Atlantique

WO SIND ALL DIE MÄNNER HIN?

7,5/10

 

atlantique© 2019 Netflix

 

LAND: SENEGAL, FRANKREICH, BELGIEN 2019

REGIE: MATI DIOP

CAST: MAMA SANÉ, IBRAHIMA TRAORE, AMINATA KANE, ABDOU BALDE, IBRAHIMA MBAYE, AMADOU MBOW U. A. 

 

Immer wieder stößt man vor allem bei weniger beworbenen Produktionen, die vielleicht gar nie bei uns im Kino liefen und wenn, dann nur zu Festivals, auf ausgesuchte Überraschungen. Eine solche Überraschung ist dieser Film aus dem frankophonen Afrika. Genauer gesagt aus dem Senegal. Afrikanische Filme werden ohnehin viel zu selten in den Kinos gezeigt, zum Glück gibt’s das Votivkino mit ihren frankophonen Filmwochen. Atlantique wurde übrigens bei den letztjährigen Filmfestspielen in Cannes präsentiert. Und kam in die Endauswahl für die goldene Palme. Die ging, wie wir wissen, an Bong Joon Ho. Blieb immer noch der Große Preis der Jury, den dieses filmische Kleinod gewann. Geradewegs weg von Cannes ging dieser Film dann mal auf Tauchstation, um wieder über die letzte Viennale bei Netflix zu erscheinen. Und nach Roma dürfte Atlantique wohl das künstlerisch Bemerkenswerteste sein, was dieser Streamingriese derzeit zu bieten hat.

Schauplatz ist Dakar. Die Hauptstadt des Senegal ist diesmal nicht das Ziel eines Racings quer durch die Wüste. Dakar, diese Metropole an der Küste, die wird in Atlantique dominiert von einem futuristischen Hotelgiganten als Symbol einer Zukunft, ganz im Stile des Burj al Arab in Dubai. Dieses Gebäude steht natürlich nicht wirklich dort, sieht obendrein noch aus wie ein gelandetes Raumschiff, fast so wie in Arrival. Um diesen Komplex herum wird eifrig gebaut, und dazu braucht es Männer, junge Männer, die aber schon drei Monate auf ihren Lohn warten und kurz davor sind, auf die Barrikaden zu steigen. Angesichts ihrer Schulden und ihrer ausweglosen Situation beschließen sie, den Sprung nach Europa zu wagen – mit einem Boot über den Atlantik, wie es sowieso schon viele junge Menschen aus Afrika tun. Zurück bleiben die Frauen, die jungen Mädchen. Zerrissen werden Beziehungen, Liebschaften, Freundschaften. Auch die der beiden Verliebten Ada und Suleiman. Doch Suleiman verschwindet, und Ada bleibt alleine zurück. Wie es ihr wohl geht, lässt sich kaum schwer nachvollziehen. Noch dazu wird sie zu einer arrangierten Heirat genötigt, mit einem neureichen Schnösel, der scheinbar alles hat, aber nur eines nicht – Seele. So zumindest scheint es. Was wird Ada wohl tun? Ihrem Geliebten hinterher reisen? Auf ihn warten? Sich selbst behaupten und beginnen, auf eigenen Beinen zu stehen? Doch bevor sich das junge Mädchen diese Fragen selbst beantworten kann, passiert etwas, was nicht zu erwarten ist, und das Diesseits bekommt Besuch.

Was dann eben eintritt, war nicht zu erwarten. Es ist eine Überraschung, aber wie durch ein Wunder eine, die auf Basis einer afrikanischen Lebens- und Geisteshaltung völlig selbstverständlich scheint. Afrika, das ist ein Kontinent, in welchem der Spiritismus zuhause ist, das Zwischendimensionale, das Mystische. Atlantique wird zu einem ebensolchen Parcourlauf, wobei sich die Frage stellt, ob das Paranormale, das hier Einzug in den Alltag hält, nicht sowieso immer schon da war. Wer die Filme des Thailänders Apichatpong Weerasethakul kennt, wird wissen, was ich meine. In Uncle Bonmee erinnert sich an seine früheren Leben ist der Zustand einer Grauzone zwischen den Dimensionen etwas völlig Normales. Das Zusammenleben mit Geistern und Dämonen nichts, wovor sich der Mensch zu fürchten hat. Er hat es nur zu verstehen. Und das ist gar nicht mal so einfach. In Ulrich Köhlers Schlafkrankheit passiert Ähnliches. Auch hier ist das Aufeinandertreffen von Mystik und Realität ein ganz eigenes Erlebnis, das über die Definition des Phantastischen hinausgeht, oder eine ganz eigene, bodenständige Richtung nimmt. Weil es fast schon glaubhaft erscheint. Weil man bei solchen Filmen tatsächlich das Übernatürliche dahinter als evident vermuten könnte. Regisseurin Mati Diop geht aber in ihrem augenscheinlichen, narrativ fast klassischen Liebesfilm noch einen Schritt weiter als nur filmische Seancen zu halten: Sie macht aus ihrem bezaubernd fotografierten, vom Staub der Straßen durchdrängten und gleichzeitig himmlisch funkelnden Kunstwerk eine Allegorie über den Ursprung einer Landesflucht, über den Beweggrund der Flüchtenden und das Ausmachen der Schuldigen. Wie Diop all diese verträumte, schlaftrunkene Symbolik zusammenmontiert, ist erstaunlich aufgeweckt, klug und mit viel Sympathie für ihre Figuren erzählt. Antlantique ist auch melancholisch, hat durchaus Suspense, lässt das Unbekannte aber nicht zwingend bedrohlich erscheinen. Dafür ist zu viel Liebe im Spiel, zu viel Sehnsucht. Atlantique ist unglaublich erfrischend, und das nicht nur aufgrund der Nähe zum Meer. Der Film setzt interessante, neue Impulse und wenn sich die beiden Liebenden in den Armen liegen, getaucht ins Licht einer Strandbar, dann ist das pure Filmpoesie von einem Kontinent, indem mehr das Sein als der Schein die konstante Devise ist.

Atlantique

Jupiter´s Moon

DA HILFT NUR NOCH EIN WUNDER

5/10

 

jupitersmoon© 2018 Thimfilm

 

LAND: UNGARN, DEUTSCHLAND 2017

REGIE: KORNÉL MANDRUCZÓ

CAST: MERAB NINIDZE, ZSOMBOR JÉGER, GYÖRGY CSERHALMI, MÓNIKA BALSAI U. A.

 

Was gibt es eigentlich Neues aus Syrien? Seit sich hier in Österreich das Wahlkampfgetrommel tagtäglich im Takt erhöht und – natürlich zurecht – der Klimawandel ganz oben auf den Agenden steht, finden die Entwicklungen im Nahen Osten maximal nur in den Kurzmeldungen Erwähnung. Solange sich dieser Bürgerkrieg nicht als Teil des Wahlprogramms mancher Grenzwallerrichter verwenden lässt, wie zum Beispiel die Rückholung des Nachwuchses ausgereister IS-Bewerber, bleiben diese Schicksale unter ferner liefen. Wenn da kein Wunder geschieht, ändert sich dort kaum etwas. Auf Wunder lässt sich aber bis zum St. Nimmerleinstag hoffen. Und wenn so ein Wunder eintritt, dann sind das die Skills bemerkenswerter Geistlicher, die dann posthum heilig werden. Bei Wundern fällt mir natürlich sofort Jesus von Nazareth ein, oder Pater Pio, der angeblich die Wundmale Christi trug. Ihr könnt das natürlich halten, wie ihr wollt: Aber gesetzt den Fall, es gab und gibt dieses Paranormale: Wie damit umgehen? Und wie lässt sich so ein Wunder überhaupt nutzen, vor allem in so prekären Situationen wie während einer Flucht? Hat man da überhaupt die Muße, sich näher damit auseinanderzusetzen?

Interessante Fragen, ein spannendes Szenario, das der ungarische Filmemacher Kornél Mundruczó in seinem metaphysischen Flüchtlingsdrama Jupiter´s Moon da formuliert und entworfen hat. In seinem Werk, dessen Titel Bezug nimmt auf den Eismond Europa, der mit hoher Wahrscheinlichkeit unter seinem kilometerdicken Eispanzer flüssiges Wasser verbirgt, wagen sich der Syrer Aryan und dessen Vater über die grüne Grenze nach Ungarn. Leider geht im entscheidenden Moment so einiges schief, und Aryan wird auf der Flucht weiter Richtung Westen erschossen. Doch er stirbt nicht, er überlebt trotz mehrerer Schüsse in die Brust. Und er kann plötzlich fliegen, oder sagen wir besser: schweben. Und nicht nur das: im Laufe der Zeit entwickelt er die Fähigkeit, nicht nur sich selbst den Gesetzen der Gravitation zu entziehen, sondern auch alles, was ihn unmittelbar umgibt.

Ratlos ist da nicht nur der ungarische Schauspieler Zsombor Jéger als hilfsbedürftiger X-Men, sondern auch der Zuseher. Warum und wozu genau der Syrer als Auserwählter dieses plötzliche, allen Gesetzmäßigkeiten der Physik zum Trotz erhaltene Wunderhandeln besitzt, hat für den Film, wie es aussieht, nicht so wirklich Relevanz. Ganz klar – Jupiter´s Moon ist eine Allegorie auf so manche Zustände an der Grenze zum sicheren Heil. Keine Ahnung natürlich, wie sich Flüchtlinge fühlen müssen, wie hoch der Rest ihres Selbstwertes denn überhaupt noch ist, ob sich dieser noch messen lässt. Und ob überhaupt noch das Prinzip Hoffnung eine Rolle spielt. Ich hoffe, diesen Zustand niemals erfahren zu müssen. Doch würde ich als Flüchtling den Wunsch verspüren, fliegen zu können? Vielleicht nicht, aber vielleicht würde ich denken: Ach, wäre ich doch ein Superheld. Wäre ich doch etwas Besonderes. Jemand, den man nicht übersehen kann. Der gleichzeitig über allem schwebt, die Dinge aus sicherer Distanz betrachtet, der vielleicht die Paradigmen umkehrt und der die Wertschätzung erhält, die ihm zusteht. Vielleicht ist das die Prämisse des eigenartigen, undurchsichtigen Streifens, der sich deutlich schwertut, seinen Willen zu formulieren.

Protagonist Aryan bleibt eine ratlose, verirrte, verstörte Figur. Sein Ziel ist es, seinen Vater zu finden, sein Weg aber kreuzt ihn mit dem eines in Ungnade gefallenen Arztes, der Flüchtlingen falsche Krankenakten ausstellt, um sie nach Europa zu retten. Mit Aryan wittert er das große Geschäft des Wunderheilens – klarer Fall von Scharlatanerie. Der Syrer macht vorerst mit, warum auch immer. Zsombor Jéger ist die Ratlosigkeit, die Orientierungslosigkeit in Person. Das überträgt sich auf den ganzen Film, der in verzweifelter Unfähigkeit, Ziele zu formulieren, in mehrere Richtungen gleichzeitig navigiert. Das ist konfus, und seltsam unnahbar. Da mag zwar eine noble Ambition hinter dem Projekt gesteckt haben – dafür manifestiert sich dieses Gleichnis als allzu verschwurbelt, diffus und unartikuliert, um die Bedeutungsschwere in vollem Ausmaß zu erfühlen. Bei Underdog ist Kornél Mundruczó diese Allegorie besser geglückt, der Plot, die Idee dahinter war begrenzter, kleiner und griffiger. Das Thema der Flüchtlingskrise so anzupacken scheint wie ein klarer Fall von fehlender Bodenhaftung.

Jupiter´s Moon

The Ballad of Buster Scruggs

SPIEL MIR DAS LIED VOM SCHICKSAL

8/10

 

THE BALLAD OF BUSTER SCRUGGS© 2018 Netflix

 

LAND: USA 2018

DREHBUCH UND REGIE: JOEL & ETHAN COEN

CAST: TIM BLAKE NELSON, JAMES FRANCO, LIAM NEESON, TOM WAITS, ZOE KAZAN, BRANDON GLEESON. SAUL RUBINEK U. A.

 

Also ehrlich, das wäre doch was. Eine Neuverfilmung des Comics Lucky Luke unter der Regie von Joel und Ethan Coen. Das könnte ich mir durchaus vorstellen, womöglich aber kaum unter FSK 16 – das wäre ein Lucky Luke von der zwar schrägen, aber durchaus blutigeren Sorte. Ganz im Stile der ersten Erzählung im Rahmen eines vielgestaltigen Westerns, der da endlich wieder unter den Fittichen der beiden gelockten Masterminds über den Bildschirm stiefelt. Leider nicht über die große Leinwand, denn das war nur den Besuchern der Filmfestspiele von Venedig vorbehalten. Wir Endverbraucher können nur mit einem Stream via Netflix in den Genuss dieses bemerkenswerten Episodenfilmes kommen, und zwar exklusiv via Netflix. Da gibt es keine anderen Möglichkeiten. Das ist schon ziemlich raffgierig, dann sollte Netflix zumindest eine Kinokette eröffnen oder sich in anderen Ketten einkaufen, damit nicht nur das alternativlose Abo der einzige Weg nach Westen bleibt. Denn mit The Ballad of Buster Scruggs sind die Coens wieder ganz dick im Geschäft. Da bin ich ohne viel Überredungskunst sehr schnell bereit, den letzten Film aus 2016, nämlich Hail, Cäsar!, wieder ganz schnell zu vergessen. Überzeugt hat mich diese dünnsuppige Hollywood-Hommage nämlich überhaupt nicht. Die so eigenwillige wie genüssliche Anthologie aus dem Wilden Westen hingegen schon. Und ich wage sogar zu behaupten, diese ganz lässig im Sattel sitzende Fingerübung mit selbstverständlich einem Originaldrehbuch ist das Beste seit A Serious Man. Ganz die unverkennbare Handschrift, ganz der zynische, schwarze Humor. Und ganz die melancholische Lakonie, die in ihren Filmen stets ihre künstlerische Raffinesse am deutlichsten feiert.

Worin Joel und Ethan Coen für uns geschmackvoll blättern, das ist ein altes Buch gesammelter Kurzgeschichten, um die Jahrhundertwende verlegt. Für Bibliophile womöglich interessant, wäre es im Antiquariat erhältlich. Einzelne kolorierte Farbtableaus, geschützt mit Reißpapier. The Ballad of Buster Scruggs ist dabei nur die erste von insgesamt sechs Episoden, die unterschiedlicher nicht sein können, sich untereinander auch kein Crossover bescheren und aus den unterschiedlichsten Himmelsrichtungen quer durch ein unwirtliches und gleichzeitig idyllisches Amerika wandern. Hineingepfeffert in dieses endlose Nirgendwo: der versprengte Mensch. Gemeinsam haben sie neben des Umherziehens, Vagabundierens und Irrens vor allem eines mit im Gepäck: die Ironie des Schicksals. Zu einer Zeit, in der Leben und Tod fast schon zur Grauzone einer unsicheren Existenz verschmolzen sind, kann das Glück sehr kurzlebig sein. Zukunft war womöglich etwas, worauf man sich nicht verlassen durfte. Ein gemachter Pionier war sehr schnell ein toter Pionier. Und die, die gut mit dem Schießeisen umgehen konnten, die trafen dann irgendwann auf jene, die das noch besser konnten. Ein Leben und Sterben lassen, vereint in einer messerscharfen filmischen Anthologie über den Westen. Und zwar so, wie er selten zu sehen ist. Manchmal hat The Ballad of Buster Scruggs etwas von den sarkastischen Stelldicheins eines raubeinigen Italowesterns, manchmal etwas von den redseligen Eskapaden eines Tarantino. Doch meist finden die Coens wieder zu ihrem Stil zurück, ohne Hommage an irgendwen sonst sein zu wollen. Dieser mehr als zweistündige Reigen des Willens, Unwillens und einer Art Schicksalsergebenheit stellt seine traurigen, verblendeten und idealistischen Gestalten, die allesamt wundervoll gecastet und gegen den Typ besetzt sind, vom Regen in die Traufe. Dieses weite, feindselige, unnahbare Land, in das die Sehnsuchtsvollen aufbrechen, scheint leere Versprechungen zu bergen und nur den wenigsten Gnade zu gewähren. Das ist ein Amerika des Wilden Westens, das völlige andere Randgeschichten erzählt, im sozialen Abseits, eingebettet in Bildern, durch die John Wayne und seine hemdsärmeligen Cowboykollegen bereits in bestem Cinemascope vorbeigeritten sind. Die Regiearbeit ändert Blickwinkel und behält sie dennoch bei. Als wäre der Focus längst nicht mehr der auf die der großen Helden, sondern auf begleitende Zaungäste, die auch so gamblen wollen wie jene, die als Ikonen des Westens längst verherrlicht wurden.

Was daraus wird, ist ein bizarres Panoptikum zwischen knarzenden Salontüren, staubigen Ebenen und dem Recht des Stärkeren. Zwischen Goldrausch, Armut und einem Herz für Hunde. Dazwischen kauzige Country-Balladen in verklärender Romantik, die sich selbst persifliert. In den besten Momenten hat Buster Scruggs dieses märchenhaft Entrückte wie in O Brother where art thou?. Dann ist dieser Film wie ein stockdunkler Song von Johnny Cash, der aber so klingt wie ein tänzelnder Salon-Gig auf dem verstimmten Pianino in irgendeiner Spelunke, und der dann endet, wenn irgendeiner auf den staubigen Brettern liegt.

The Ballad of Buster Scruggs

Underdog

APOKALYPSE WAU

7/10

 

weissergott2© 2014 Delphi Filmverleih

 

LAND: UNGARN 2014

REGIE: KORNÉL MANDRUCZÓ

MIT ZSÓFIA PSOTTA, ZSÁNDOR ZSÓTÉR, KORNÉL MANDRUCZÓ, LILI HORVÁTH, LILI MONORI U. A.

 

Eben erst haben die diversesten Hunderassen in Wes Anderson´s utopischem Puppen-Mandala Isle of Dogs – Ataris Reise den Aufstand geprobt. Dabei gab es vor einigen Jahren bereits einen anderen, thematisch ähnlichen Film, der das Wesen des Hundes und seine Beziehung zu den Menschen auf eine gesellschaftspolitische Ebene hob. 2014 entstand im filmisch eher kleinlaut tönenden Land Ungarn die allegorische Parabel Fehér Isten, was soviel heißt wie Weißer Gott und hierzulande, also im deutschsprachigen Raum, mit Underdog betitelt wurde. Sowohl die eine als auch die andere Bezeichnung des Filmes ist passend, Weißer Gott trifft es aber eher, und war auch die ursprüngliche Wahl von Regisseur Kornél Mandruczó, dessen neuester Streifen Jupiter´s Moon in den österreichischen Kinos auf ungerechtfertigt wenig Aufmerksamkeit stieß.

Weißer Gott beginnt mit einem postapokalyptischen Szenario – wir sehen ein menschenleeres Budapest, verlassene Autos, deren Blinker immer noch an sind. Plötzlich ein Mädchen auf dem Fahrrad. Wäre das verlassene Auto nicht, könnte die Radlerin auch an einem Sonntag sehr früh aufgestanden sein – doch Sekunden später wissen wir, dass dem nicht so ist. Das Mädchen wird verfolgt von einer nicht enden wollenden Meute wilder Hunde. Die Aggressoren haben aber auch wirklich jeden Grund dazu, wütend zu sein. Im Zentrum steht die Promenadenmischung Hagen, die vom Vater der pupertären Lili erstmal nur gebilligt, dann missbilligt und folglich am Rande von Budapest ausgesetzt wird. Auf der verzweifelten Suche nach Nahrung kommt der Shar Pei-Retriever-Mischling tatsächlich in Teufels Küche, wo er Hackebeilen ausweichen muss. Wie ein vierbeiniger Oliver Twist wird der Hund fortan von einem Peiniger zum Nächsten gereicht, vom Sklaventreiber zum Hundekampftrainer. Zwischendurch müssen er und seine Leidensgenossen vor den Hundefängern flüchten, die wenig zimperlich ihre Arbeit erledigen wollen. Der Mensch, so erfährt Hagen, ist ein sadistisches, knechtendes Scheusal. Machgierig, eigennützig, erbarmungslos. Viel braucht es nicht mehr, und die ausgestoßenen, weil gemischtrassigen Vierbeiner tun sich zusammen – um dem „Weißen Gott“ zu zeigen, dass der Spieß sehr schnell umgedreht werden kann.

Immer noch ist der Hund ein Raubtier. Ein domestiziertes zwar, aber im Grunde seines Wesens ein archaisches Kraftpaket, schnell und wendig und mit einem Gespür für jene Angst, die von ihren Herren ausgeht. Mundruczó distanziert sich bewusst von den anthropomorphisierten Darstellungen von Hunden, die vor allem in Hollywood und insbesondere bei Disney gang und gäbe sind. Seine tierischen Stars können weder sprechen noch tun sie Dinge, die Menschen ihnen gerne andichten. Das einzige was sie tun, ist, sich zusammenrotten und gezielten Terror verbreiten. Spätestens hier wird Weißer Gott zur mysteriösen Chronik eines Ausnahmezustandes, der so unmöglich tatsächlich passieren kann und der endzeitliche Tendenzen aufweist, diese aber nicht wirklich bis zu letzten Konsequenz auslebt. Die Eroberung Budapests bleibt aus, die Zuspitzung ins Bizarre wäre womöglich misslungen, als mögliches, weil vielleicht gar nicht gewolltes Pamphlet gegen die Ideale einer Victor Orban-Regierung funktioniert Weißer Gott aber auch so, wenn auch entschärft. Obwohl in Anbetracht der Wiederwahl eines Rechtspopulisten eine nachhaltig tierische Pedigree-Revolution wohl noch mehr befreiender Zündstoff gewesen wäre.

Weißer Gott ist eine stringente Parabel auf Rassismus, Unterdrückung und Ignoranz. Nimmt sich viel Zeit, um zu beobachten und lässt sich nicht drängen, die Initiative ergreifen zu lassen, trotz all der animalischen Wut, die den Zuschauer befällt. Dass angesichts all dieser teils heftigen Tierszenen wirklich keine Hunde zu Schaden gekommen sind, wie nach jedem Film pflichtgemäß im Abspann deklariert wird, ist kaum zu glauben. Gut, mit Hunden lässt sich so manches Kunststück bewerkstelligen. Hunde sind angefangen von Benji bis zu Lassie die wohl dankbarsten tierischen Darsteller – weil sie sich perfekt abrichten lassen, weil sie lernen und gehorsam sind. Doch Vorsicht an alle Hundeliebhaber und all jene, die gerne Hundefilme wie Beethoven, Marley & ich, Scott & Huutch oder Pets in ihrer DVDthek wissen – Weißer Gott ist was ganz anderes und wird so manches Frauchen oder Herrchen mit Sicherheit verstören. Ihrem „besten Freund des Menschen“ als indikativer Spiegel der Gesellschaft aber wären sie womöglich dankbarer als zuvor.

Underdog