The Voice of Hind Rajab (2025)

DAS KIND BEIM NAMEN NENNEN

7,5/10


© 2025 Polyfilm


ORIGINALTITEL: SAWT HIND RAJAB

LAND / JAHR: TUNESIEN, FRANKREICH 2025

REGIE / DREHBUCH: KAOUTHER BEN HANIA

KAMERA: JUAN SARMIENTO G.

CAST: HIND RAJAB, SAJA KILANI, MOTAZ MALHEES, CLARA KHOURY, AMER HLEHEL U. A.

LÄNGE: 1 STD 29 MIN  


Wir kennen all diese Menschen nicht, die im kriegsversehrten Gaza-Streifen von Norden nach Süden und durch die Hölle getrieben werden und wieder zurück. Für uns hier im weit entfernten Europa haben sie keine Identität, sind sie doch nur Teil einer Masse von Menschen. Ab und an sieht man in den Nachrichten ihre Gesichter, weinend, flehend, verzweifelt, oft auch resignierend. Immer noch kennen wir ihre Namen nicht, immer noch sind diese Leute nur irgendwer. Anders auf der anderen Seite. Dort weiß man genau, wer am 7. Oktober 2023 von der Hamas entführt wurde. Man weiß, wer es nicht überlebt hat und wer vor wenigen Wochen tatsächlich wieder freikam. Sie haben ein Gesicht, gedruckt auf Tafeln und auf T-Shirts, getragen von den Angehörigen. Hier sind Mittel und Wege vorhanden, den Wert des Einzelnen aus dem gesichtslosen Bulk der Leidenden zu heben.

Wer ein Leben rettet…

Die im Gazastreifen haben das nicht. Da gibt es keine Mittel und Wege, keine T-Shirt-Druckereien oder das große Fernsehen, dass da vorrückt, um zu tun, was getan werden muss, um dem Individuum seinen Wert zu geben. Ich weiß noch, wie Steven Spielberg in seinem Holocaust-Meisterwerk Schindlers Liste einem jüdischen Mädchen den Mantel rot koloriert hat. Es bleibt namenlos, gesichtslos, jedoch sticht sie aus der Menge an Menschen hervor, um bewusst zu machen, dass es immer noch um den oder die Einzelne geht, um ein Gefühl dafür zu bekommen, dass, wenn andere nur ein Leben retten, retten sie die ganze Welt. Oskar Schindler, der am Ende des Films verzweifelt, weil er viel mehr hätte tun können, wird der Satz aus dem Talmud kaum trösten. Wäre es doch nur ein Leben mehr gewesen. Ein einziges.

Das Kind beim Namen nennen

Dieses eine trägt keinen roten Mantel. Wir wissen nicht, was sie anhat. Wir wissen nur: Sie ist sechs Jahre alt, und wir hören ihre Stimme. Ihre letzten Worte. Ihr verzweifeltes Flehen um Rettung, ihre Angst, ihr Weinen, das Aufblitzen von Hoffnung. Dabei sind es nur acht Minuten. Acht Minuten Fahrt mit dem Rettungswagen durch umkämpftes Gebiet, um an das Auto zu gelangen, in dem Hind Rajab feststeckt. Alle anderen, fast die gesamte Familie, ist tot, zersiebt von den Waffen der israelischen Armee. Auch das sehen wir nicht. Doch wir können es uns vorstellen, wenn die Stimme des Mädchens an die Ohren der Telefonistinnen und Telefonisten in der Notdienstzentrale des Palästinensischen Roten Halbmonds dringt.

Hier, in der Westbank, wo der Krieg weitestgehend außen vor bleibt, werden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Zivilisten in Bedrängnis aus dem Kriegsgebiet zu bringen. Das läuft über einige Umwege, bis die israelische Armee davon erfährt, um dann den Schutz zu gewährleisten, wenn sich ein Rettungsfahrzeug in Bewegung setzt. Auch das sehen wir nicht, nur die Gesichter der Telefonierenden, auch sie sind verzweifelt, emotional verstört, aufgebracht, die Nerven liegen blank. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit, mit dem Tag, mit dem Krieg, mit dem Tod. Und das Extreme dabei: Es ist im Film nicht nur irgendein Mädchen zu hören, das vorgibt, Hind Rajab zu sein. Es ist sie tatsächlich selbst. Regisseurin Kaouther Ben Hania (Der Mann, der seine Haut verkaufte) bettet das im Januar 2024 aufgezeichnete Soundfile des Gesprächs in ihren semidokumentarischen Spielfilm, was den Horror nur um so schlimmer macht. Die Mitarbeiter des Roten Halbmond sind zwar von Schauspielern besetzt, doch selbst da hat Ben Hania Ideen, wie sie die realen Personen vor die Kamera bekommt. Faktenmaterial trifft so auf die akribische Nachstellung nervenzerrender Abendstunden, das Kammerspiel wird zu einem Kino des Zuhörens und der Vorstellungskraft, der man aber nicht unbedingt nachgeben will, denn die Realität drängt alles Gespielte an den Rand.

Ein Schicksal für alle

Kriegsberichte aus den Nachrichten lassen einen irgendwann abstumpfen und resignieren, The Voice of Hind Rajab gelingt es aber dadurch, dass sie einem der unzähligen Opfer eine Stimme, ein Gesicht, und ein Leben gibt, dem Verheerenden einer zerstörten Zukunft Relevanz zu verleihen. Auf eine Weise erinnert dieses Schicksal an Anne Frank, durch dessen aufgeschriebenes Einzelschicksal der unschätzbare Wert eines Menschenlebens nicht mehr nur so dahingesagt bleibt.

Mit dieser echten Stimme gelingt es Ben Hania, nicht nur einen weiteren Film gemacht zu haben, der durch die Darstellung eines Übels betroffen machen soll. Diese echte Stimme hebt den Schleier zwischen Narrativem und der eigenen Convenience-Blase, in der man sich befindet. Das ist keine Erzählung. Das ist wahrer Schmerz.

The Voice of Hind Rajab (2025)