Die Farben der Zeit (2025)

VOM ERAHNEN DER AHNEN

8/10


© 2025 Constantin Film


ORIGINALTITEL: LA VENUE DE L’AVENIR

LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2025

REGIE: CÉDRIC KLAPISCH

DREHBUCH: CÉDRIC KLAPISCH, SANTIAGO AMIGORENA

CAST: SUZANNE LINDON, ABRAHAM WAPLER, VINCENT MACAIGNE, JULIA PIATON, ZINEDINE SOUALEM, PAUL KIRCHER, VASSILI SCHNEIDER, SARA GIRAUDEAU, CÉCILE DE FRANCE, CLAIRE POMMET U. A.

LÄNGE: 2 STD 4 MIN 


Natürlich hatten die Leute des vorvorigen Jahrhunderts so einiges nicht. Keine Versicherungen, keine Sozialhilfe, keine flächendeckende gesundheitliche Versorgung und vor allem keine Frauenrechte. Damals, im Schatten der Industrialisierung und der aufkommenden alternativen Medien wie jene der Fotografie und des Films, fielen ganz ähnliche Sätze wie sie heutzutage fortschrittskritischen Denkerinnen und Denkern in den Sinn kommen würden. „Wohin soll das alles führen?“, fragt in Die Farben der Zeit ein Kutscher die junge Adéle, und wundert sich, wie schnelllebig die Welt doch geworden ist. Würde dieser ältere Herr, der seinen Gaul gemächlich durch ein spätsommerliches Nordfrankreich treibt, das Heute erleben, würde er, bevor ihn womöglich der Schlag träfe, seine Ansichten relativieren. Denn das, was in diesem Heute so alles an Umbrüchen stattfindet, wäre damals nicht mal noch Science-Fiction gewesen.

Ein Haus als gemeinsamer Nenner

Im wohl aus meiner Sicht wunderbarsten französischen Film des Jahres wagt Autorenfilmer Cédric Klapisch (u. a. L’auberge espanol, Der Wein und der Wind) die Probe aufs Exempel – und konfrontiert das längst Vergangene mit der Gegenwart. Angesichts dieser Diskrepanzen und angetrieben von unserer Sehnsucht nach Entschleunigung und Wahrhaftigkeit, die dank KI immer mehr abhandenkommt, schafft man es einfach nicht, sich die romantisierende rosarote Brille vom Nasenrücken zu reißen, so pittoresk, geerdet und überschaubar mutet dieses Frankreich knapp vor der Jahrhundertwende an. Es ist die Kunstepoche des Impressionismus, des neuen Mediums der Fotografie. Inmitten dieser aufblühenden Ära verlässt die gerade mal zwanzigjährige Adéle nach dem Tod ihrer Großmutter das geerbte Zuhause inmitten der ruralen Normandie, um im umtriebigen Paris nach ihrer Mutter zu suchen, die sie Zeit ihres bisherigen Lebens niemals kennengelernt hat.

Das ist aber nur die eine Seite des Films, konserviert in einem für mehr als ein Jahrhundert leerstehenden Gebäude voller Schriften, Fotografien und einem Gemälde, das frappant an einen großen Meister erinnert. Die andere Seite ist die Gegenwart – kantig, blaugrau, schnelllebig. Adéles Nachfahren werden zu einem Notariatstermin zusammengerufen, rund fünfzig Personen, die sich untereinander kaum kennen, obwohl sie doch alle verwandt sind. Man sieht, was 100 Jahre Leben ausmachen. Ein ganzes kleines Dorf wird lebendig – mehrere Generationen, einander völlig fremd und doch vereint. Dieses Haus in der Normandie, lange Zeit leerstehend, soll einem Parkplatz weichen, doch geschieht das nur mit dem Einverständnis der Erben. Fünf der Nachkommen machen sich auf den Weg dorthin, knacken die Zeitkapsel – und stoßen auf nicht nur ein, sondern gleich auf mehrere verblüffende Begebenheiten aus dem Leben einer Ahnin, die das damalige Zeitbild wie keine andere mit ihrer eigenen Biographie verwoben hat.

Was vom Damals übrig bleibt

Wenn schon nicht die elegante, gemächliche, aber niemals langweilig werdende Geschichte einer erkenntnisreichen Städtereise auf narrativem Wege das eigene Gemüt berührt, so ist es zumindest die hommierende Bildsprache, welche die Zeit handkolorierter Fotografien lebendig werden lässt. Sehen wir die Rückblenden auf Adéle, sehen die Bilder aus wie gefärbte Schwarzweißfotografien, wie alte Postkarten, die man am Antiquitätenmarkt findet. Anfangs wandelt die bezaubernde Suzanne Lindon in einem herausstechend roten Kleid durch die liebevoll ausgestalteten Kulissen einer überidealisierten Theaterstadt. Das ist so ergreifend schön, dass man es kaum erträgt, wenn Klapisch diesen Traum vom Gestern wieder einstürzen lässt und die allzu vertraute Gegenwart aus ausdrucksloser Kleidung, schnellem Essen und Techno-Beats dagegensetzt. Nein, hier herrschen, obwohl man es erwartet hätte, keine sanften Übergänge vor, die das Vergangene mit dem Heute verschmelzen lassen – die Brüche schmerzen, und schaffen erst so die richtige Distanz zwischen den Zeiten. Als Brücke dienen allein die Erben, die in der Vergangenheit stöbern und das Bild eines Lebens rekonstruieren – und Sängerin Pomme, die, mit den fließenden Gewässern der Seine im Hintergrund, den Chanson in seiner melancholischen Zerbrechlichkeit zeitlos werden lässt.

Wie Klapisch dann diese für all die Nachkommen so bedeutende Existenz mit der Kunstgeschichte verknüpft und einem großen impressionistischen Meister auf blumige Weise huldigt, hätte zwar gar nicht mal sein müssen, macht das Werk aber noch spezieller, noch relevanter, letztlich einfach märchenhaft und so eindrucksvoll, dass man den Eindruck gewinnt, dass früher einfach alles besser gewesen sein muss. Die Farben der Zeit sind einfach die schöneren – keine Nuance fehlt, um ein Filmbildnis wie dieses perfekt zu machen.

Die Farben der Zeit (2025)

Eine grössere Welt

DIE MIT DEM WOLF TANZT

7,5/10

 

einegroesserewelt© 2019 MFA+ Filmdistribution e. K. 

 

LAND: FRANKREICh, BELGIEN 2019

REGIE: FABIENNE BERTHAUD

CAST: CÉCILE DE FRANCE, NARANTSETSEG DASH, TSERENDARIZAV DASHNYAM, ARIEH WORTHALTER, LUDIVINE SAGNIER U. A. 

 

Was, wenn man verzweifelt versucht, einer nicht enden wollenden Lebenskrise zu entkommen? Alkohol, Drogen? Vielleicht auf bekömmlicheren Wegen wie Esoterik? So bekömmlich muss Esoterik gar nicht sein, durchaus kanns da passieren, dass Probleme nur noch schlimmer werden, kommt ganz darauf an, welche Quelle man hier ansteuert. Esoterik – diese Bezeichnung ist immer etwas abschätzig. Esoterik wird sehr gerne mitleidig belächelt. Allerdings – alles über einen Kamm scheren könnte dazu führen, dass das eine oder andere ernstzunehmende Detail leicht übersehen wird. Denn sicher ist: ausgelernt haben wir in Punkto Weltverständnis alle nicht. Es wäre vermessen, so etwas zu behaupten. Dabei lohnt es sich, mal hinzuhören oder hinzusehen, wie Fabienne Berthaud mit ihrem Film Eine größere Welt fernab jeglichen Humbugs dem grundlegend skeptischen, weil intellektuellen Kinogeher beizubringen versucht, um die Ecke zu denken.

Ihr Film erzählt die wahre Geschichte der in tiefe Trauer gefallenen Tontechnikerin Corine, die ihren an Krebs erkrankten Ehemann zu Grabe tragen musste. Nichts lässt diese Trauer versiegen. Wenn der Lebensmensch geht, ist kaum ein Weiterleben möglich. Wäre da nicht dieses Jobangebot ihres guten Freundes, für etwaige ethnographische Tonaufnahmen in die Mongolei zu reisen, um dem Ritual einer Schamanin beizuwohnen. Schamanismus – das ist doch die Möglichkeit, zwischen den Dimensionen hin und her zu reisen? Womöglich auch die Fähigkeit, Kontakte mit Verstorbenen aufzunehmen. Seelen bleiben da nicht nur unangreifbare Manifestationen einer Hoffnung auf das Transzendente, sondern werden zu Gesprächspartnern. Corine greift jeden Strohhalm, den sie kriegen kann, um die Liebe ihres Lebens wiederzusehen – und macht sich auf die Reise. Nur passieren dort Dinge in der Spitzjurtensiedlung der Tsaatan, die ein uns wohlbekanntes Weltbild erschüttern. Und Corine muss feststellen, dass sie im Grunde selbst jemand ist, der das Zeug hat, zwischen den Welten zu gehen. In eine noch größere als die unsrige hinein – und hoffentlich auch wieder heraus.

Mangels Vorrecherche, das gebe ich zu, wurde mir erst am Ende des Filmes klar, dass all das Gesehene auf wahren Begebenheiten beruht. Und Corine Sombrun es tatsächlich geschafft hat, die Terra Incognita des Trancezustandes für die Wissenschaft erstmalig relevant zu machen. Wenn man so will, ist Eine größere Welt der etwas andere Abenteuerfilm – eine spannende und packende Reise in eine fremde Kultur und an einen anderen Aussichtspunkt auf eine vertraute Realität, die so noch nicht fertig durchdacht sein kann. Skeptiker können natürlich davon halten, was sie wollen. So, wie Berthaud dieses Phänomen schildert, hat das weder etwas Reißerisches, noch Kitschiges noch plump Magisches. Ganz im Gegenteil: Sie konfrontiert ihr Publikum mit unverhohlener Neugier und einer wenig entrückten Unvoreingenommenheit. Ihr Blick ist ein von Vorurteilen völlig entrümpelter. Dazu kommt natürlich die beeindruckende und natürliche Performance von Schauspielerin Cécile de France, die das Glück hat, ihren darzustellenden Filmcharakter vollends verstehen zu können, vielleicht, weil sie von Grund auf selbst weltoffen genug ist. Das ist nicht nur die Rolle in einem Spielfilm, sondern auch jene einer rekonstruierten Dokumentation.

Für alle, die sich angesichts des aktuellen Wissensstands über unsere Welt noch nicht zurücklehnen oder noch nicht bemerken wollen, dass alle Geheimnisse bereits gelüftet sind, die aber auch nicht in nachhaltigem magischen Denken verweilen, sondern einfach an neuen Erkenntnissen interessiert sind, dem sei Eine größere Welt ehrlich und aufrichtig ans Herz gelegt. Einen schöneren Film über unsere und die Existenz der anderen wird man derzeit im Kino wohl kaum finden.

Eine grössere Welt