Alpha (2025)

IM FEGEFEUER DER PHYSIS

3/10


© 2025 Plaion Pictures


LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2025

REGIE / DREHBUCH: JULIA DUCOURNAU

KAMERA: RUBEN IMPENS

CAST: MÉLISSA BOROS, GOLSHIFTEH FARAHANI, TAHAR RAHIM, FINNEGAN OLDFIELD, EMMA MACKEY, CHRISTOPHE PEREZ, JEAN-CHARLES CLICHET, LOUAI EL AMROUSY U. A.

LÄNGE: 2 STD 8 MIN


Mit einer jovialen Leichtigkeit winkt sie ihrem Publikum zu, dass es eine Freude ist: Julia Ducournau beehrte in diesem Jahr die Viennale mit einem Live-Auftritt, und ja, die Dame ist wahnsinnig sympathisch. Gar nicht verkopft, unverkrampft, redselig – als derzeit wohl innovativste Filmemacherin Europas, die mit Themen daherkommt, die vielen anderen wohl zu bizarr und gewagt wären, um sie umzusetzen. Stets beschreibt ihre derweil noch überschaubare Anzahl von Filmen metaphorische Entwicklungsprozesse junger Frauen und Mädchen, stets verbunden mit der eigenen körperlichen Wahrnehmung, dem Begriff von Schönheit und Ästhetik. Der Ausbruch aus dem Gewohnten findet seine Entsprechung im ungefälligen Bodyhorror weit jenseits der Schmerzgrenze, Leben und Tod dabei zynisch betrachtend und den natürlichen Einklang über Bord werfend. Einmal ist Kannibalismus ein stilistisches Bildventil, ein anderes Mal die Unmöglichkeit der Vereinigung von Organischem und toter Materie. Titane gewann vor zwei Jahren die Goldene Palme in Cannes. Kein Wunder: Dieses Werk wirkt in seiner brachialen Intensität und seiner aus der Norm gefallenen Prämisse lange nach.

Im Wirrspiel der Viren

Endlich ist es wieder soweit. Im Vorfeld kann man bereits erahnen, dass Ducournau ihren Vorlieben treu bleiben und mit Alpha wohl wieder im abgründigen Meta-Bewusstsein von Körper und Geist herumanalysieren wird. Diesmal widmet sie sich der mikrobiologischen Geißel der Menschheit, der Seuche, die sich selbstredend pandemisch verhält. Dabei hat sie allerdings nicht Covid, sondern die vor einigen Dekaden omnipräsenten vier Buchstaben im Sinn: AIDS. Wie auch immer – ihr Film weist nicht explizit darauf hin, dass es sich um dieses Virus handelt, genausogut könnte es alle anderen Erreger auch betreffen, schließlich sind die Symptome in Alpha gänzlich andere, wohlgemerkt metaphorische, so wie alles in diesem Film. Der Body Horror tritt hier deutlich kürzer, offenbart sich aber diesmal in geschmackvoller Marmorierung – will heißen: die Infizierten werden zu Stein, genauer gesagt zu Marmor, was womöglich die besten Body Painter der Welt auf den Plan gerufen hat, um authentisch wirkende Körperbepinselungen vorzunehmen, die teilweise wirklich richtig glücken, manchmal aber auch tatsächlich so aussehen, als wäre der Life Ball die nächste Instanz. Etwas dekorativ gerät ihr hier das Unterfangen, die Physis des menschlichen Körpers abermals mit Anorganischem zu kombinieren. Doch das ist nur das geringste Problem, mit dem Alpha notgedrungen zu kämpfen hat. Da sind noch ganz andere Brocken am Start, die, als wäre Ducournaus Filmset ein Steinbruch, von den offen daliegenden klippen abgebrochen werden müssen.

Die grobe Skulptur eines Films

Mit Meißel und Hammer scheint die Visionärin hier zu hantieren. Staublungen haben dabei nicht nur die Darsteller, sondern gleich auch der ganze Film. Aus dem diffusen Dunst umherschwirrender Gesteinspartikel schält sich das titelgebende Mädchen Alpha, das im hysterischen Umfeld besagter Pandemie dennoch gerne auf Partys geht und sich dabei unwissentlich ein Tattoo einfängt – ein kalligraphisches A prangt nun wie ein Brandmal auf des Mädchens Oberarm, sehr zum Leidwesen von Mama, die noch dazu als Ärztin die Pandemie in den Griff bekommen muss und fürchtet, dass ihre Tochter vielleicht auch bald Gesteinsstaub hustet. Bei all der Burnout-nahen Hektik kreuzt auch noch Alphas Onkel auf, gespielt vom radikal abgemagerten Tahar Rahim, der außer Drogen sonst nicht viel im Sinn hat und in der Wohnung seiner Schwester, unter Entzugserscheinungen leidend, Unterschlupf findet – gerade im Kinderzimmer der Tochter, die mit dem Gedanken spielt, mit ihrem Freund zum ersten Mal Sex zu haben.

Ein völlig verhobener Kraftakt

So schafft sich in diesem teilweise apokalyptischen Paranoia-, Drogen- und Breakout-Drama wohl jeder seinen eigenen Kreuzweg – mittendrin eine Vision, von der die ganze Geschichte mitsamt ihrer Figuren gar nichts mehr wissen will. Einiges ist an dieser Arbeit schief gegangen, vieles wirkt gewuchtet, herbeigezogen, heruntergestürzt. Wohin Alpha eigentlich will, erschließt sich nicht mehr. Geht es um die Familie, die Menschheit, um Golshifteh Farahanis Charakter, die Beziehung zu ihrem Bruder, um die neue Stufe einer Existenz, die Endzeit? Vielleicht auch einfach nur ums Erwachsenwerden? Es geht um alles. Alles buttert Ducournau in ihren Film und stülpt eines über das andere, in zeitlichem Durcheinander und so, als müsste sie die krasse Exzentrik von Titane unbedingt noch einmal toppen; als stünde sie unter vehementem Druck, auf einem atemberaubenden Niveau zu bleiben, ganz in ihrer rauen, lauten, brutalen Manier. Durch die Dichte des Films geht dabei auch jegliche Feinheit verloren. Weder entwickelt sich die junge Mélissa Boros so recht in ihrer Rolle noch Farahani. Tahar Rahim hingegen lebt den ausgemergelten Expressionismus wie schon Joaquin Phoenix in Joker – das übersteigert sich noch und wirkt letzten Endes nur noch verkrampft. Womit wir beim eigentlichen Schlagwort wären, der die geröllige Physiognomie des Films als gemeinsamen Nenner unter enormem Kraftaufwand gerade noch trägt: Diesem Krampf erliegt dieses zerfahrene Erlebnis letztlich vollends.

Bei Titane hat sich Ducournau auf ihre Intuition verlassen, Raw war dagegen so angenehm unbekümmert in ihrer Methodik und voller Neugier auf sich selbst. Alpha ist pure Anstrengung aus dem Kopf heraus und vergisst dabei völlig, sich von Intuition und Gefühl leiten zu lassen.

Alpha (2025)