selbst sein oscarprämierter Co-Star nicht viel ausrichten, obwohl auch Larson natürlich zeigt, was in ihr steckt. Bei Kinderdarstellern verblüfft so ein Umstand aber immer mehr: das war auch schon im österreichischen, äußerst sehenswerten Film Die beste aller Welten so, in der Jeremy Miliker den mimischen Realismus neu definiert zu haben schien. Tremblay macht das genauso. Und das Beste an Raum: Donoghue und Abrahamson geht es nicht in erster Linie, und auch nicht in zweiter Linie, um die Chronik eines Martyriums, dessen Ende und dessen Nachwehen, die sowieso nur halbherzig erörtert werden. Die Wahrnehmung der Welt und ihrer inhärenten Freiheiten ist das, was Raum so interessant macht. Nicht das Täter-Opfer-Gefüge. Sondern – wenn man so will – die Relativierung einer Realität mit all ihren Parametern zu einer nächsten, viel größeren. Eine Art Erleuchtung sozusagen. Und das einem Fünfjährigen!

Der Mensch bleibt angesichts seines nach oben hin offenen Erkenntnispools sowieso immer ein Kind. Zu entdecken gibt´s immer noch etwas. Tremblays Charakter des Jack ist wie die Art Höhlenbewohner aus Platons Gleichnis, der die Schattenbilder in seinem Raum wahrnimmt, sie als die alles umfassende Freiheit, als seinen Kosmos empfindet. Demzufolge scheint ihm nichts zu fehlen. Die Definition der Geborgenheit scheint anfangs auch in diesen kargen vier Wänden zu funktionieren. Was fehlt, ist das Wissen jenseits der Wände. Das Wissen über den Ursprung der Schatten, um bei Platon zu bleiben. Die Entdeckung dieses Neulands ist die zu bewältigende Aufgabe dieses Dramas, und Tremblay mittendrin. Larsons Rolle der Mutter ist da nur ein Leo, ein Fixpunkt, das Mutterschiff sozusagen.

Zum Glück holt dieser Film mehr als eine Handvoll dieser Gedanken an die narrative Oberfläche. Auch gelingt Raum, niemals seinem inhaltlichen Skandal zum Opfer zu fallen, indem er diesen Umstand geradezu als unkommentierte und fast wertfreie Gegebenheit hinnimmt. Raum ist überraschend objektiv, trotz all seiner Emotionen, die da hochkochen und überkochen. Trotz all dieser beruhigenden Melodien, die den grauenhaften Zustand so mancher panikmachenden Aussichtslosigkeit überspielen sollen. Tremblay bleibt aber über allen Dingen – als kindlicher Superheld, als ein Entdecker, der Übermenschliches leistet, um all die Ohnmacht umzukehren.

Raum

Warten auf die Barbaren

HARTE KONTRASTE IM WÜSTENSAND

4,5/10


barbaren© 2019 Constantin Film Verleih


LAND: USA, ITALIEN 2019

REGIE: CIRO GUERRA

CAST: MARK RYLANCE, JOHNNY DEPP, ROBERT PATTINSON, GRETA SCACCHI, HARRY MELLING, GANA BAYARSAIKHAN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Irgendwo im Nirgendwo: eine Festung der Fremdenlegion, thronend wie eine Kreuzritterburg über wüstenhaftem Ödland. Wo genau und wann genau diese Geschichte spielt, bleibt unklar. Womöglich handelt es sich um einen Grenzposten irgendwo in Asien, zumindest das wird bald konkreter, nachdem die sogenannten Barbaren einzeln verortet werden. Und die sind eine Gefahr für das ebenfalls nicht näher genannte Imperium, das aber auf britisch macht, sich Land und Volk mit harter Hand unterwirft und aus einer inneren Unruhe heraus all die Fremden, die das Grenzenziehen der Kolonialherren längst nicht gutheißen, bekämpfen und vernichten wollen. Mittendrin in dieser Kreuzritterburg: der sogenannte Magistrat, der ganz gut mit den Einheimischen zurechtkommt und der wenig erfreut darüber ist, als sein Rayon von einem eiskalten Colonel unter dessen Fittiche genommen wird. Die Methoden des militärisch zugestutzten Dämons stoßen dem Magistraten für alle ersichtlich sauer auf, obwohl er sich im Angesicht der brutalen Exekutive mit seinen humanistischen Anwandlungen noch weniger Freunde macht, als er ohnehin schon hatte.

Der kolumbianische Regisseur Ciro Guerra hat in seiner bisherigen, noch relativ kurzen filmischen Laufbahn zwei beachtliche Filme geschaffen. Zum einen den in Schwarzweiß gehaltenen, durchaus auch streng komponierten Dschungelstreifen Der Schamane und die Schlange, zum anderen – in Co-Regie mit Cristina Gallego – die Anfänge des kolumbianischen Drogenhandels unter dem Titel Birds of Passage. In Warten auf die Barbaren, der Verfilmung eines Romans von J. M. Coetzee, merkt man sofort, dass die Thematik des Filmes vorrangig nicht die ist, die Guerra zumindest geographisch mit seiner eigenen Heimat verbindet. Auch emotional sprühen hier keine Funken. Dieses Warten auf die Barbaren wird zum Warten für alle Anwesenden und womöglich auch am Film Beteiligten, denn Guerra, der weiß nicht so recht, wie er dieses teils abstrakte, mit groben Scherenschnittcharakteren besetzte Sinnspiel auf reibungslose Weise voranbringen soll. Der Film kauert gut die Hälfte seines Films in harrender Hocke, die Sonne brennt vom Himmel, die Mattigkeit der Umgebung sickert in den Durchschuss seiner Drehbuchzeilen. Überall dieser ganze Sand, vielleicht bringt der das Getriebe zum Stocken, jedenfalls entsteht in diesem plakativen Schwarzweißbild in Farbe eine enorm simple Welt, die aus den Guten und den Bösen besteht. Der Kontrast ist hart, schwer verdaulich auch die Methoden der Imperialisten, um die heillos unterlegenen Barbaren zu quälen.

Mark Rylance als Mann des Gewissens, als Höriger seiner eigenen Wertordnung und Opfer seiner Prinzipien, ist ein Don Quichote in einem Land voller Windmühlen, eine clowneske, tragische Gestalt, die man sonst in den Theaterstücken eines Max Frisch wiederfindet. Um ihn herum die flachen Pappkameraden der Unterjochung – Johnny Depp mit Sonnenbrille und steinharter Mine, eine Figur ohne Tiefe und Charakter, ein Jedermann, eine Projektion, stellvertretend für irgendetwas dahinter. Genauso geht es Robert Pattinson. Eine kleine Rolle zwar, doch genauso starr und emotional verkümmert wie alle anderen um Mark Rylance herum. Im Alleingang kann dieser das filmische Gleichnis nicht stemmen, zu viel hängt von seinem Tun fast die gesamte Laufzeit des Films ab. Daher bricht sich lähmendes Verharren Bahn, weil alles darauf wartet, was Rylance als nächstes tut. Das wird träge und dösend, eingeteilt in vier Jahreszeiten. Man hat das Gefühl, man erlebt sie in Echtzeit. Bis Rylances große Stunde schlägt, und die Konzentration auf seine Figur Legitimität erfährt.

Wenn es denn so einfach wäre, die Welt in all diese Schubladen einzuteilen, wie sie Ciro Guerra hier visualisiert, in einem scheinbaren Abenteuer, das schon unter Erschöpfung leidet alleine aufgrund des Betrachtens seiner eigenen Agenda, wäre die Welt vielleichte eine bessere. Coetzees Roman mag die akkurate Machtordnung mit dem geschriebenen Wort wohl überlegter interpretiert haben als in diesem Fall das Medium Film.

Warten auf die Barbaren

The Assistant

MÄDCHEN FÜR ALLES

5/10


theassistant© 2020 Forensic Films


LAND: USA 2020

REGIE: KITTY GREEN

CAST: JULIA GARNER, MATTHEW MACFADYEN, NOAH ROBBINS, KRISTINE FRØSET, DAGMARA DOMINCZYK U. A. 

LÄNGE: 2 STD 27 MIN


Ein ganz normaler Tag im Büro. Möchte man meinen. Zumindest meint man das fast den ganzen Film lang, welcher sich The Assistant nennt und in dem es natürlich um eine Assistentin – oder Sekretärin oder generische Bürokraft geht, deren Tagesablauf Regisseurin Kitty Green penibel verfolgt. Green scheint zu hospitieren, gleicht einer Schülerin, die Arbeitsluft schnuppert. Den Tippenden und Kopierenden und Kaffeemachenden über die Schulter blickt. Und jedesmal, wenn das Personal spontan den gewählten Platz verlässt, erschrocken zurückfährt, um nicht im Weg zu stehen. Sobald es keiner mehr merkt, rückt die Schülerin wieder näher. Schielt um die Ecke, äugt verstohlen ins Chefbüro. Bekommt den Oberboss aber nie zu Gesicht.

Stimmt – der Firmenfürst stolziert kein einziges Mal durchs Bild. Er ist die große Unbekannte, der Kastellan auf Franz Kafkas Schloss, eine metaphysische, gesichtslose Figur des Schreckens und der uneingeschränkten Macht, die mit Zuckerbrot und Peitsche ihren buckelnden Untertanen noch das letzte Bisschen an Selbstachtung nimmt. Warum sich Menschen so etwas antun, nur um irgendwann groß rauszukommen, ist mir schleierhaft. Ein Karrieremensch müsste ich sein, dann würde ich das vielleicht verstehen. Bin ich aber nicht. Und damit hat mein Mitlgefühl ob des öden Jobs von Assistentin Jane (Julia Garner) natürlich seine Grenzen. Jane ist Mädchen für Alles, kommt als erste, geht als letzte, dazwischen widerfährt ihr soziale Kälte, Diskriminierung und Unhöflichkeit. Kein Bitte, kein Danke, kein Lächeln. Diese Filmfirma ist die Antithese von Teamgeist. Ein Ort, der frösteln lässt. Und von welchem ich so schnell wie möglich würde fort wollen. Jane macht das nicht, sie lässt sich erniedrigen und ausnutzen. Aber auch das hat scheinber seine Grenzen, denn als sie merkt, dass der Boss junge Frauen zum intimen Gespräch nicht nur ins Hotelzimmer bestellt, sondern auch nach Büroschluss sexuell belästigt, fasst sie ihren Mut zusammen und wendet sich an die firmeninterne Personalstelle.

Kitty Green lässt sich, wie gesagt, wahnsinnig viel Zeit, um überhaupt eine Geschichte ins Rollen zu bringen. Irgendwann ist man dann froh, dass Green zumindest auf irgend etwas hinauswill, egal was, nur weg von der Sondierung eines Umstands hin zu einer Art Handlung. Doch viel mehr als die No Comment-Analyse eines triesten Bürotages mit auffallend wenig Dialogzeilen wird The Assistant dann trotzdem nicht. Dort, wo thematisch ähnlich gelagerte Filme wie Bombshell erst anfangen, hört dieser Film auch schon wieder auf.

The Assistant

Leviathan

HIOB LÄSST SICH GEHEN

6/10

 

Leviathan© 2015 Wild Bunch Germany

 

LAND: RUSSLAND 2014

REGIE: ANDREY ZVYAGINTSEV

CAST: ALEKSEY SEREBRYAKOV, ELENA LYADOVA, VLADIMIR VDOVICHENKOV, ROMAN MADYANOV, ANNE OUKOLOVA U. A.

LÄNGE: 2 STD 21 MIN

 

Du bist der Fels, auf dem ich meine Kirche baue. Das soll damals, wenn man den Überlieferungen glaubt, Jesus zu Petrus gesagt haben. Petrus hat diese Bürde dankend angenommen. Anderen gefällt dieses Gleichnis weniger. Zum Beispiel Kolia, dem Vater eines Sohnes und Erbe eines stattlichen Holzhauses an der Küste der Barentssee. Ein herrliches Fleckchen Erde mit Rundblick bis hinaus auf den fernen Horizont, umgeben von Felsen und Wellen, hinter einer Brücke geht die Kleinstadt erst weiter. Das Häuschen selbst bietet angenehm rustikalen Komfort, hat große Fenster – moderner Landstil, wenn man so will. Da lässt sichs leben. Das weiß auch der Bürgermeister der Gemeinde, und das weiß auch die russisch-orthodoxe Kirche, die dort, an diesem exponierten Plätzchen, eine Kirche bauen will. Der richtige Fels also. Nur blöd, dass Kolia dort lebt. Der Bürgermeister wird’s hoffentlich richten, oder? Damit es den Mächtigen schmeckt. Fällt sicher was für den feisten Herren etwas ab. Kolia muss also seinen Besitz veräußern, ob er will oder nicht. Doch der hat zufällig einen Freund in Moskau, der Anwalt ist. Mit ihm zieht er vor Gericht, bringt ans Licht, was der Machtmensch des Ortes sonst noch für Dreck am Stecken hat. Doch der liebe Gott meint es nicht gut mit Kolia, der den dem Wodka zugeneigten Mechaniker so dermaßen auf die Probe stellt, dass man als Mensch eigentlich nur verlieren kann. Wenn man nicht ein Machtmonster wie der Bürgermeister ist.

Leviathan, das ist doch ein Seeungeheuer aus der christlich-jüdischen Mythologie? In einer Szene des Films zitiert ein Geistlicher im Gespräch mit Kolia aus dem Buch Hiob, um klarzumachen, dass sich ein Kampf mit dem Monster bei Weitem nicht lohnt. Das Monster, das sind die Mächtigen, ein ungreifbares und unangreifbares Ungetüm, bestückt mit zahlreichen Gliedmaßen, fast schon einer Hydra gleich. Bezwingen lässt sich das nicht. Der kleine Mann kann hierbei nur verlieren, es sei denn, er findet Halt im Glauben. Doch letzten Endes ist es die Institution des Glaubens, die den armen Trinker verrät – und ihm alles nimmt. Erbauliches Kino ist das keines, viel eher bitterer Filmrealismus, in welcher sich das Tragische zuspitzt wie sonst nur in klassischen Tragödien. Jim Sheridans themenverwandtes Enteignungsdrama Das Feld ist von ähnlich epischer Tragweite, auch Das Haus aus Sand und Nebel mit Ben Kingsley und Jennifer Connelly kennt die destruktive Dynamik von Existenzverlust und freiem sozialem Fall.

Der Wodka, der fließt dabei in Strömen und feiert den heulenden Niedergang. Wenn die monströsen Zähne der Baggerschaufel in die häusliche Geborgenheit der heiligen vier Wände einschlagen und diese niederreißen, dann sind das die schmerzlichsten, wie auch stärksten Szenen des Films. Andrey Zvyagintsev entzieht der Kirche und den Mitmenschen das Vertrauen. Der Politik sowieso. Nur der Glaube könnte ihn noch retten, doch anders als bei Hiob ist dieser bei Kolia nur peripher bis gar nichtvorhanden. Der einzige Freund, der noch bleibt, das ist der Kartoffelschnaps. Worauf also will Zyvagintsev hinaus? Was für mich übrig bleibt, ist ein Klagelied auf alles Mögliche (sogar auf den Alkohol), was, so lässt es sich vermuten, in Russland im Argen liegt. Wie kann es anders sein, in einem Land, in dem die Mächtigen gefühlt auf ewig mächtig bleiben wollen? Das ganze Land scheint wie ein diffuser Leviathan zu sein, so zumindest illustriert es dieser Film, dessen prädestinierter Abwärtstrend nicht aufwühlt, aber in seltsam phlegmatischer Resignation zurücklässt.

Leviathan