Maria Montessori (2023)

DAS KIND BEIM NAMEN NENNEN

6/10


montessori© 2024 Filmladen Filmverleih


ORIGINALTITEL: LA NOUVELLE FEMME

LAND / JAHR: FRANKREICH, ITALIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: LÉA TODOROV

CAST: JASMINE TRINCA, LEÏLA BEKHTI, RAFFAELLE SONNEVILLE-CABY, RAFFAELE ESPOSITO, LAURA BORELLI, NANCY HUSTON, AGATHE BONITZER, SÉBASTIEN POUDEROUX U. A.

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Die Frau von morgen, angelehnt an den Originaltitel, wäre wohl treffender gewesen für einen Film, der die Mutter der modernen Pädagogik in den Mittelpunkt stellt. Stattdessen nennt der deutschsprachige Verleih das Kind gleich beim Namen: Maria Montessori. Ihren Leitsatz kennen gefühlt wohl alle Elternteile dieser Welt: Hilf mir, es selbst zu tun. In diesem Zitat steckt schon der ganze Mechanismus, das ganze Herzstück einer Methode des ehrgeizigen Selbsterlernens. Sie wird zum Abenteuer Entwicklung, bestehend aus kleinen Erfolgserlebnissen, die sehr viel mit kognitiver Wahrnehmung und sensorischer Integrationsfähigkeit zu tun haben. Mit Maria Montessori gehen aber auch jene Assoziationen einher, die mit einer gewissen militanten Missionspädagogik zu tun haben – mit einer Richtung, die alles Profane oder gar Kommerzielle vehement ausschließt und deren Verfechter wie Jesusjünger ein Dogma vertreten, das in seinem Purismus einer spaßbefreiten Konfession dient, die sich für besser hält als all die anderen, die ihren Kindern Barbie, Lego oder Transformers-Figuren schenken.

In Wahrheit aber ist dieser pädagogische Extremismus, der eine ganze Ideenwelt in Mitleidenschaft zieht, nur eine am Rande auftretende Unannehmlichkeit. Maria Montessori hat mit ihrer Sicht auf das formbare und entwicklungsdurstige Kind ganze Arbeit geleistet. In Léa Todorovs Film steht aber nicht ihr Werdegang vom Kindbett bis zur Beisetzung im Mittelpunkt, sondern, und das ist bei Filmbiographien immer ein willkommenes System, um Langeweile und der ausufernden Monotonie eines wahrheitsgetreuen Nachrufs zu entgehen, jener Wendepunkt in Maria Montessoris Leben, der wohl entscheidend dafür gewesen sein mag, dass sich der Name der italienischen Ärztin in aller Welt als beliebte erzieherische Richtung etablieren wird.

Zu tun hat dieser Entschluss, sich endgültig dem System Familie zu entsagen und ins lehrkundige Gefecht zu stürzen, mit Montessoris eigenem Filius, einem kleinen Jungen namens Mario. Der hat das Pech, nicht die Frucht einer beschlossenen Ehe zu sein, was damals, um die Jahrhundertwende, wohl bedeutet hat, zum „Baby non grata“ zu werden. Weder kann Montessori (Jasmine Trinca, Das Zimmer meines Sohnes) ihr Kind zu sich nehmen, weil die Eltern es verbieten, noch kann sich der leibliche Vater Guiseppe Montesano mit dem Knaben in der Gesellschaft blicken lassen. Eine Last, die Montessori mit sich herumschleppen muss. Doch es ist nicht sie allein, die mit dem Nachwuchs so ihre auferlegten Probleme hat. Zur selben Zeit lagert Lili d’Alengy (Leïla Bekhti), eine französische Varietekünstlerin, ihre eigene bislang verschmähte, weil geistig beeinträchtigte Tochter Tina in Montessoris Bildungseinrichtung aus, mit der Hoffnung, sie endgültig loszuwerden. So stehen sich zwei Frauen gegenüber – die eine, die ihr Kind gerne bei sich haben möchte, es aber nicht kann. Die andere, die ihr Kind bei sich haben könnte, es aber nicht will. Im Laufe der Handlung kommen sich beide näher, ihre Schicksale verbinden sich, Prioritäten und Prinzipien werden hinterfragt und über Bord geworfen. Die Stellung der Frau im sozialen Gefüge ist dabei nicht nur ein gern miteinbezogenes Attribut, sondern verdrängt gar die vom Publikum erwarteten Auseinandersetzungen mit der pädagogischen Materie.

Léa Todorov schafft hier ein durchaus kompaktes, auf wahren Begebenheiten beruhendes, geschmackvolles Melodram mit vor allem beeindruckenden Leistungen der hier gecasteten und offensichtlich tatsächlich gehandicapten jungen Menschen, die mit einem Selbstverständnis und einer Natürlichkeit einen Film bereichern, der sehr dazu neigt, sich einer erzählerischen Historienromantik hinzugeben. Diese dem Medium des Volkskinos geschuldete Vereinfachung von Moral und Integrität und dem ethischen Willen, das richtige zu tun, mag die tatsächlichen Ereignisse idealisieren. Wir wissen längst: Wissenschaft und Privatleben mögen sich gerne ausschließen, denn was tun Koryphäen nicht alles dafür, ihr geistiges Gut zu hegen und zu pflegen. Opfer werden auch in Maria Montessori gebracht, doch der Beweggrund schmeichelt.

Aufschlussreich und kompakt inszeniert ist das französisch-italienische Geschichtsdrama aber auf alle Fälle. Und auch wenn hier die gewisse Zündung fehlt, diese Lust an der kritischen Betrachtung, bleibt doch eine gewisse Atmosphäre zurück, die auf gefälligem und oft konventionellem Wege ein Gefühl dafür vermittelt, wie es gewesen sein könnte, als sich die Pädagogik und mit ihr einhergehend die Stellung der Frau neu definiert hat. Montessori war so gesehen Avantgarde. Der Film selbst ist es nicht.

Maria Montessori (2023)

Lohn der Angst (2024)

LASTERHAFTE WÜSTENSAFARI

1,5/10


lohnderangst2© 2024 Netflix Inc.


ORIGINALTITEL: LE SALAIRE DE LA PEUR

LAND / JAHR: FRANKREICH 2024

REGIE: JULIEN LECLERCQ

DREHBUCH: HAMID HLIOUA, NACH DEN SKRIPT VON GEORGES ANAUD

CAST: FRANCK GASTAMBIDE, ALBAN LENOIR, ANA GIRARDOT, SOFIANE ZERMANI, BAKARY DIOMBERA, ASTRID WHETTNALL, ALKA MATEWA, SARAH AFCHAIN U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Lohn der Angst könnte man angesichts dieser filmischen Arbeit auch ganz anders interpretieren: Lohnt es sich denn, trotz Furcht vor einer bereits in den ersten Filmminuten auf Verdacht prognostizierten Niete weiter dranzubleiben? Ähnliches denke ich mir, als Julien Leclercqs Verwurstung eines fast schon selbstfahrenden Action-Plots, weil so absurd und radikal, über den Flachbildschirm flimmert. Zu sehen sind knochenharte Französinnen und Franzosen, die Nerven wie Stahlseile besitzen und, verfolgt von hasserfüllten Abziehbild-Terroristen, wie man sie in Wüstengegenden Nordafrikas oder dem Nahen Osten eben anzutreffen glaubt, um ihr Leben brettern, das ihnen selbst wohl wenig wert zu sein scheint, da sie so tun, als wären sie Dolph Lundgren, Jean-Claude van Damme oder Arnold Schwarzenegger. Als wären sie Sly Stallone mit seiner Entourage an Söldnern aus der Expendables-Reihe, die nichts zu fürchten brauchen, außer, dass ihnen vielleicht der Himmel auf den Kopf fallen könnte, wären sie denn gläubig.

Wie mit Charakteren mitfiebern, die selbst nicht fiebern, und dass trotz eines ihnen auferlegten Himmelfahrtskommandos? Mal sehen, was aus ihnen wird, im Laufe der Handlung. B-Film-Schauspieler Franck Gastambide gibt einen Möchtegern-Jason Statham, dem, so wird behauptet, viel daran liegt, die Familie seines Bruders und auch den Bruder selbst in Sicherheit zu bringen. Letzterer, Sprengstoffexperte außer Dienst, sitzt wegen der Geldgier des anderen im Knast. Für einen Spezialauftrag winkt dem zum Handkuss gekommenen Bruder völlige Straffreiheit plus das nötige Kleingeld, um woanders neu anzufangen. Natürlich, als stoische harte Socken, wie sie alle sind, und die nichts und niemand mehr erschüttern kann, machen alle mit. Auch Ana Girardot (nicht verwandt mit Annie Girardot) als die Verkörperung weiblicher Härte mit Lust auf Entspannungssex ohne Bedeutung, die gleich zu Beginn des Films mal zeigt, wie der Hase rammelt, ist mit von der Partie. Sie müssen – das wissen wir aus Henri Clouzots Klassiker und William Friedkins Remake aus den Siebzigern – kiloweise Nitroglyzerin über unwegsames Gelände rund 800 Kilometer an ihren Zielort bringen, um eine brennende Ölquelle zum Versiegen zu bringen, die, würde sie weiter lodern, ein ganzes von Flüchtlingen besiedeltes Areal in den Untergang reißen wird. Sie haben dafür zwanzig Stunden Zeit, und die bösen Terroristen sitzen ihnen im Nacken, die gleichzeitig auch die Exekutive eines x-beliebigen Klischee-Militärstaates verkörpern.

Als ob die Eindämmung der Katastrophe nicht auch im Interesse der Schurken wäre, doch solcherlei zu hinterfragen, davor hütet sich Leclercq genauso wie vor dem menschlichen Drama, welches der eigentliche Katalysator, der feurige Antrieb für einen Actionthriller wie diesen sein sollte. Lohn der Angst führt sich selbst ad absurdum, weil es all die Laufzeit lang darauf verzichtet, seine Helden Angst empfinden zu lassen. Abgesehen davon, dass das schauspielerische Engagement gerade mal für einen soliden B-Movie-Reißer reicht, dessen Macher nur wollen, dass innerhalb des prognostizierten Zeitfensters alles im Kasten ist, was im Kasten sein muss, um keine Unkosten zu haben, ist das Trio viel zu abgebrüht und hartgesotten, um auch nur eine Sekunde lang nicht imstande zu sein, diese hochexplosiven Flüssigkeiten auch im Knight Rider-Boost völlig problemlos an ihren Zielort zu bringen. Die Steine, die Leclercq ihnen in den Weg streut, sind lediglich Kieselsteine, die vielleicht im Schuh drücken – mehr nicht. Wie wenig man die Spannungsschraube anziehen, wie lustlos die Fahrt über holpriges Gelände gestaltet werden kann, auf welchem es nicht mal eine Hängebrücke gibt, die in Friedkins Version ein szenisches Highlight darstellt, zeigt dieser Fehlversuch einer Neuinterpretierung, deren Gefahrenguttransport sich so packend gestaltet, als wäre man auf einer frisch asphaltierten Autobahn unterwegs, und nur die statistische Wahrscheinlichkeit eines Auffahrunfalls verursacht die notwendigen Schweißperlen auf der Stirn.

Lohn der Angst (2024)

Die Gewerkschafterin (2022)

AUS MANGEL AN BEWEISEN

4,5/10


gewerkschafterin© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, DEUTSCHLAND 2022

REGIE: JEAN-PAUL SALOMÉ

DREHBUCH: FADETTE DROUARD, JEAN-PAUL SALOMÉ

CAST: ISABELLE HUPPERT, GRÉGORY GADEBOIS, YVAN ATTAL, FRANÇOIS-XAVIER DEMAISON, PIERRE DELADONCHAMPS, ALEXANDRA MARIA LARA, GILLES COHEN, MARINA FOÏS U. A.

LÄNGE: 2 STD 2 MIN


Arbeitnehmer auf der ganzen Welt, vereinigt euch! Im Schulterschluss antretend, könnten jene, die schon längst nicht mehr glauben, sich Arbeitgebern als bezahlte Sklaven unterwerfen zu müssen, als wären ihre Verdienste lediglich Almosen, die aus der ach so gütigen Chefetage herabregnen, ganze Konzerne zu Fall bringen. Denn was sind diese schon, bleibt das Werkel nicht am Laufen? Gar nichts. Wo nicht gearbeitet wird, wird auch nichts produziert. Wer nichts produziert, schaut bald durch die Finger. Um zumindest pro Betrieb die Interessen und die Würde der Arbeitnehmer zu gewährleisten, gibt es Gewerkschaften. Und dort wiederum gewissenhafte Vorreiterinnen und Vorreiter, die die Fahne hissen und als Vertretung der anschaffenden Entourage recht unverblümt das Wilde runterräumen.

Die in Frankreich lebende Maureen Kearney, dargestellt von einer erblondeten und irritierend jugendlichen Isabelle Huppert, ist so jemand. Sie zeigt keinerlei Furcht vor der Obrigkeit, crasht schon mal gerne manches Meeting und steckt ihre Nase dort hinein, wo diese eigentlich nichts zu suchen hat. So zumindest sieht das der Atomenergie-Konzern Areva, der im Geheimen Absprachen mit den Chinesen hält, die drauf und dran sind, zumindest zur Hälfte erstmal Frankreichs und dann Europas Nukleartechnik zu kapern. Was das für die Belegschaft bedeutet? Gar nichts Gutes. Um die 50.000 Jobs sind in Gefahr, und so will Maureen den skandalösen Deal an die große Glocke hängen. Was denen ganz oben überhaupt nicht gefällt. Und diese dann zu mafiösen Mitteln greifen, um die Gewerkschafterin einzuschüchtern und zu diskreditieren.

Wie machtlos man einem Giganten wie Areva gegenüberstehen kann, lässt sich anhand dieses im Grunde erschütternden Tatsachendramas eigentlich nur erahnen. Ähnliches hat schon Whistleblower Russel Crowe in Michael Manns The Insider, in dem das Tschick-Imperium zurückschlägt und unrechtmäßige Faxen macht, an eigenem Leib erfahren müssen. In Jean-Pierre Salomés Streifen ist man geradezu versucht, wieder etwas mehr an Weltverschwörungen zu glauben. Doch trotzdem Die Gewerkschafterin ordentlich Stoff bereithält, der mehrere Ebenen abdeckt und tief in die Privatsphäre der von Isabelle Huppert dargestellten Kämpfernatur eindringt – so richtig zu überzeugen oder gar zu fesseln weiß der Film nicht. Das hat unterschiedliche Gründe.

Zum einen Isabelle Huppert. Ihr schauspielerischer Pragmatismus oder anders formuliert: ihr sich selbst genügendes Statusbewusstsein als Grande Dame ist kaum zu überbieten. Was zur Folge hat, dass sie zwar an ihrem Engagement teilnimmt, doch zeitweise so teilnahmslos agiert, als gäbe sie Schauspielunterricht. Weder zeigt sie den Umständen entsprechende emotionale Regungen, noch packt sie der Eifer in der Darstellung einer hochkomplexen, schwierig zu interpretierenden Figur, die noch dazu ein reales Vorbild hat. Eine gewisse Kühle geht von ihr aus, eine Unnahbarkeit, die man so nicht erwartet hätte, und an der sich auch Filmgatte Grégory Gadebois die Zähne ausbeißt, so wie überhaupt alle in diesem Film, die nicht an die Rekonstruktion der Tatsachen, die Hupperts Filmfigur zu Protokoll gibt, glauben möchten. Dabei tut sich die zweite Ursache auf, die die ganze Zeit über deutlich auf der Hand liegt und die nur aufgrund wenig engagierter Ermittlungen als Beweisargument durch den Rost der Plausibilität fallen konnte.

Zwischen Jodie Fosters Darstellung in Angeklagt – wobei die Klaviatur der Regungen, die Foster damals von sich gab, bei Huppert kaum zu finden ist – und Paul Verhoevens ambivalentem Rape-Thriller Elle schleppt sich ein recht zähes Kriminaldrama durch einen ungeordneten, leicht devastierten Wulst an schlampig formulierten Ermittlungsakten und unschlüssiger Verdächtigungen. Wie wenig Jean-Paul Salomé, der schon in Eine Frau mit berauschenden Talenten Huppert nur in mäßiger Brillanz auf distinguierte Breaking Bad-Spuren schickte, den ganzen brandheissen Stoff in den Griff bekommt, merkt man an etlichen dramaturgischen Hängern, die in scheinbar redundanten Dialogen die Geduld strapazieren. Ob nun Wirtschaftsdrama, Home Invasion-Thriller oder Justizfilm: Die Gewerkschafterin hat von allem etwas, doch nichts davon ist richtig überzeugend.

Die Gewerkschafterin (2022)

Colonos (2023)

LEICHEN PFLASTERN IHREN WEG

6,5/10


colonos© 2023 MUBI


LAND / JAHR: ARGENTINIEN, CHILE, DÄNEMARK, DEUTSCHLAND, FRANKREICH, SCHWEDEN, TAIWAN, GROSSBRITANNIEN 2023

REGIE: FELIPE GÁLVEZ HABERLE

DREHBUCH: FELIPE GÁLVEZ HABERLE, ANTONIA GIRARDI

CAST: CAMILO ARANCIBIA, MARK STANLEY, BENJAMIN WESTFALL, SAM SPRUELL, MISHELL GUAÑA, ALFREDO CASTRO, MARCELO ALONSO, LUIS MACHIN, MARIANO LLINÁS, AUGUSTÍN RITTANO U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Selbst in den entlegensten Winkeln am Ende der Welt, oder eben gerade dort, wo sonst keiner hinkommt, regiert gut und gerne das, was Homo sapiens zu einem fürchterlichen Monster werden lässt. An diesen entlegensten Winkeln regiert in selbem Zug genau das nicht, was den Menschen menschlich bleiben lässt: Kontrolle. Am südlichsten Zipfel Südamerikas, in einer unwirtlichen, windumtosten, braungrünen Wildnis aus Nässe, Düsternis und büscheligem Gras, ist der Indigene Mensch genauso viel wert wie auch überall sonst wo auf der Welt: nämlich gar nichts. Eine gewisse Arbeitstauglichkeit lässt Gnade vor Unrecht ergehen. Nutzen sie nicht mal dazu, oder stören gar den Frieden der Schafherden, die der Großgrundbesitzer José Menéndez (ja, den gab es wirklich) in gewisser Weise über ganz Feuerland weiden lässt, geht‘s ans große ethnische Reinemachen. Um das Gebiet bis an die Atlantikküste zu sichern, beauftragt der König von Patagonien, wie er genannt wird, einen ausrangierten Leutnant der britischen Armee, verstört durch den Krieg, gewalttätig, grausam, böse. Allein reitet das „rote Schwein“, wie man ihn später nennen wird, allerdings nicht los – im Schlepptau hat er einen Texas-Ranger, der die Eingeborenen mehrere Kilometer gegen den Wind riechen kann. Und das Halbblut Segundo, der das Glück hat, dem Großgrundbesitzer als tauglich zu erscheinen und darüber hinaus ganz gut schießen kann. Ihr Ritt zieht eine Schneise der Verwüstung durchs Land, Unschuldige müssen dran glauben. Kinder werden getötet, Frauen vergewaltigt. Misstrauen befällt das Trio, Segundo muss die Gräuel an seinen Landsleuten mitansehen, wehrt sich gegen dieses Übermaß an Verbrechen, sinnt nach Rache, bleibt jedoch ohnmächtig angesichts dieser Aggression, die von den Weißen ausgeht. Dem Wahnsinn nicht genug, soll es noch schlimmer kommen.

Und als Zuseher fragt man sich natürlich das eine oder andere Mal: Warum in aller Welt suche ich Zerstreuung nicht lieber in einem weniger belastenden Film, in einer Komödie oder abgehobener Fantasy? Andererseits: Filme wie diese bedienen mehrere Genres. Sie sind lebendige Geschichte, sie tragen den Mythos des knochentrockenen, beinharten Italowesterns mit sich herum, sie erzählen ein Abenteuer, dass seinen Reiz dadurch ausspielt, den unberechenbaren Schrecken einer Terra incognita zu entfesseln – und den Menschen darzustellen als einer, der destruktive Weltbilder erschafft. Colonos, zu deutsch Die Siedler, wäre Stoff für Werner Herzog gewesen. Würde Klaus Kinski noch leben, er wäre prädestiniert dafür.

Ähnlich wortkarg und grimmig trottet der raue Thriller durch die abweisende Landschaft. Über den Hügeln finstere Wolken, kalte Luft, karges Feuer. Gehässiger und finsterer als all die Weisen blicken nur noch die Indigenen, die nichts haben, womit sie sich wehren können, außer ihren Stolz und ihre Zähigkeit, das Schlimmste zu überleben. Colonos von Felipe Gálvez Haberle ist harter Stoff, gibt sich in einer Art Agonie einem eiskalten Kolonial-Nihilismus hin, dem man so zuletzt in Lars Kraumes Vermessenen Mensch gesehen hat. Wo dort aber der Genozid an die Herero und Nama als pittoreskes Bilderbuch ein vertrautes Vokabular bedient, wird die grausame Behandlung der Ona zu einem erbarmungslosen Albtraum, der an die finsteren Illustrationen Goyas erinnert, angereichert mit dampfendem Naturalismus und defätistischer Hoffnungslosigkeit. Colonos besticht zwar durch seine visuelle Pracht, durch seine unmittelbare Wahrnehmung der Gegend, behält aber durch seine verschlossenen, abweisenden Figuren die nötige Distanz und schafft zu keiner Zeit irgendeine Identifikation. Neben dieser Ablehnung, dieser Furcht vor der Begegnung, dieser immerwährende Bedrohung lässt sich obendrein noch ein stampfender, theatralischer Score erlauschen, der, komponiert von Harry Allouche, so klingt, als wäre er von Morricone, was dem Szenario noch einmal mehr die Aura eines lebens- und weltverneinenden Grunge-Westerns verleiht. Schließlich muss man eine Reise wie jene, die in Colonos angetreten wird, erfahren – und aushalten wollen. Die rare Thematik wäre ein Grund dafür, den Blick zu riskieren. Für jene, die nicht wegsehen wollen, was die Geschichte alles angerichtet hat, bietet Haberles Regiedebüt einen zynischen Rückblick im Stile unheilbringender Abenteuergeschichten.

Colonos (2023)

Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt (2023)

SKLAVENTREIBEN IN BUKAREST

5,5/10


erwartenichtzuviel© 2023 Mubi


LAND / JAHR: RUMÄNIEN, KROATIEN, FRANKREICH, LUXEMBURG 2023

REGIE / DREHBUCH: RADU JUDE

CAST: ILINCA MANOLACHE, NINA HOSS, KATIA PASCARIU, SOFIA NICOLAESCU, UWE BOLL, LÁSZLÓ MISKE, OVIDIU PÎRSAN, DORINA LAZAR, ALEX M. DASCALU U. A.

LÄNGE: 2 STD 43 MIN


Immer wieder ruft die Europäische Union bei ihr an, Beethovens Ode an die Freude tönt als elektronische Quietschtonleiter aus dem Smartphone von Angela, die als völlig übermüdete Produktionsassistentin und eierlegende Wollmilchsau eines österreichischen „Schlampenvereins“ von Pontius zu Pilatus fährt, um ihre Tagesagenda zu erledigen. Um kurz vor sieben aus dem Bett zu steigen, klingt zwar nicht nach gottlos früh, doch Angela kommt wie Landvermesser K. aus Kafkas Das Schloss nicht zur Ruhe. Obszöne Akkordarbeit bringt sie dazu, in ähnlich obszöner Weise auf Social-Media alles und jeden in den Dreck zu ziehen, vorwiegend in vulgärem Gossenton und von Fellatio bis zum Cunnilingus sexuelle Verdorbenheit nicht nur den neuen britischen König angedeihen lässt, sondern auch diverse Mütter, Väter und sowieso der ganze Rest. Als rumänischer Borat mit Gesichtsfilter macht sie ihrer wütenden Ohnmacht freien Lauf. Hätte sie dieses Ventil nicht, wäre sie womöglich längst Amok gelaufen.

Stattdessen beweist sie zumindest so viel Zähigkeit und Durchhaltevermögen, um die Opfer diverser Arbeitsunfälle abzuklappern und diese für einen Werbefilm als Testimonials für mehr Sicherheit am Arbeitsplatz zu gewinnen. Dass dabei unbezahlte Überstunden, Übermüdung, mangelnde Infrastruktur und Missstände in der Arbeitssicherheit im eigentlichen dafür schuld sind, dass manche von denen nicht mehr aufrecht stehen können, ist ein Umstand, den der westeuropäische Konzern unter den Teppich kehren will. Schnell wird klar: Radu Jude kritisiert in seinem neuen, massiv überlangen Streifen Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt jene Mitgliedstaaten der EU, die genug Einfluss, Macht und Geld besitzen, um den ehemaligen Ostblock nach Strich und Faden auf den Kopf zu scheißen.

Das Outsourcing in Billigländer ist leistbar und ungefährlich, für jene, die anschaffen, denn Kontrolle gibt es keine, Beschwerdestellen ebenso wenig und die Lust an der Ausbeutung einfach zu groß, um sich ihr nicht hinzugeben. Das ist harter Stoff, wenn Radu Jude auch gewillt gewesen wäre, nicht nur Ilinca Manolache als Mädchen für Alles beim Autofahren zuzusehen, während sie Kaugummi kaut und die Welt beschimpft. Der Tag im Leben dieser Angela, die eine Seelenverwandte aus den Achtzigern zu haben scheint, die ebenfalls Angela heisst und auf naiver Retro-Schiene in ihrem Taxi herumkurvt, um konservative Sexisten zu kutschieren, ist fast schon als Roadmovie zu verfolgen, während die Kamera unbeirrt und in grobkörnigem Schwarzweiß dem rechten Profil der Ausgepowerten folgt. Viel passiert nicht dabei, selbst die Schimpftiraden sind lediglich ein trivialer Ausdruck für allerlei Missstände, die es überall auf der Welt genauso gibt, die nicht unbedingt typisch rumänisch sind, sondern alle Länder betreffen, die vom Kapitalkolonialismus unterwandert und kaputtgemacht worden sind. Sudabeh Mortezai lässt in ihrem Film Europa Ähnliches an die Oberfläche sickern. Konventioneller zwar, doch weniger ausufernd.

Früher war alles besser, so scheint uns Radu Jude sagen zu wollen, früher war Bukarest noch das Märchen einer Taxi Driver-Romanze, frei von Feminismus und sonstigem woken Zeugs, überladen mit billigem Schlagerscore und irritierend nostalgisch. Dass Radu seine Sequenzen dann plötzlich ausbremst, als wäre der Vorführapparat defekt, gäbe es noch analoge Filmspulen, mag verwundern und sich auch im Kontext zum restlichen Film zumindest für mich nicht erklären. Die abrupte Schnitttechnik ist Radus Stil, das disharmonische Timing seiner Szenen ganz bewusst angewandt. Wenn dieser dann der gefährlichsten Straße Rumäniens seinen Respekt zollt und sein Publikum aus dem Flow reißt, ist auch das eine bewusste Disharmonie, die allerdings nirgendwo offensichtlich hinführen soll. Am Ende lässt Jude die Kamera in einer gefühlt ewigen Plansequenz laufen, Dialoge der Schauspieler aus dem Off sind das bisschen Salz in der Suppe, während alles andere handzahm bleibt, wenig Biss hat, einfach nicht ans Eingemachte gehen will, wie bei seinem Vorgänger Bad Luck Banging or Loony Porn. Als garstige Satire auf die Scheinheiligkeit rumänischer Biedermänner- und frauen kann die wild fabulierende und nicht weniger avantgardistische Groteske überzeugen – der Sarkasmus zur Arbeitslage der Nation hingegen kokettiert kaum mit Kuriositäten und bringt lediglich Widersprüche aufs Tapet, die im Kapitalismus nicht nur in Rumänien gang und gäbe sind.

Warum so kleinlaut, Radu Jude? Dass sich Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt mehr zum Experiment als zum treffsicheren Statement mausert, tut der Faszination für völlig unorthodoxes Anarcho-Kino, das keinem Regelwerk mehr folgt, keinen Abbruch. Trotz der satten Laufzeit von über 160 Minuten sind Radus Tagesbetrachtungen zwar schwachbrüstig, aber niemals langweilig. Vielleicht, weil das Überrumpeln von Sehgewohnheiten in diesem Werk letztlich alles ist. Der Rest nur Allerwelts-Ambition.

Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt (2023)

Green Border (2023)

MENSCHEN OHNE RECHTE

6/10


greenborder© 2023 Piffl Medien / Agata Kubis


LAND / JAHR: POLEN, TSCHECHIEN, FRANKREICH, BELGIEN 2023

REGIE: AGNIESZKA HOLLAND

DREHBUCH: AGNIESZKA HOLLAND, GABRIELA LAZARKIEWICZ-SIECZKO, MACIEJ PISUK

CAST: JALAL ALTAWIL, MAJA OSTASZEWSKA, TOMASZ WLOSOK, BEHI DJANATI ATAI, MOHAMAD AL RASHI, DALIA NAOUS, PIOTR STRAMOWSKI, JAŚMINA POLAK, MARTA STALMIERSKA, AGATA KULESZA U. A.

LÄNGE: 2 STD 27 MIN


Über zweieinhalb Stunden reichen fast nicht, um Schicksale wie diese zu erzählen. Es sind Zustände, die an die finsterste Zeit in Europa erinnern – oder die Dystopie eines totalitären Polizeistaates vorwegnehmen, der Polen vielleicht einmal sein wird. Das ganze Szenario in Schwarzweiß zu halten, trägt nicht unwesentlich dazu bei, auch an Steven Spielbergs Schindlers Liste zu erinnern, der von einer Zeit berichtet, in der Menschen wie Vieh behandelt, entrechtet und enteignet wurden. Misshandelt, ermordet – und keine Träne nachgeweint. So sehr das auch nach Drittem Reich klingt: Ein lebendiges, denkendes Wesen so zu behandeln, als wäre es minderwertig – diese Klaviatur des Grauens spielt es immer noch. Und zwar nicht irgendwo im tiefsten Afrika, in Russland oder im Nahen Osten. Solche Töne schlägt man an der Außengrenze der ach so liberalen, alles und alle verbindenden Europäischen Union an, wenn syrische, afghanische oder Flüchtlinge von sonst wo ihr Leben aufs Spiel setzen, um dieses zu schützen. Sie gehen nicht den Weg der bürokratischen Ordnung, sondern stehlen sich über die grüne Grenze zwischen Weißrussland und Polen – das geht schneller, ist einfacher, und wenn man die entsprechenden Verbindungen spielen lässt, die Verwandte, die es bereits geschafft haben, in petto haben, könnte der Traum vom sicheren Leben Wirklichkeit werden. Denn Sicherheit, ein Dach über dem Kopf, zu trinken, zu essen und zu schlafen – sind Grundbedürfnisse des Menschen, die gewährleistet werden müssen. Das sagt nicht nur die UN Menschenrechtserklärung, das sagt auch der Menschenverstand, sofern er nicht vom autoritären Populismus so weit durchgeknetet wurde, um dann einer Doktrin zu folgen, die man kaum für möglich hält, würde man es nicht mit eigenen Augen sehen.

Unsereins im sicheren Nest irgendwo geborgen in Österreich oder Deutschland, mit garantiertem Einkommen, Wohlstand und zum Bersten gefüllten Supermärkten – wir bekommen solche Zustände gerade mal wohldosiert über die täglichen Nachrichten mit. Und auch dann nur, wenn diese die Freiheit genießen, unabhängig zu berichten. Das ist längst nicht selbstverständlich, man muss schließlich nehmen, was man vorgesetzt bekommt. Oder man fährt selbst dorthin, an den Ort des Geschehens, um sich ein Bild zu machen, ohne Zensur, ohne Propaganda, sondern direkt, echt und schrecklich.

In dieses Grauen wirft sich Agnieszka Holland mit allem, was sie zur Verfügung hat. Als wäre sie eine Korrespondentin vor Ort, folgt sie einer sechsköpfigen Familie auf Schritt und Tritt, von den Sitzplätzen im türkischen Billigflieger bis zum Stacheldrahtzaun, der mehr schlecht als recht die grüne Grenze markiert. Ökotouristen hätten mit dieser Waldgegend wohl eine helle Freude – die Biomasse ist enorm, Elche und Wölfe lassen sich sehen, zwischen den flechtenbewachsenen Bäumen kilometerweit nur Sumpf und Morast, in dem man leicht versinken kann. Außerdem ist es bitterkalt, Wasser ist knapp, zu essen gibt es nichts, und der Akku des Smartphones ist leer. Als die Familie polnischen Boden erreicht, werden sie aufgegriffen und nach Belarus zurückgeschickt. Es ist schmerzlich, mitanzusehen, wie schwangere Frauen Kartoffelsäcken gleich über den Drahtverhau geschmissen werden. Wie andere getreten, schikaniert und eingeschüchtert werden. Betroffenheitskino par excellence schafft Holland hier aufzuziehen, nah am Menschen, die Kamera herumwirbelnd, das Elend einfangend, als wäre ihr Film nicht fiktiv, sondern reine Dokumentation.

Dass Green Border eben alles ist, nur keine True Story, erkannt man an dem Bedürfnis, alles anzureißen und nichts auszulassen – Keine Sichtweise, kein Schicksal, kein noch so tragisches Ereignis. Zweifelsohne macht die Machtwillkür der bösen Grenzsoldaten, die fast alle indoktriniert wurden, einfach nur wütend, man wünscht ihnen alles nur erdenklich Schlechte und könnte sich selbst motiviert fühlen, wäre man einer ähnlichen Situation ausgesetzt, mit den Aktivisten gemeinsame Sache zu machen. Die Lust an der Rebellion ist das, was Holland entfacht. Die Wut, die Ohnmacht, es ist schlichtweg eine Schande, diesen Missstand ertragen und mittragen zu müssen. Den obligaten Umdenker bei den Grenzschützern gibt es aber dann doch. Genauso wie die selbstlose Lebensretterin, die für ihren Mut alles aufs Spiel setzt. Es gibt die, die sich aus blinder Verzweiflung, aber auch völlig grundlos den Löwen zum Fraß vorwerfen und den Lichtstreifen am Horizont.

Green Border will alles sagen, alles erwähnen, nichts schuldig bleiben, scheint dann aber bald unter seiner Last zusammenbrechen. Überambitioniert und anklagend donnert das wuchtige Werk über den Zuseher herein, der nicht weiß, wohin mit seiner Entrüstung, der sich irgendwann davon distanzieren muss, und die Chance ergreift, aus dieser Distanz eine gewisse reisserische Plakativität zu erkennen, eine pflichterfüllende Agenda, um als humanitäres Manifest zu funktionieren. Das alles ist rechtschaffen und völlig richtig, packend auch und verstörend. Vielleicht aber hätte ein Blickwinkel gereicht, vielleicht wäre es auch besser gewesen, den Film in Farbe und nicht in Schwarzweiß anzulegen, um so diesem Werk mehr von seiner künstlerischen Distanz zu nehmen. Filme wie der ukrainische Klondike, der eine kleine Geschichte aus nur einer Perspektive erzählt und gelegentlich mit Metaphern spielt, hat letztlich mehr Wirkung als die radikale Direktheit eines aus den Fugen geratenen Universaldramas.

Green Border (2023)

The Old Oak (2023)

AM MITTAGSTISCH SIND ALLE GLEICH

6,5/10


theoldoak© 2023 Sixteen Films Limited, Why Not Productions


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, FRANKREICH, BELGIEN 2023

REGIE: KEN LOACH

DREHBUCH: PAUL LAVERTY

CAST: DAVE TURNER, EBLA MARI, TREVOR FOX, COL TAI, JORDAN LOUIS, CHRISSIE ROBINSON, CHRIS GOTTS, JEN PATTERSON, ARTHUR OXLEY, JOE ARMSTRONG, ANDY DAWSON, AMNA AL ALI U. A.

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Es soll sein letzter Film gewesen sein. Ken Loach, das soziale Gewissen des Vereinigten Königreichs, geht in Pension. Was er hinterlässt, ist eine noch für lange Zeit nachblühende Eiche, deren dicker Stamm fest verwurzelt im Boden ungeschönter Tatsachen vielleicht besseren Zeiten entgegenharrt, in denen Menschen unterschiedlichster Gesinnung und diverser ethnischer Herkunft an einem Tisch Platz finden werden. Wer gemeinsam isst, rückt zusammen. Da gibt es Dialog auf Augenhöhe, doch meist braucht es da nicht mal Worte, um einander zu verstehen. Der Mittagstisch ist für alle da. Wie arm sie auch sein mögen, wie verquer auch deren Lage ist: Ken Loach stillt den Hunger der kleinen Leute, wo es nur geht.

Möglich ist das nur, weil es im ehemaligen Grubendorf in der Grafschaft Durham ein letztes verbliebenes Pub gibt, das titelgebende Old Oak. Der in sich gekehrte TJ Ballantyne (Big Hugs für Dave Turner!) führt aber nur die Hälfte dieser Gaststätte – das größere Hinterzimmer bleibt verschlossen, warme Speisen gibt es schon lange nicht mehr, lediglich Bier, soweit das Auge der Stammkundschaft reicht: Ein Haufen desillusionierter Männer, die dem genügsamen Wirtschafter seine Existenz ermöglichen, weil sie täglich hier aufschlagen. In dieser Gegend aus alten, leerstehenden Backsteinhäusern, die irgendwann mal in den Achtzigern TJs Kumpel des nun stillgelegten Kohlebergwerks beherbergten, steht die britische Bevölkerung fast schon vor dem Nichts. Und dann passiert das: Eine Busladung syrischer Flüchtlinge nimmt, so die Meinung mancher Alteingesessenen, auch noch die letzten Ressourcen der dahinsiechenden Gemeinde. Wer soll und kann das noch stemmen? Darüber hinaus erreicht der Alltagsrassismus ungeahnte Höhen – Kopftuchfrauen an einem Ort wie diesen? TJ sieht das anders – und befreundet sich mit der jungen Fotografin Yara (berührend: Ebla Mari). Beide inspirieren sich gegenseitig, und Pläne fürs Miteinander nehmen langsam Gestalt an.

Das klingt nicht nur so, als wäre The Old Oak zuversichtlicher als alles von Ken Loach bisher Dagewesene – das ist es auch. Sein Film ist eine Hymne an die Solidarität ganz ohne rotes Parteibuch, sondern aus der Intuition heraus, direkt vom Herzen und dem Gewissen folgend, sofern man noch eines besitzt. Das tut natürlich gut, zu sehen, was hier bald wie aus dem Nichts kommend, für Akzeptanz und gegenseitiges Wohlwollen sorgt. Anfangs sieht es noch so aus, als wäre die Eskalation vorprogrammiert, und klar: Konflikte bleiben dennoch nicht aus. Doch verschwendet man auch nur einen weiteren Gedanken daran, um zu reflektieren, warum diese Art von Ablehnung überhaupt gelebt werden muss, fällt diese in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Mag sein, dass die Realität anders aussieht. Doch Loach will sich dieser Nüchternheit nicht mehr unterwerfen. Sorry We Missed You war zerrüttend genug, der letzte filmische Vorhang soll schließlich sowas wie Hoffnung hinterlassen. Und so wird sein Film zu einem Lehrstück der Nächstenliebe und der Achtsamkeit – geradlinig, wenig komplex und idealistisch. Doch keinesfalls banal.

Seine Schicksalsschläge verteilt Loach dennoch. Und da gibt es einige, schmerzende, tieftraurige. Vielleicht gar ein bisschen zu viel davon, und das nur deshalb, weil The Old Oak seine gebeutelten Existenzen eng beieinanderstehen lässt. Diese entstandene Essenz aus Qual und Trost wird zur dick aufgetragenen Besseren-Welt-Ballade, in welcher jene, die wenig haben, jenen, die nichts haben, unter die Arme greifen. Dann können jene, die zuvor nichts hatten, einiges zurückgeben. Eine Spirale des Guten gerät in Bewegung. Schön ist das. So einleuchtend. In seiner dargebotenen und zuletzt gar irreal überspitzten Reinheit, zu der sich Ken Loach schließlich hinreißen lässt, von rechtschaffener Naivität, die keinen Zynismus mehr verträgt.

The Old Oak (2023)

Tótem (2023)

DER TROST VON TIEREN

7/10


totem© 2023 Limerencia Films


LAND / JAHR: MEXIKO, DÄNEMARK, FRANKREICH 2023

REGIE / DREHBUCH: LILA AVILÉS

CAST: NAÍMA SENTÍES, MONTSERRAT MARAÑÓN, MARISOL GASÉ, SAORI GURZA, TERESITA SÁNCHEZ, MATEO GARCIA ELIZONDO, JUAN FRANCISCO MALDONADO, IAZUA LARIOS, ALBERTO AMADOR U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Geburt und Tod – die beiden Eckpfeiler unserer Existenz, die unverrückbar Anfang und Ende unseres Zeitstrahls markieren, dazwischen kann sich jede Menge abspielen, von Glückseligkeit über Erfolg, von der Niederlage bis hin zur Tragödie. Von Gesundheit über Krankheit zur Genesung. Diese beiden Eckpfeiler bringt die mexikanische Autorenfilmerin Lila Avilés zusammen. Es ist, als würde sie den Raum krümmen, um die beiden auseinanderklaffenden Ereignisse näher zusammenzubringen und sie zu verschmelzen zu einer Medaille mit naturgemäß zwei Seiten. Das bekommt man hin, wenn der Geburtstag eines todkranken Menschen ins Haus steht. Von einem, dessen Tod am Horizont bereits zu sehen ist, der aber anhand eines Festes daran erinnert werden soll, als jemand geboren worden zu sein, der niemandem egal war. Es ist Tona (Mateo García Elizondo), Künstler und Vater des siebenjährigen Mädchens Sol (Naíma Senties) – wie die Sonne. An diesem einen Tag, auf den Avilés Film seine Kamera richtet, wird so Einiges passieren, doch nichts davon ist für sich alleine dramatisch genug, um daraus eine eigene Geschichte zu erzählen.

Tótem beginnt, als Sol zu ihren Tanten gebracht wird. Die wohnen mitsamt dem alten Vater und eben dem kranken Tona in einer stattlichen Hazienda mit vielen Räumen, jeder davon birgt eigene Episoden der Vorbereitung auf ein großes Fest, an dem alle zusammenkommen sollen – Familie, Freunde, einfach alle, die den Lebensweg Tonas begleitet haben. Sol ist von Anfang an irgendwie fehl am Platz. Sie ist zwar Teil der Familie, hält aber Distanz zu allen anderen. Der, zudem sie will, nämlich zu ihrem Vater, bleibt unerreichbar. Starke Schmerzen erleidend, muss dieser sich auf seinen letzten Auftritt vorbereiten, mithilfe einer sich aufopfernden Pflegerin namens Cruz, die als einzige eine gewisse Nähe zu Sol aufbauen kann, die wiederum lieber mit den Tieren interagiert, die sich im Garten versteckt halten. Diese anderen Lebewesen, die haben für das Mädchen eine besondere Bedeutung. Vielleicht jene eines Tótems – eines Wesens, das in seiner Art und Weise einzelne Personen oder die ganze Sippe symbolisiert.

Viel mehr Handlung gibt es kaum in diesem innigen Portrait einer aus dem Häuschen befindlichen Familie, einer fast unzählbaren Gruppe an Kindern und Erwachsenen, die jede und jeder für sich sowohl in heller Aufregung vor dem kommenden Fest in ihrer Geschäftigkeit sich selbst überholen oder nicht wissen, wohin. Und dann das unterschwellige Gefühl des Abschieds. Was also soll gefeiert werden? Das Leben oder der Tod? Oder ist nicht beides ein und dasselbe? Freude und Trauer, Lachen und Weinen, Haare färben, Duschen, Kuchen backen. Dazwischen der Auftritt eines Mediums, welches das Haus von bösen Geistern befreien soll. Irgendwo am Rande Sol, die sich ein Fort aus Kissen baut. Die nur auf ihren Vater wartet, einen Goldfisch geschenkt bekommt und letztlich in die Flammen der Kerzen auf der Geburtstagstorte starrt – vielleicht, um die Sphäre des Diesseits mit ihren Blicken zu durchdringen.

Was Avilés in ihrem Ensemblefilm so übermäßig gut gelingt, ist, ein aus vielen kleinen, alltäglichen Miniaturen ein vollständiges Puzzle zu legen. Anfangs fällt es einem selbst schwer, sich in dieses quirlige Chaos an Planen, Vorbereiten und Durchführen irgendwie zurechtzufinden. Man fühlt sich wie Sol, man geistert durch eine hektische Betriebsamkeit, ohne Halt zu finden. Avilés Werk ist somit ein Film, durch den man sich treiben lassen muss – und beobachten. Die Puzzleteile werden mehr, bald lernt man all die Verwandten kennen, und anhand ihrer kleinen Szenen aus Charakterstudie, Verhaltensmuster und sozialer Interaktion entsteht tatsächlich sowas wie Vertrautheit, die sich immer mehr steigert, als wäre man schlussendlich selbst Teil dieser Familie, die einem so seltsam bekannt vorkommt. Es liegt an der Natürlichkeit in diesen Szenen, an diesem fast intuitiven, vielleicht gar improvisierten Spiel, das fast den Charakter eines Stegreifstücks hat, denn nichts davon wirkt einstudiert und scheint nur aus einer spontanen, einmaligen Empfindung heraus entstanden zu sein. Das macht Tótem so lebendig, niemals langweilig, geradezu saukomisch und in seinen stillen Momenten metaphysisch genug, um die Hoffnung auf mehr als nur dieses Leben wie die Kerzen auf der Torte am Brennen zu halten.

Tótem (2023)

Napoleon (2023)

EUROPA IM SCHATTEN DES ZWEISPITZ

8/10


Napoleon© 2023 Apple TV+


LAND / JAHR: USA, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: RIDLEY SCOTT

DREHBUCH: DAVID SCARPA

CAST: JOAQUIN PHOENIX, VANESSA KIRBY, TAHAR RAHIM, LUDIVINE SAGNIER, IAN MCNEICE, RUPERT EVERETT, BEN MILES, PAUL RHYS, ERIN AINSWORTH, SAM TROUGHTON, JANNIS NIEWÖHNER U. A.

LÄNGE: 2 STD 38 MIN


Würde man eine weltweite Umfrage starten mit dem Ziel, herauszufinden, welche Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte wohl am geläufigsten sind, dann wäre neben Adolf Hitler, Julius Cäsar und vielleicht noch Kleopatra natürlich Napoleon mit dabei. Vielleicht auch deswegen, weil dieser Merkmale an sich trägt, die unverwechselbar sind: kleine, gedrungene Statur, fransiges Haar, darüber stets ein Zweispitz, den er vermutlich nur zum Schlafen abgelegt hat. Die rechte Hand steckt dabei im Gewand, eine klassische Geste. Der in Korsika geborene Feldherr wird zum Lehrmeister vieler kommender Strategen, es ist eine Mischung aus Bauernschläue, Scharfsinn und jovialer Bärbeißigkeit, die ihn mit allen übrigen Regenten des europäischen Kontinents zum Handshake verhalf und auch gegen diese antreten ließ. Dieser Wicht mit Wirkung, dieser politische Glückspilz, der sich selbst zum Kaiser von Frankreich krönen ließ, darf nun, unter der Regie von Ridley Scott, nochmal in bester Risiko-Manier von West nach Ost über Europa fegen. Und ehrlich: Wer sonst hätte sein Wirken noch verfilmen können? Vielleicht Stanley Kubrick. Dieser hatte schließlich schon Sämtliches an Material zusammengetragen, und es wäre auch nach Eyes Wide Shut vermutlich sein nächstes Projekt gewesen. Hätte er wohl Joaquin Phoenix in der engeren Auswahl gehabt? Könnte sein.

Der Oscarpreisträger – diesmal nicht so abgemagert wie als Joker, sondern als untersetzter, dreister Tausendsassa – trägt von Anfang bis zum Ende die Miene eines hasardierenden Pragmatikers (sofern dies überhaupt zusammengeht). Ridley Scott veredelt ihn mit seinem Zweispitz, wo es nur geht. Es sind die Schattenrisse, es sind die Blicke hinter seinem Rücken nach vorn, wenn er bei der Drei-Kaiser-Schlacht bei Austerlitz oder letzten Endes bei Waterloo die Szene betritt und sich aus seinem Unterstand schält, meist in grauem Mantel. Er braucht nur die Hand zu heben, schon donnern die Kanonen. Irgendwann reicht ein kaum merkbares Nicken – und die Armee versteht.

Um eine ganze europäische Epoche unter einen Filzhut zu bekommen, dazu braucht es Zeit. Viel Zeit. Denn es ist ja nicht nichts, was hier alles geschieht, seit Marie Antoinette ihren Kopf verloren hat. Allerhand spielt sich da ab, Staatsstreiche und Tumulte, Umstürze und jede Menge Schlachten. Das alles will seinen Platz in einem Film fürs Auge finden. Und soll gleichermaßen dazu bewegen, dem dadurch erwachten Interesse an Geschichte später ganz von selbst nachzugehen. Es wäre verlorene Liebesmüh gewesen, hätte Scott den Film in ganzer Länge ins Kino gebracht. Kolportiert ist diese mit über vier Stunden – um die Säle zu füllen, sind es nun zweieinhalb, und selbst da hat man schon das Gefühl, angesichts der Fülle weltbewegender Eckdaten alles schon konsumiert zu haben. Hat sich Scott da nicht etwas übernommen? Wäre eine Miniserie nicht besser gewesen? Nein. Denn Napoleon gehört auf die große Leinwand. Niemand anderer kann Schlachten so dermaßen mitreißend inszenieren wie er. Bei niemandem sonst wird Geschichte zum massentauglichen Großevent. Mit der Darstellung der Schlacht bei Austerlitz sprengt Scott wieder mal alles bisher Dagewesene. So und nicht anders muss das gewesen sein, denkt man sich – vermengt mit allerlei Pathos, historischer Verklärung und als lebendig gewordenenes Ölgemälde.

Diesen zweieinhalb Stunden merkt man an, dass sie geschnitten sind. Doch was soll man sonst tun, außer zu kürzen. Zwischen der Herrschaft als Konsul und der Krönung zum Kaiser fehlt schon mal so einiges, und auch die Schlacht bei Waterloo lässt einige Fakten außen vor. Vielleicht finden wir diese dann später auf Apple+. Mit ziemlicher Sicherheit gehen die biographischen Aspekte  Napoleons dadurch um einiges tiefer. Denn mit Phoenix‘ Darstellung des Machtmenschen kann, muss man aber nicht zufrieden sein.

Warum Bonaparte tut, was er getan hat, bleibt ein Rätsel. Klar ist: Joséphine ist seine große Liebe, es drängt ihn nach einem Thronfolger, es zieht ihn höchstpersönlich immer wieder aufs Schlachtfeld. Wie er tickt, was er denkt – das alles bleibt popkulturelle Ikone, er selbst sein eigenes Merchandising. Phoenix, natürlich Meister seines Fachs, kann diesem gigantischen Ego, dieser Weltfigur, kaum Herr werden. Er begnügt sich mit einer konstanten Performance, die wenig Regung zeigt, sich kaum entwickelt, das Exil in St. Helena ähnlich hinnimmt wie den Befehl der französischen Regierung anno 1793, die Hafenstadt Toulon zu erobern. Im Vergleich dazu ist Vanessa Kirby die emotionale Kraft in diesem Film, wenn sonst nichts allzu Zwischenmenschliches bleibt, da die Eckpfeiler der Politik alles dominieren. Umso mehr nutzt Scott das private Glück und Elend eines Zweiergespanns, was manchmal zu sehr das Gleichgewicht zwischen Geschichtsgewitter und üppiger Romanze kippen lässtt.

Napoleon ist keine akkurate Chronik der Ereignisse. Vieles ist bekannt, vieles aber auch auf Entertainment gebürstet. Nichts anderes hat Ridley Scott jemals gemacht. Man siehe nur 1492, Königreich der Himmel oder Exodus. Seine Leidenschaft ist es, bewegte Bilderbücher zu kreieren, Schlachten nachzustellen, vergangene Zeiten in verschwenderischer Ausstattung und ohne Scheu vor Massenszenen zum Leben zu erwecken. Im Kino ist es so, als wäre man mittendrin, statt nur dabei. Es sind epische Momente, die man lange nicht vergisst. Sie erzeugen Gänsehaut und Respekt vor Legenden, die längst ihre realen Personen hinter sich gelassen haben. Wie es wirklich war, liest man besser nach. Beide gemeinsam aber, Film und Recherche, werden zum Erlebnis Geschichte.

Napoleon (2023)

Der Schatten von Caravaggio (2022)

HUREN UND HEILIGE

6,5/10


caravaggio© 2023 Filmladen Filmverleih / Luisa Carcavale


LAND / JAHR: ITALIEN / FRANKREICH 2022

REGIE: MICHELE PLACIDO

DREHBUCH: SANDRO PETRAGLIA, MICHELE PLACIDO, FIDEL SIGNORILE

CAST: RICCARDO SCAMARCIO, LOUIS GARREL, ISABELLE HUPPERT, MICAELA RAMAZZOTTI, LOLITA CHAMMAH, MICHELE PLACIDO, VINICIO MARCHIONI, GIANFRANCO GALLO, MONI OVADIA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Kunstgeschichte im Kino zu genießen kann zur immersiven Erfahrung werden. Was Filmemacher dabei gerne versuchen, ist, den Stil des zu beschreibenden Virtuosen in die Optik ihres Werkes einzubringen. Meister dieser Vorgehensweise ist zweifelsohne Peter Greenaway – Szenen seines exzentrischen Kunstfilms A Zed and Two Noughts muten an, als hätte Jan Vermeer höchstpersönlich seine Sicht auf die Welt auf die Leinwand gepinselt. Indirektes Licht aus unsichtbaren Fenstern oder nicht näher definierten Lichtquellen beleuchten historisches Interieur und im niederländischen Barock zu verortende Personen, stehend auf Schwarzweiß gemusterten Schachbrettböden. Für so viel Akkuratesse braucht es einen fast schon obsessiven Willen zur manieristischen Nachahmung. Des Weiteren beeindruckt sein Rembrandt-Krimi Nightwatching mit Set-Tableaus, die so manches Werk des Avantgardisten eins zu eins nachstellen.

Ein ähnliches Gemälde-Lookalike wagt Michele Placido, vorrangig bekannt als Hauptdarsteller der 80er-Fernsehserie Allein gegen die Mafia, in seiner teils wüsten und hemdsärmeligen Genius-Biographie Der Schatten von Caravaggio. Der Entstehung des Gemäldes Tod Mariä, welches als Teil der ständigen Sammlung im Pariser Louvre zu bewundern ist, schenkt Placido enorm viel Aufmerksamkeit – im Grunde beherrscht diese Erarbeitung des Meisterwerks den ganzen Film, denn die in rotem Leinen gehüllte Tote mag zwar titelgebend die Mutter Jesu Christi sein, als Modell gestanden soll dem Meister eine längst bekannte Prostituierte sein, die irgendwann später den Weg in den Tiber wählt und deren Leichnam von Caravaggio und seiner Entourage geborgen werden wird.

Diesen Versuch, oder besser gesagt, dieses aus der Sicht der Kirche zweifelsohne ketzerische Wagnis, die Ärmsten der Armen und sozial Ausgestoßenen in den Rang von Heiligen zu erheben, ihnen also einer Apotheose auszusetzen, die jedwede Hierarchie zusammenbrechen lässt, gleicht einer gesellschaftspolitischen Revolution. Caravaggio, eigentlich Michelangelo Merisi, ist als bärbeißiger Berserker seiner Zeit weit voraus. Das lässt sich allein schon am Stil seiner Bilder erkennen, die den viel späteren Expressionismus vorwegnehmen, die, so wie Rembrandt, einem kanonischen Ideal entsagen und Gesichter von der Straße, vom Bettler über den Säufer bis zum leichten Mädchen, für die Ewigkeit auf die Leinwand brachten. So wie Merisis Leben von Gewalt, Konflikten und letztlich des eigenen unnatürlichen Todes geprägt war, so spiegeln sich diese Umtriebe in seinen Bildern wider. Dort fließt das Blut, dort stürzt Saulus vom Pferd, dort kreischt das Haupt der Medusa ihren letzten Unmut ob ihrer Niederlage in die Gesichter der Betrachtenden. Caravaggio ist düster und ungefällig – die Kirche hat sein Kreuz mit ihm zu tragen. Und nicht nur die: Des Mordes beschuldigt, muss der Maler in Neapel im Hause Colonna Asyl suchen.

In gemäldehafter Optik erkämpft sich Riccardo Scamarcio (zuletzt gesehen in Kenneth Branaghs A Haunting in Venice) seine durch die kirchliche Obrigkeit andauernd bedrängte Freiheit – eitler Gegenpol ist Louis Garrel als Inquisitor des Papstes, der dem Künstler wie ein Schatten folgt, um diesen der Kirche auszuliefern. Bestehend aus diversen Rückblenden, die Caravaggios Werdegang beschreiben und seine Motivation für seine Arbeit erklären, legt Michele Placido letztlich ein unzimperliches Puzzle zusammen, das in betörend-schwülstiger Optik vor brutalen Spitzen und angedeuteten Orgien nicht Halt macht. Mitunter ist seine Aufarbeitung der Geschehnisse durch den scheinbar recht willkürlichen Wechsel zwischen den Zeitebenen sowie all der Schauplätze eine recht zerfahrene Angelegenheit. Wie ein Skizzenblatt im Wind geistert sein biographischer Thriller umher, schwer einzufangen, aber doch wert, ihm nachzujagen. Diese impulsive Fahrigkeit sorgt im späten Mittelteil für Ermüdung. Kann sein, dass der Film so einige Längen hat, die nochmal und nochmal Caravaggios Mentalität thematisieren wollen – dazwischen so einige kunstgeschichtliche Aha-Erlebnisse, die Kenner seines Oeuvres zum erhellten Flüsterer im dunklen Kinosaal werden lassen.

Eine exorbitant gelungenes Künstlerepos ist Der Schatten von Caravaggio nicht geworden, dafür aber macht dieser Blick auf die schmutzig-düstere Seite des Frühbarock Lust, so bald wie möglich wieder ins Museum zu gehen. An seinen Bildern haftet von nun an und zumindest für eine Zeit lang ordentlich Background, bevor die gefüllten Lücken in Sachen Themenbildung wieder aufgehen.

Der Schatten von Caravaggio (2022)