La Bête (2023)

DEM TRAUMA HINTERHERGEJAGT

8/10


Labete© 2023 Arte Fránce Cinema


LAND / JAHR: FRANKREICH, KANADA 2023

REGIE: BERTRAND BONELLO

DREHBUCH: BERTRAND BONELLO, GUILLAUME BRÉAUD, BENJAMIN CHARBIT – NACH DER KURZGESCHICHTE VON HENRY JAMES

CAST: LÉA SEYDOUX, GEORGE MACKAY, GUSLAGIE MALANDA, ELINA LÖWENSOHN, DASHA NEKRASOVA, MARTIN SCALI, MARTA HOSKINS, JULIA FAURE, KESTER LOVELACE U. A.

LÄNGE: 2 STD 26 MIN


Ein lieber Verwandter von mir, der die Leidenschaft für Filme ähnlich auslebt wie meine Wenigkeit, hat die Werke Bertrand Bonellos mit einem Wort umschrieben, welches vor allem für sein jüngstes Werk treffender wohl nicht ausfallen könnte: Wundertüte. Was der Franzose, auf dessen Konto Nocturama oder Zombi Child geht, hier alles in seinen Psychotrip buttert, füllt vielleicht auch, wie Forrest Gump sagen würde, eine Schachtel Pralinen. Wundertüte schmeckt mir aber besser. Denn La Bête (engl. The Beast) ist weniger süß und wohlschmeckend wie Schokolade, dafür aber so verwunderlich wie ein absurder Traum, dessen Kern Referenzen in der Realität aufweist, von der man nicht so genau weiß, ob man ihr vertrauen kann. Lose inspiriert von Henry James Kurzgeschichte Das Tier im Dschungel setzte Bonello eine höchst eigentümliche Zukunftsvision in Gang, in der die französische Hauptstadt so aussieht, als wären wir abermals im Lockdown. Nicht nur das: Nur mit Maske – Gasmaske? – lässt es sich außer Haus gehen, soziale Interaktion ist ein Unding aus früheren Zeiten. Und Emotionen sowieso eine Frage der Unzulänglichkeit. Wir schreiben das Jahr 2044 – so zeigt es ein Insert. Künstliche Intelligenz scheint vieles aus unserem Alltag, wie wir ihn kennen, übernommen zu haben. Die nüchterne Vorgehensweise der High-Tech-Gehirne dient als Vorbild für den Menschen, der sich nicht mehr von seinen eigenen irrationalen Gefühlen leiten lassen darf und soll. Daher gibt es spezielle Sitzungen: es sind Reisen in frühere Leben, in denen Traumata nisten, die durchlebt werden müssen, um sie aufzulösen und zu zertrümmern wie einen Nierenstein. In dieser Welt des Bertrand Bonello ist Reinkarnation also Gewissheit und das Hindurchwirken früherer Leben der Grund für unkontrollierte Impulsivität, die dem Bestreben im Weg steht, sich den Verhaltensweisen künstlicher Intelligenz anzupassen – und eben nicht umgekehrt.

So liegt Léa Seydoux in einem mit einer gallertartigen Flüssigkeit gefüllten Becken und wartet darauf, in frühere Leben katapultiert zu werden, während eine Sonde in ihr rechtes Ohr fährt. Erinnerungen an die obskuren, biomechanischen Filmwelten eines David Cronenberg werden wach, doch allerdings nur in Anbetracht dieses Aspekts. Schon schreibt der Film das Jahr 1910, es ist das Jahr, als Paris überflutet wurde. Gabrielle, die Gattin eines Puppenfabrikanten, trifft während einer Festveranstaltung der Pariser Aristokratie auf einen Mann namens Louis Lewinsky, den sie zwar dem ersten Eindruck nach nicht kennt, er aber sie. Beim Gespräch erinnern sich schließlich beide an ein Zusammentreffen vor einem halben Jahr, und an eine dunkle Vorahnung von seitens Gabrielle, die damals schon wusste, dass sich eine verheerende Katastrophe anbahnen wird. In Verbindung steht diese Prophezeiung mit dem Auftreten eines Biests, eines monströsen Wesens, das Tod und Verderben bringt.

Dieser erste Teil eines höchst rätselhaften Films ist schon seltsam genug. Das kryptische Spiel der Erinnerung und der Vorahnung lässt Alain Resnais Letztes Jahr in Marienbad aufleben, nur nicht in Schwarzweiß. Die Flut wird kommen, doch das ist nicht die große Katastrophe. Dieser Schatten des Unbehagens beobachtet Bonellos Film von außen; es ist, als säße man mit einer abstrakten Entität im dunklen Nichts des Kinosaals. Es fühlt sich an, als wäre La Bête aus den Traumnotizen eines David Lynch entstanden. Ganz deutlich wird dieser Umstand beim plötzlichen Wechsel des Schauplatzes. Im Jahr 2014 in Santa Barbara, Kalifornien, ist Gabrielle immer noch Gabrielle, aber eine ganz andere Persönlichkeit – eine, die versucht, als Schauspielerin Fuß zu fassen. Irgendwo anders geistert Louis Lewinsky als ebenfalls jemand ganz anderer durchs Geschehen und filmt sich dabei in seinem Selbstmitleid, auf ewig die einsame Jungfrau zu bleiben.

Wie das alles zusammenpasst? Wie ein abstrakter Traum, den man als unangenehm empfindet, der sich nur schwer erschließen lässt. La Bête ist ein Film, der anfangs ordentlich Schwierigkeiten macht, sich mit ihm anzufreunden. Doch das muss man gar nicht. Vielleicht wäre es besser, sich nur darauf einzulassen, Erwartungshaltungen außen vor zu lassen, die Ungeduld anderen zu überlassen. Wie die Identitätswechsel in Mulholland Drive und die surrealen, alptraumhaften Bedrohungen, die Naomi Watts durchleben muss, so bietet auch Bonellos Existenz-Horror, der aber genauso gut spielerische Romanze und technologischer Thriller ist, das unheimliche Mysterium eines aus der Zeit gehobenen Ist-Zustandes, in dem Léa Seydoux mehrere Persönlichkeiten in sich trägt. George McKay als Verehrer, Eindringling und bekannter Unbekannter ist da nicht weniger gespenstisch. Doch anders als David Lynch, der sich aus Science-Fiction sowieso nicht viel gemacht hat (sieht man mal von Dune ab), fügt Bonello noch eben diese Komponente hinzu: das stalkende, manipulative Bewusstsein einer abgründigen Technologie.

Ob das schon alles war? Natürlich nicht. Auch das Thema Film im Film – wie bei Lynch – bietet eine zusätzliche Ebene, das Unbehagen wächst, die Wundertüte reißt auf, das Innenleben zersplittert auf dem Kachelboden wie eine Ming-Vase. Tausend Scherben, und doch gehören sie alle zusammen, ergeben ein Ganzes und führen zu einer erschütternden Erkenntnis, die Seydoux als sagenhaft gute Scream Queen, gefangen im Alptraum, einen markerschütternden Urschrei entlockt, als wäre ein gigantischer Gorilla drauf und dran, sie zu packen. La Bête ist vieles, vor allem aber ein Erlebnis, das in seinem wechselnden Rhythmus aus kostümierter Opulenz, Zukunftsangst und psychopathischer Hässlichkeit erschaudern lässt.

La Bête (2023)

Mittagsstunde (2022)

HIGH NOON MIT DEM DAMALS

7,5/10


mittagsstunde© 2022 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2022

REGIE: LARS JESSEN

DREHBUCH: CATHARINA JUNK, NACH DEM ROMAN VON DÖRTE HANSEN

CAST: CHARLY HÜBNER, GRO SWANTJE KOHLHOF, PETER FRANKE, HILDEGARD SCHMAHL, GABRIELA MARIA SCHMEIDE, RAINER BOCK, LENNARD CONRAD, JULIKA JENKINS U. A.

LÄNGE: 1 STD 37 MIN


Gerade erst hat Schauspieler Charly Hübner sein Regiedebüt hingelegt – die Verfilmung von Thees Uhlmanns postmoderner Jedermann-Version: Sophia, der Tod und ich. Nur lebt und stirbt hier kein reicher Mann, sondern ein durch den Rost des Lebens gefallener Taugenichts, der selbst gegen den Sensenmann kaum Argumente gegen sein Ableben ins Feld führen kann. Die Idee einer Bad Batch aus Ex-Freundin, Mutter und Tod mag zwar witzig klingen, gerät aber zum Frosch im Hals. Weniger schwer schlucken muss Hübner allerdings als Schauspieler, und zwar ganz besonders um die Mittagsstunde, wenn es heißt, bei den Altvorderen nach dem Rechten zu sehen.

Mudder und Vadder, wie er sie nennt, leben mehr schlecht als recht in einem nordfriesischen Kaff fast schon jenseits der Zivilisation, in welchem die besten Zeiten längst vorbei sind, die Läden alle dicht gemacht haben und das Wirtshaus am Rande der Straße nur noch das Echo vergangener Full House-Abende erklingen lässt. Dieses gehört schließlich dem alten, geistig noch nicht ganz verwirrten Sönke Feddersen, seines Zeichens eben besagter Vadder von Ingwer (Charly Hübner), der sich eine Auszeit von seinem Job als Archäologieprofessor nimmt und vorübergehend ins für die Ewigkeit recht schlecht konservierte Nirgendwo zieht. Die leere Gaststube beherbergt jede Menge Erinnerungen, die Fassade des Kreislers, bei dem’s früher Eis am Stiel gab, vermittelt lediglich wehmütige Gedanken an eine Kindheit, in der eine junge Frau namens Marret (Gro Swantje Kohlhof) eine ganz gewisse Rolle innehatte. Nur welche, ist bis heute nicht klar. Ingwers Mutter (Hildegard Schmahl) wiederum leidet an hochgradiger Demenz und ist kaum mehr ansprechbar. Nicht nur, aber auch deshalb, will der wortkarge Professor eine gewisse unausgesprochene Schuld begleichen, deren Ursache sich erst nach und nach und viele Rückblenden später auch für den Zuseher erschließt.

Viel passiert nicht, in Lars Jessens Verfilmung von Dörte Hansens komplentativer Studie über Erinnerung und Vergänglichkeit. Die Zeit scheint dort oben im hohen Norden Deutschlands langsamer abzulaufen als sonst wo. Anfangs erscheinen Ingwers Eltern, insbesondere der Alte, störrisch, mürrisch und undankbar. Schwer, sich auch nur mit irgendeinem der Charaktere, die hier durch ein erschöpftes Leben schlurfen, anzufreunden oder den Drang zu verspüren, sich mit dieser Familie auseinandersetzen zu wollen. Doch Jessen lässt sich Zeit und weiß haargenau, welche Momente wann einen Einblick gewähren müssen. In Kombination mit einer längst vergangenen Zeit, einer wenig verklärten Siebziger-Zeitkapsel, die in immerwährenden narrativen Impulsen das Bild einer durchaus seltsamen Familie ergänzt, entsteht so eine unerwartete, fast schon überrumpelnde Nähe zu Menschen, die das Produkt ihrer Zeit, ihrer Pflichten und ihres sozialen Umfelds sind. Doch dieser realistische, völlig unverkrampfte Blick auf das Ungefällige, Introvertierte einer Gemeinschaft, birgt eine befreiende Ehrlichkeit, die fast schon zu intim scheint, um hier, in diesen Mikrokosmos, hineinblicken zu dürfen. Wie in Michael Hanekes gefeiertem Drama Liebe spiegelt das Alter nicht die Person wider, die mit dem körperlichen wie geistigen Zerfall umgehen muss, sondern nur deren verwittertes Fundament. Der Blick zurück auf die andere Zeitebene vollendet allerdings das Bild dieser Leute – und man beginnt zu verstehen.

Mittagsstunde ist pures, deutsches Kino, empfindsamer Heimatfilm und die trotzige Analyse einer Familie, die nicht so war, wie sie zu sein schien. Hinter all diesem vergilbten Fotoalbum voller sozialer Interaktionen führt das große Geheimnis geradewegs zu einem epischen, ganz großen Drama, doch immer noch still, unauffällig für andere, und gerne für sich. Kino, das niemanden braucht, aber wir es umso mehr.

Mittagsstunde (2022)

The Fabelmans (2022)

DER HORIZONT DES FILMEMACHERS

7,5/10


thefabelmans2© 2022 Storyteller Distribution Co., LLC. All Rights Reserved


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: STEVEN SPIELBERG

BUCH: STEVEN SPIELBERG, TONY KUSHNER

CAST: GABRIEL LABELLE, MICHELLE WILLIAMS, PAUL DANO, SETH ROGEN, JULIA BUTTERS, KEELEY KARSTEN, JUDD HIRSCH, DAVID LYNCH, JEANNIE BERLIN, OAKES FEGLEY, GABRIEL BATEMAN U. A.

LÄNGE: 2 STD 31 MIN


Wie coacht man eigentlich die eigene Meinung zu einem Film, der bei Publikum und Kritikern bereits als Klassiker hofiert wird? Ist es da überhaupt möglich, die eigene, vielleicht gänzlich andere Meinung für sich selbst zu akzeptieren, wenn der Druck von außen, das Werk gut finden zu müssen, langsam unerträglich wird? Leicht ist das nicht, sich von all dem loszulösen, was in der Meinungsfindung befangen macht oder die Sicht auf das gerade Sehende beeinflusst. Am besten nichts mitbekommen, doch das klappt nur selten. Zwischen Das muss auch mir wahnsinnig gut gefallen und Das gefällt mir genau deswegen nicht mag die Treibjagd der eigenen Meinung losbrechen. Objektiv subjektiv zu bleiben: vergesst es.

Wie man auch zu welchem Entschluss kommt – es geht schließlich nur um Filme. Doch Filme können ein Leben sein. Oder das Leben beeinflussen. Auf jeden Fall sind sie leicht das Objekt einer – wie zum Beispiel meiner – Leidenschaft. Oder die des Steven Spielberg – nur vom anderen Ende aus betrachtet, vom anderen Punkt am Horizont, der tunlichst nicht in der Mitte liegen darf, denn sonst ist es „scheißlangweilig“.

Spielberg zählt für mich zu den aktuell besten Regisseuren der Welt. Ich würde sogar so weit gehen, ihn als ein Universalgenie zu bezeichnen, ein bisschen wie ein Leonardo, der nichts unversucht lässt; der sich in jedes Genre wagt, auch wenn es nicht unbedingt sein Steckenpferd ist. Der aber mit einem natürlichen Gespür für die goldene Mitte des Regieführens so gut wie immer überzeugt. Außer bei 1941 – Wo bitte geht’s nach Hollywood vielleicht. Doch auch sowas macht einen Virtuosen wie ihn nur menschlich.

So menschlich wie virtuos ist auch The Fabelmans – Spielbergs Autobiografie in Bildern und ganz vielen erhellenden Worten, die damals wohl so oder ähnlich gefallen sind. Sie haben ihn die Dinge so sehen lassen, wie er sie vielleicht heute noch sieht. Sie haben ihn erkennen lassen, was Kunst eigentlich ist und wo ein Künstler seine Prioritäten setzen muss, um ganz oben anzukommen. Ruhm und Ehre sind dabei willkommene Türöffner, die das nötige Kleingeld lukrieren, um das geliebte Handwerk auch zu leben. Ein Handwerk, dass beim Super8 Film beginnt – bei der kleinen, tonlosen Kamera, die alles einfängt, was es wert ist, festgehalten zu werden: Zum Beispiel eine glückliche Familie.

Den Fabelmans scheint ja anfangs die Sonne aus dem Allerwertesten, dass es fast schon kitschig wirkt. Oder als hätte Wanda Maximoff eine neue Realität erschaffen. Doch wie so meistens trügt auch hier der Schein einer heilen Welt – all die Risse ziehen sich erst nach und nach durch dieses turbulente Harmoniebedürfnis, welches vor allem Mama Mitzi Fabelman (Michelle Williams) wie ein Zepter ganz hochhält – ist sie doch diejenige, die mit den meisten Dämonen zu kämpfen hat. Neben drei quirligen Schwestern und einem beruflich zukunftsorientierten Papa (Paul Dano) bleibt dem jungen Sammy (eine Entdeckung: Gabriel LaBelle) die früh entdeckte Leidenschaft für die inszenierte Illusion, für den Special Effect und all die Tricks, als wäre er sein eigenes ILM-Studio. Mit dieser Begeisterung hat er bald eine ganze Crew am Start – die Freude am Tun endet aber jäh, als Sammy hinter ein Geheimnis kommt, welches die ganze Familie wohl in ihren Grundfesten erschüttern wird.

Anfangs ist die scheinbar biedere Fifties-Handschrift Spielbergs ja geradezu regressiv. Doch auch ein Meister wie er braucht so seine Zeit des Warm-Ups, um gerade einen Stoff, der ihn persönlich mit allerlei Emotionen wird aufgeladen haben, in gewohnter Professionalität umzusetzen. Und dann, wenn die ersten Filme über die hauseigene Leinwand flimmern, beseelt Spielberg seine Reise ins frühe Ich mit ganz viel Esprit, Gefühl und weisem Verstand. Und Respekt vor allen, die ihn zu dem gemacht haben, der er heute ist. Seine geliebte Mutter, sein geliebter Vater – The Fabelmans ist eine Widmung an sie beide. Und vielleicht auch an John Ford, der ihm diesen einen Moment der Erleuchtung beschert. The Fabelmans ist eine Danksagung an all die Umstände, auch an all die Entbehrungen, aber auch an all das Glück, getan haben zu dürfen, wonach ihm der Sinn stand.

In der gewohnten, aber unverwechselbaren Bildsprache Janusz Kamińskis ist ein sensibles, sehr privates Werk entstanden, ohne jegliches Tamtam aus Fantasy, History oder Science-Fiction. Fast schon mutet The Fabelmans wie ein Independentwerk an, so ungefällig kommt es daher, so intim mutet es an. Und manchmal wäre es dem Film lieber, er liefe unter Ausschluss der Öffentlichkeit, nur im Kreise der Familie. Das muss nicht sein: Spielberg kompromittiert oder beschämt niemanden. Seine Erinnerungen sind voller Anstand, aber auch voller Selbsterkenntnis. Zum Beispiel jener, selbst ein Egoist zu sein. Falco hat mit seinem Song wohl recht gehabt, zum Egoisten muss man taugen, auch wenn es schmerzt. Diese ehrliche Kritik ans Ego zeugt von Reife. Auch die Diskrepanz zwischen Realität und Fiktion, und wie sich das Medium Film ausnutzen und benutzen lässt. Das ist Weisheit vom Fach, irgendwo zwischen American Graffiti und Wunderbare Jahre, nur ohne Stimme aus dem Off.

Auch wenn Filme wie Babylon – Rausch der Ekstase, Final Cut of the Dead oder Pan Nalins Das Licht, aus dem die Träume sind die Essenz des Filmemachens oder die Geschichte des Kinos zelebrieren, ist The Fabelmans doch nicht darauf aus, mit Getöse, flirrenden Bildern und üppiger Nostalgie einem globalen Kulturphänomen zu huldigen. Spielbergs Film ist Besinnung, eine innere Einkehr. Zu und für sich selbst, und nicht für das große Ganze.

The Fabelmans (2022)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (2023)

DIE NARRENFREIHEIT EINER JUGEND

7,5/10


wannwirdeswiederso© 2023 Frédéric Batier/Komplizenfilm


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, BELGIEN 2023

REGIE: SONJA HEISS

BUCH: SONJA HEISS, LARS HUBRICH, NACH DER AUTOBIOGRAPHIE VON JOACHIM MEYERHOFF

CAST: DEVID STRIESOW, LAURA TONKE, ARSSENI BULTMANN, CAMILLE LOUP MOLTZEN, POLA GEIGER, ANDREAS MERKER, CLAUDE HEINRICH, NIKOLAI WILL, AXEL MILBERG, MERLIN ROSE U. A.

LÄNGE: 1 STD 56 MIN


Devid Striesow war noch nie so gut. So dermaßen gut. Wenn er, als Hermann Meyerhoff, seines Zeichens Anstaltsdirektor und Hochschullehrer und überhaupt intellektuell über den Dingen stehend, ohne arrogant zu wirken, dem norddeutschen Sturm trotzt und es genießt, fast schon zu fliegen – im nächsten Moment aber mit traurigen Augen in eine Zukunft blickt, die nicht mehr die seine ist, dann sind das Momente des deutschen Kinos, die muss man gesehen und auch so empfunden haben. Wie Ende letzten Jahres, in Was man von hier aus sehen kann – ebenfalls die Verfilmung eines Romans, und ebenfalls gesegnet mit Momenten, die für mich persönlich in die Geschichte des deutschen Films eingehen könnten, ganz problemlos.

Das deutsche Kino hat mittlerweile so seine Stärken gefunden. Die liegen nicht im Actionkino, auch nicht unbedingt in der Komödie oder gar im Genre des Phantastischen. Die liegen viel eher in der chronologischen Aufbereitung zusammenhängender Schicksale, so zum Beispiel in Familien mit dem gewissen Etwas, oder in kleinen Dorfgemeinschaften. Was da Zwischenmenschliches passiert, gerät im deutschen Kino aufs Silbertablett, und so wird es auch serviert: Melancholisch, humorvoll und selten aufgesetzt – skurril wie bei Amelie, tagträumerisch und zwischen den Zeilen lesend. Metaphysisch wie bei Kieslowski, und dann wieder mit einem Humor, den man zuletzt in den feinen satirischen Sketchen eines Loriot gesehen hat.

Mit dieser Art des kunstvollen Augenzwinkerns und des lakonischen Wortwitzes punkten die nun sehr behutsam auf die Leinwand gebrachten Erinnerungen des ehemaligen Burgschauspielers Joachim Meyerhoff, dem ich, zugegeben, niemals wirklich und auch nicht in Zeiten meines intensiven Theaterkonsums, gewahr wurde. Dafür aber jetzt, und das mit Wohlwollen, denn was der Mann zu erzählen weiß, mag zwar nicht bedeutender sein als die Familiengeschichte anderer Leute – aber vielleicht um eine Komponente bunter.

Wir wissen: Joachims Vater war Direktor einer Nervenheilanstalt, ähnlich des Wiener Sanatoriums am Steinhof. Das Aufwachsen inmitten all der Patienten mit den unterschiedlichsten Krankheitsbildern war somit zwangsläufig, und hat den kleinen Joachim bereits früh mit dem Verständnis für alles gesegnet, was außerhalb der Norm existiert. Da gibt es den Glöckner, einen Riesen, der schlurfenden Schrittes bimmelnd übers Gelände marschiert. Da gibt es die hochgradig depressive Marlene, Joachims erste Liebe. Das gibt es das Spinnenmädchen oder Patient Jesus. Sie alle gehen bei Meyerhoffs ein und aus, sie sind Teil einer Welt voller Geheimtüren und unentdeckter Blickwinkel. Und Vater Hermann – der führt seine fünfköpfige Familie an mit entspanntem Gemüt, kleinkünstlerischem Wortwitz und brummiger Freundlichkeit. Die Mutter träumt von Italien und hört Al Bano und Romina Power. Die Brüder sind deutlich älter und haben den jungen Joachim ziemlich oft auf der Schaufel, der dann seine Ausraster hat und nur auf der rüttelnden Waschmaschine wieder zur Ruhe kommt.

Alles ausgedacht? Alles so gewesen, wenn man der zugrundeliegenden Autobiographie Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war Glauben schenkt. Natürlich tu ich das. Ein Leben wie dieses, so nah am Nonkonformismus, so nah am Irrsinn und am Selbstmord – das ist Stoff, aus dem großes Kino entstehen kann. Und es passiert. Sonja Heiss (u. a. Hedi Schneider steckt fest) verfolgt keine komplexe Geschichte, schürt keine Spannung, sondern beobachtet nur. Es sind Erinnerungen und Anekdoten, berührende wie saukomische Momente, gleichzeitig märchenhaft und ernüchternd tragisch. Aus diesem cineastischen Fotoalbum einer Familie, die sich in allen Aggregatzuständen präsentiert, lässt sich so einiges mitnehmen fürs eigene Verständnis vom Zustand einer Menschenwelt und von der Möglichkeit, Dinge anders anzugehen als üblich. Durch die Bank grandios besetzt, sind vor allem die Jungdarsteller Camille Loup Moltzen und Arsseni Bultmann richtig bei der Sache, und Laura Tonke ist zwischen Wut, Träumerei und Traurigkeit greifbar und nahbar.

Ein feines Coming of Age-Drama, eine lupenreine Tragikomödie, die ein Farbspektrum nutzt, das selten verwendet wird, weil vielleicht nicht so attraktiv wie knallrot oder zuckerlrosa – und gerade dadurch andere Erinnerungen bei einem selbst weckt als üblich.

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (2023)

Living (2022)

DER LETZTE VORHANG FÄLLT AM BESTEN

7/10


living© 2022 Number 9 Films Ltd.


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2022

REGIE: OLIVER HERMANUS

BUCH: KAZUO ISHIGURO

CAST: BILL NIGHY, AIMEE LOU WOOD, ALEX SHARP, TOM BURKE, ADRIAN RAWLINS, MICHAEL COCHRANE, HUBERT BURTON, OLIVER CHRIS, OLIVER SMILES, FFION JOLLY U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Irgendetwas scheint der alte Mann Zeit seines Lebens übersehen zu haben. Nämlich dessen Sinn im Auge zu behalten. Um das noch zu ändern, könnte es fast schon zu spät sein. Das wäre es mit Sicherheit auch gewesen, wäre Mr. Williams, Angestellter in der London County Hall für Bauwesen und Stadtplanung, nicht mit einer Nachricht konfrontiert worden, die seine Prioritäten umordnen wird. Wie so meist und so oft fängt man selbst erst an, über das eigene Sein nachzudenken, wenn der Tod an die Tür klopft. Die Endlichkeit der Existenz, vor allem das Bewusstwerden dieser, vermittelt dann erst ihren Wert. Doch was verkörpert diesen? Genau dieser Frage will Mr. Williams in den letzten Monaten, die ihm noch bleiben, nachgehen. Als penibler, überpünktlicher, ehrenwerter Gentlemen im Nadelstreif und mit Melone auf dem Kopf, ist er zumindest anfangs noch die personifizierte Bürokratie. Als Abteilungsleiter liegt ihm die Ablage diverser Anträge bis auf unbestimmte Zeit am nächsten. Von seiner Untergebenen Miss Harris liebevoll-ironisch als Mr. Zombie bezeichnet, tut er auch tatsächlich genau das, um diesem Kosenamen alle Ehre zu machen. Fast scheint es, als spüre er sich selbst nicht mehr und lebt nur die Fassade eines perfekt scheinenden Lebens – bis eben die Diagnose Krebs einen anderen Menschen aus ihm macht.

Basierend auf dem in den Fünfzigerjahren erschienenen japanischen Psycho- und Gesellschaftsdrama Ikiru von Akira Kurosawa, hat sich Oliver Hermanus das von Kazuo Ishiguro leicht überarbeitete und ins England der Nachkriegsjahre transportiere Drehbuch zu Herzen genommen und mit Bill Nighy einen Charakter gefunden, der die phlegmatische Seite eines Mr. Scrooge verkörpert, nur eben deutlich weniger geizig, nicht unfreundlich, aber distanziert zu seinen Mitmenschen, doch auf eine gewisse Weise ihnen gegenüber ignorant. Dieser in sich gekehrte graue Mann hat Potenzial, das merkt man. Das sieht und spürt man. Die junge Miss Harris, entzückend und unendlich liebevoll dargeboten von Aimee Lou Wood, die dem leise vor sich hinhauchenden Nighy fast schon die Show stiehlt, scheint den Funken in diesem versteinerten Individuum an Correctness als erste zu entdecken. Sie wird auch die Einzige sein, die von dessen Schicksal erfährt. Wie ein Engel, aber nicht der vergangenen, sondern der zukünftigen Weihnacht, scheint sie in Mr. Williams eine bislang unentdeckte Tatkraft zu mobilisieren.

Diesem Erweckungsmärchen zu folgen, zahlt sich aus. In den Momenten, wenn Nighy seiner Muse des späten Lebens sein Empfinden von der Welt anhand eines Gleichnisses der Kinder auf einem Spielplatz auf den Punkt bringt, gerät Living zu einer herzergreifenden und unkitschig melancholischen Selbstreflexion, die auf unkomplizierte, wohltuend einfache Weise bestätigt, worauf es im Leben ankommt. Diese Gespräche sind das Salz in der Suppe, und wenn der sich behutsam bewegende, kummervoll dreinblickende Nighy zu einem traurigen Lied aus seiner Kindheit anstimmt, ist der Scrooge-Effekt von Dickens Bekehrung auch hier zu finden, samt Gänsehaut-Garantie.

Living lebt durch alle Szenen hinweg eine sehr britische Mentalität und entwickelt sich zu einem ungewöhnlichen Männerdrama, in welchem die weibliche Figur der Miss Harris aus einer anderen Dimension in den Kosmos zugeknöpfter Männlichkeiten eindringt wie eine Lichtgestalt. Was Nighy dann daraus macht, ist nur in Rückblenden zu sehen, die ganz am Ende Resümee ziehen. Die Botschaft, die vermittelt wird, ist eine, die wir natürlich alle kennen. Mit dem eleganten Briten, der noch dazu singt, wird das Remake eines Klassikers zu einem unpeinlichen und positiv konnotierten Rührstück.

Living (2022)

Aftersun (2022)

DIE WEHMUT AM LETZTEN URLAUBSTAG

6,5/10


aftersun© 2022 MUBI


LAND / JAHR: USA, GROSSBRITANNIEN 2022

BUCH / REGIE: CHARLOTTE WELLS

CAST: PAUL MESCAL, FRANKIE CORIO, CELIA ROWLSON-HALL, BROOKLYN TOULSON U. A. 

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Mit Nominierungen und Preisen überhäuft, Kritikerlob da und Kritikerlob dort: Charlotte Wells, bisher maximal mit Kurzfilmen vertreten, die nur Insider kannten, hat mit ihrem allerersten Spielfilm bereits so viele Tore ins Filmbiz geöffnet, die andere sonst nur auf zähem Wege und vor allem mit Vitamin B aufbekämen. Keine Ahnung, wohin Wells es zukünftig verschlagen wird, oder ob man ihr, wie Chloë Zhao, ein Franchise unterjubelt, mit welchem sie nichts anfangen kann. Denn Aftersun ist ein Film, der nicht so danach aussieht, als würde seine Macherin dereinst mit Comic-Helden oder Aliens jonglieren wollen, sondern es lässt sich gut der Eindruck gewinnen, dass Künstlerinnen wie Wells sehr wohl schon ihren Themenkreis gefunden haben. Dessen Materie setzt sich zu Stimmungsbildern zusammen und eignet sich wohl weniger zur geradlinigen Story mit Twist und Showdown. Aftersun legt es aber mitnichten darauf an, sein Publikum zu verwirren oder auf falsche Fährten zu locken. Das wäre, wenn doch, lediglich des Effekts willen probiert. In diesem Film hier geht es um Erinnerungen und gemeinsam Erlebtes, auch wenn das Erlebte nicht aufgrund spektakulärer Begebenheiten unvergessen bleiben will. Die Wucht darin liegt in der familiären Wärme des Miteinanders, der vertrauten Dynamik zwischen Vater und Tochter, unter levantinischer Sommersonne und den gängigen Rhythmen eines Pauschalurlaubes, der nichts dem Zufall überlässt und in welchen sich Touristen wie Sophie (Frankie Corio in ihrer ersten Filmrolle) und Calum (Paul Mescal) fallen lassen können. Viel Schlaf, entspanntes Herumhängen und schickes, abendliches Dinieren. Dazwischen Sonnencreme, Müßiggang am Pool oder Baden im Meer kurz vor Sonnenuntergang. Wir alle wissen, wie sich sowas anfühlt. Wenn die Buchung des Hotels mal so stimmt, wie erwartet, sind Zeit und Alltag ausgehebelt, zählt nur noch das Jetzt ohne Tagescheck, und oft weiß man nicht, ob die Woche schon rum ist, so versunken scheint man zwischen Sand, Salz und Eiscreme. Und natürlich denken wir uns dann, dass wir irgendwann dortbleiben wollen. Aussteigen, auf diese Weise weiterleben. Daheim alles zurücklassend, weil die Ferne ruft. Tatsächlich lässt sich das auch von der All-inclusive-Bar denken und erträumen. Und nicht nur das. Die elfjährige Sophie und ihr Vater Calum wollen ebenfalls ewig in dieser Vater-Tochter-Konstellation verharren und in den heißen, angenehm ermüdenden Tag hineinleben. Doch irgendetwas, jenseits dieser idealen Kulisse, stimmt nicht.

Denn Vater Calum dürfte für Sophie irgendwann später nur noch Geschichte gewesen sein, verknüpft mit der Erinnerung einer kurzen und zugleich zeitlosen All-Inclusive-Buchung, die sich für ewig als das Bild einer Zweisamkeit ins Gedächtnis der nun schon erwachsenen Sophie gebrannt hat, die eines Tages das selbstgedrehte und kuriose Handycam-Video hervorkramt und in der bittersüßen Stimmung von damals schwelgt. In ihren Gedanken aber befindet sie sich immer wieder auf einer in Stroboskoplicht getauchten, dich bevölkerten Tanzfläche, inmitten das Gesicht ihres Vaters. Oder doch nicht? Wo ist sie hin, die Vergangenheit? Wo ist sie hin, die immer abstrakter werdende und verfremdete Figur von Dad?

Aftersun bietet auf den ersten Blick nicht mehr als aneinandergereihte, repetitive Momente eines Urlaubs. Auf den zweiten Blick versucht Charlotte Wells, das Narrativ einer mit Wehmut aufgeladenen Erinnerung in einem Alltagsfluchtort wie diesen festzumachen. Dabei bleibt sie vage und assoziativ, das Davor und das Danach verliert sich im Dunkeln eines Dancefloors. Was später passieren wird, soll durch seine Variabilität und Undefinierbarkeit dem Zuseher die Möglichkeit geben, sein eigenes Stück Familiengeschichte hineinzuinterpretieren. Aftersun ist ein subjektives Psychogramm, errichtet aus Beobachtungen innerhalb einer kurzen Zeitspanne der Eintracht. Natürlich wirkt das etwas dürftig, für Plot-Fetischisten womöglich zu wenig, die darauf warten, das etwas passiert. Passiert ist aber alles längst, nach der ersten Minute schon. Was wir hier haben, ist das rekapitulative Nachwehen von Vergangenem – intuitiv inszeniert, aber auch schwer erreichbar.

Was in Aftersun bleibt, ist das Eingestehen der Tatsache, Zeit seines Lebens die Leere ertragen zu müssen, die auf vergangenes Glück folgt. Würde sich die Zeit zurückdrehen lassen, würde Sophie den besten Urlaub ihres Lebens niemals anders erleben wollen. Immer und immer wieder.

Aftersun (2022)

Blue Bayou

PAPA KOMMT NICHT WIEDER

5,5/10


bluebayou© 2021 Focus Features


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: JUSTIN CHON

CAST: JUSTIN CHON, ALICIA VIKANDER, SYDNEY KOWALSKE, MARK O’BRIEN, EMORY COHEN, LINH DAN PHAM, VONDIE CURTIS-HALL U. A. 

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


In jeder zweiten (was heißt jeder zweiten: geradezu in jeder) altersübergreifenden Produktion feiern US-Entertainment-Konzerne wie Disney die Einheit, den Zusammenhalt und den Wert der Institution Familie. Wenn Mama, Papa und der Nachwuchs füreinander in die Bresche springen, dann ist das das höchste Gut, keine Frage. Kann ich auch so unterschreiben. Blickt man in den Vereinigten Staaten aber vom Bildschirmrand etwas weiter weg und dahinter, ist es aus mit diesem Wertebewusstsein. Da ist Familie nur noch in einer einzigen Ausgestaltung annähernd so, wie Disney es immer kolportiert: weiß, uramerikanisch und gefühlt seit Jahrtausenden schon dort geboren. Wir wissen, dass dem nicht so ist. Alle Nicht-Natives blicken zurück auf eingewanderte Ahnen, das kann man drehen und wenden wie man will. Die Politik der Integration war damals aber vielleicht nur ein Blatt im Wind, nicht von Bedeutung. Heutzutage ist Integration etwas für den Rechenschieber, ein seelenloses und unmenschliches Regelwerk, dass den hochgelobten Familiensinn mit Füßen tritt. Justin Chon, selbst gebürtiger Südkoreaner und wohnhaft in den USA, hatte wohl Menschen an seiner Seite, die sich rechtzeitig darum gekümmert haben, dass der Bub auch die amerikanische Staatsbürgerschaft erhält. Mittlerweile wird ihm wohl nicht jenes Schicksal widerfahren, dass sein alternatives Ich in Gestalt von Antonio zu spüren bekommt. Wobei mit etwas mehr Besonnenheit im Alltag ein Drama wie dieses wohl nicht entstanden wäre. Oder aber: es wäre sowieso so weit gekommen – wenn nicht früher, dann später.

Dieser Antonio lebt als herzensguter Stiefvater und Partner von Alicia Vikander (selbst Schwedin, hier spielt sie aber eine waschechte Amerikanerin) in New Orleans und verdingt sich für einen müden Gewinn als Tätowierer. In naher Zukunft werden die Einnahmen bald nicht mehr reichen, denn Nachwuchs bahnt sich an. Es wäre schon alles unangenehm und entbehrlich genug, steht der leibliche Vater der kleinen Jessie permanent auf der Matte, was unheimlich nervt. Allerdings ist das sein gutes Recht, und als der Streifenpolizist die Mutter seiner Tochter in einem Supermarkt zur Rede stellen will, eskaliert die Lage. Antonio wird verhaftet – und zum Fall für die Fremdenpolizei.

Gesetze sind eine Sache – sie zu befolgen eine andere. Gesetze sind ein Kind ihrer Zeit und führen sich selbst manchmal ad absurdum, wenn ihr Wechselwirken bis zur letzten Konsequenz exekutiert wird. Gesetze wie dieses, das Einwanderer, die bereits mehrere Dekaden im Land gelebt haben, als ein nicht vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ausweisen, schreien aber danach, reflektiert zu werden. Was in einem Land wie diesen aber nicht passiert. Justin Chon lässt sich selbst gegen Windmühlen kämpfen, und darüber hinaus auch noch gegen seinen eigenen Anstand. Dabei verknüpft er die vagen, traumartigen Kindheitserinnerungen des Einzelkämpfers mit einer Sehnsucht nach einem stillen Ort der Geborgenheit inmitten des Louisiana Bayou (langsam fließende Gewässer inmitten einer Sumpflandschaft). Die impressionistischen Bildstile eines Kim Ki Duk oder Tran Anh Hung könnten dafür Pate gestanden haben – sonst aber verlässt sich Chon auf eine unruhige visuelle Erzählweise in grobkörnigen Bildern, die das wehmütig-nachmittägliche Sonnenlicht wie auf verblichenen Polaroidfotos aus den Siebzigern wirken lassen. Weh- und schwermütig ist auch der ganze Film, doch in erster Linie nur für Alicia Vikander (die eine herzzerreißende Version von Roy Orbisons Songklassiker schmettert), der kleinen Jessie und Justin Chon.

Vielleicht liegt es am impulsiven Handeln des Protagonisten, welches dem Unglück, das hier noch folgen wird, einen anderen und besseren Ausweg verbaut. Das Schicksal einer entbehrungsreichen Kindheit ohne Wurzeln gewährt in Blue Bayou unbedachtem Handeln die Legitimation. Seltsamerweise erscheint es aber, als hätte Antonio nur mit halbem Herzen das getan, was notwendig gewesen wäre, um das Debakel eines verqueren Gesetzes auszubügeln. Vielleicht liegt es ja daran, dass Antonio Zeit seines Lebens gar nicht so genau weiß, wohin er schließlich gehört. Und das Schicksal, wie es auch ausfällt, wohl annehmen wird. Ein schmerzlicher Pragmatismus, der aber Distanz zum Film schafft.

Blue Bayou

The Trouble with Being Born

TRÄUMEN ANDROIDEN VON IHRER KINDHEIT?

6,5/10


thetroublewithbeingborn© 2020 eksystent distribution

LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2020

REGIE: SANDRA WOLLNER

DREHBUCH: SANDRA WOLLNER, RODERICK WARICH

CAST: LENA WATSON, DOMINIK WARTA, INGRID BURKHARD, JANA MCKINNON, SIMON HATZL U. A.

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Dem österreichischen Film haftet sehr oft an, trist, problembeladen und sperrig zu sein. Meist sind das Themen rund um soziale Minderheiten und Missstände oder künstlerisches Herumexperimentieren; oft nicht uneitel und verkopft. Manchmal aber hat genau diese Art und Weise, einen Film zu inszenieren, seinen eigenen Reiz. Und vor allem dann, wenn man zumindest die längste Zeit davor Kunststücken dieser Art ausgewichen war und nach regem Eventkino- und Blockbusterkonsum als Filmfan mal wieder etwas nötig hat, das einer gewissen audiovisuellen Überreizung entgegensteuert. Sandra Wollners Science-Fiction-Drama The Trouble with Being Born ist so ein Film. Und für alle, die Science-Fiction lieben, einen Blick wert. Themenverwandt ist Wollners Abschlussarbeit an der Filmakademie mit Werken wie Ex Machina oder A.I. – Künstliche Intelligenz, allerdings deckt dieser hier ein ganz anderes, ungenutztes Spektrum ab, nämlich das des verwirrenden Kunstfilms, der mit Wortspenden geizt und vieles im Vagen lässt, um den Zuseher sehr viel später dessen Interpretation der Dinge zu bestätigen.

Wie Haley Joel Osment in A.I. wird auch das Androidenmädchen Elli mutterseelenallein auf eine Reise geschickt, die scheinbar im Nirgendwo zu enden gedenkt. Anfangs jedoch ist sie Tochterersatz für einen Vater, dessen leibliches Kind seit zehn Jahren als vermisst gilt. Wollner stellt, so wie Maria Schrader in ihrer bemerkenswerten Robotik-Satire Ich bin dein Mensch, die Frage: wie sehr gelingt es dem Menschen, für sein Lebensglück sich selbst auszutricksen, um sich an den dargebotenen Emotionen einer Maschine sattzuempfinden? Anscheinend keine Schwierigkeit im Zeitalter der Medien, die uns andauernd Gefühle als etwas Echtes verkaufen. Eines Tages allerdings verschwindet Elli, ist unterwegs nach irgendwohin, vielleicht dorthin, wo ihre programmierten Erinnerungen sie bringen mögen. Dabei landet sie bei der alten Anna („Toni Sackbauer“ Ingrid Burkhard), die mit so einem Ding erstmals nichts anfangen kann. Doch einen Roboter kann man umprogrammieren. Oder nicht?

Das Künstliche gegen das Natürliche: Sandra Wollner setzt in ihrer Bildsprache einen konsequenten Kontrapunkt, indem sie vollends auf Künstlichkeit verzichtet. Einige Sequenzen geraten enorm dunkel, Gesichter sind dann nur noch kaum zu erkennen. Das macht die ganze Angelegenheit relativ düster und auf eine unaufgeforderte Weise übertrieben schwermütig. Auch lange, wortlose Passagen, in denen unglückliche Figuren unglücklich in die Gegend blicken, erwecken den Eindruck einer inhärenten Unzufriedenheit. Angenehm künstlich und ungekünstelt zugleich mutiert Lena Watson zu einem – wie Wollner selbst zitiert hat – Anti-Pinocchio mit wächsernem Gesicht, der in völlig lethargischem Standby anderen für was auch immer zur Verfügung steht, selbst aber durch eine Art Missbrauch an der Maschine mit seinen Identitäten durcheinander kommt. Dieser ganz eigene Aufstand des Künstlichen ist eine melancholische Robotiade nach Asimov’schen Leeren, die durchaus und eben sehr gerne aus den Randbezirken experimenteller Filmtechniken hätte ausbrechen wollen. Das Potenzial ist klar vorhanden, stellenweise überzeugt das Drama zumindest rückblickend – etwas weniger Distanz hätte das Bewusstsein für verwunschene Roboterseelen durchaus geschärft.

The Trouble with Being Born

Reminiscence – Die Erinnerung stirbt nie

FRÜHER WAR ALLES BESSER

5,5/10


reminiscence© 2021 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: LISA JOY

CAST: HUGH JACKMAN, REBECCA FERGUSON, THANDIWE NEWTON, CLIFF CURTIS, MARINA DE TAVIRA, DANIEL WU, MARTIN SHEEN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 56 MIN


Es gab Zeiten, da saß man, mit aufgeschlagenem Fotoalbum am Schoß, auf der Couch und schwelgte in Erinnerungen anhand bereits schon leicht blaustichiger Fotografien, die die eigene Kindheit und Jugend oder einfach nur unvergessliche Momente dokumentierten. Oft sah man sich diese Alben gemeinsam mit anderen an, nicht selten fiel da die eine oder andere Anekdote. Ein herzliches Lachen, ein „Weißt du noch“… Dabei ist nichts gehaltvoller als das eigene Kino der Erinnerungen im Kopf. Denkt man zurück, erlebt man nicht nur die Emotionen nochmal durch, auch das Periphere, Physische. In nicht allzu ferner Zukunft – einer Zukunft im postklimatischen Zeitalter, nachdem der Meeresspiegel längst gestiegen, zum Beispiel die Halbinsel Florida überflutet und die Welt einen nicht näher definierten Krieg überstanden hat – scheint der Mensch in seiner Fähigkeit, sich zu erinnern, so ziemlich verkümmert. Die eigene Kraft der Imagination ist erschöpft, demzufolge gibt es allerdings Techniken, die es möglich machen, in die gedankliche Vergangenheit eines Menschen einzutauchen, damit dieser das Gewesene so erleben kann, als würde es gerade jetzt passieren. Klingt irgendwie nach etwas, das süchtig macht.

Hugh Jackman als Betreiber eines solchen Reminiscence-Salons kann hier täglich den im Wasser dahintreibenden Nostalgikern über die Schulter blicken, um nicht ganz ohne voyeuristischer Tendenz an den Erinnerungen fremder Menschen teilzuhaben. Eines Tages allerdings betritt eine geheimnisvolle Schöne den Laden, um eigentlich nur ihre verlegten Schlüssel zu finden. Aus dieser Begegnung wird natürlich mehr, und Rebecca Ferguson und Hugh Jackman erleben bald die schönsten Stunden und Tage ihres Lebens – bis die Dame verschwindet. Jackman macht sich natürlich auf die Suche – sowohl in seinen Erinnerungen als auch im versunkenen Miami. Und entblättert ein Netz aus Erpressung, Täuschung und Gier.

Lisa Joy, ihres Zeichens mitverantwortlich für den Erfolg der Science-Fiction-Serie Westworld, bleibt mit Reminiscence – Die Erinnerung stirbt nie ihrem Genre treu, verliebt sich aber zugleich in den Stil des alten Film Noir, in welchem sich unter anderem Robert Mitchum, Humphrey Bogart oder Lauren Bacall in obskuren Schicksalen verstrickten. Diese Affinität zum gediegenen Edelkrimi ist Fluch und Segen für diesen Film zugleich. Warum? Einerseits findet Joy ein schillernd-hypnotisches Setting für ihren Liebes- und Leidensweg, mit verlassenen Vergnügungsparks und pittoresken Straßenzügen in Art Deco – andererseits nimmt sie mit ihrer artig zurechtgeschriebenen Kriminalgeschichte der schwülstig-schwülen Stimmungs-Dystopie sehr viel innovativen Esprit. Kurz gesagt: Reminiscence gerät rein narrativ zu einer recht altbackenen, fast schon regressiven Geheimniskrämerei, in der Hugh Jackman mal mehr, mal weniger gut aufspielt. Letzten Endes lässt einen die tragische, aber recht banal wirkende Liasion zwischen den beiden vom Schicksal gebeutelten Stars auch relativ kalt, während man wohl selbst lieber zwischen dem neuen Venedig Floridas herumschippern würde, um so manchen dem Verfall preisgegebenen Monumenten von früher zu begegnen. So ein Erlebnis bliebe sicher gut in Erinnerung.

Reminiscence – Die Erinnerung stirbt nie

The Discovery

DER TOD ALS PLAN B

4/10


discovery© 2017 Netflix


LAND / JAHR: USA, GROSSBRITANNIEN 2017

BUCH / REGIE: CHARLIE MCDOWELL

CAST: JASON SEGEL, ROONEY MARA, ROBERT REDFORD, JESSE PLEMONS, RILEY KEOUGH U. A. 

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Manchmal wird klar, warum Filme, von denen man noch nie etwas gehört hat, obwohl man als Filmnerd täglich up to date bleibt, auf diversen Streaming-Portalen – in diesem Falle auf Netflix – in der Versenkung verschwinden. Wo sollen sie auch sonst hin? Für den Retail-Markt zu „independent“, fürs Kino zu speziell, doch im Stream kann sich jeder bedienen, wer will. Und bedient sich keiner, macht’s auch nichts. Irgendwann sind diese Filme dann weg vom Radar, tauchen vielleicht im Free TV auf – das war’s dann. Angesichts des vorliegenden Films lässt sich sogar vermuten, dass einer wie Robert Redford gar nicht mehr weiß, in diesem Streifen überhaupt mitgespielt zu haben. Doch das hat er. Und nicht nur Redford: der Cast für The Discovery kann sich wirklich sehen lassen. Neben dem Altstar treffen auch noch Komödiant Jason Segel, der mal was Ernstes spielen wollte, und die wunderbare Rooney Mara aufeinander. Als Support streift auch noch Charakterdarsteller Jesse Plemons durchs Bild.

Dabei liegt diesem kleinen großen Science-Fiction-Drama von Malcolm McDowells Filius Charlie eine faszinierende Idee zugrunde. Was, wenn es der Wissenschaft gelingen könnte, herauszufinden, ob es ein Leben nach dem Tod gibt? In dieser alternativen Zukunft ist genau das passiert. Der Tod ist längst nicht mehr das Ende, und darüber hinaus soll das, was danach kommt, um Einiges besser sein. Klar, dass dann all die Unzufriedenen, Kranken und Depressiven zu drastischen Mitteln greifen, um das Ticket ins Jenseits zu ergattern. Die Selbstmordrate schnellt in die Höhe, händeringend wird die Bevölkerung gebeten, doch einen Sinn in diesem Leben hier zu finden – und nicht im nächsten. Entdecker Thomas Harbor allerdings sieht sich dafür nicht verantwortlich – bis ein Mann während eines Interviews vor seinen Augen Suizid begeht. Harbor zieht sich daraufhin zurück, Jahre später besucht ihn sein Sohn auf seinem Anwesen, das mittlerweile zum Elite-Rehabilitationszentrum für gescheiterte Selbstmörder herhalten muss. Darunter Rooney Mara, diesmal ganz in blond. Jason Segel gefällt das.

Zum Beispiel hätte Mike Cahill aus dieser Sache wohl wieder etwas ganz Feinsinniges fabriziert. McDowell hingegen scheitert dabei, diesen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel, diesen Beginn einer neuen Menschheitsgeschichte, in ein Kammerspiel zu packen. Diese Rechnung geht nicht auf. Und das liegt nicht daran, dass er das Warum und Wie zu diesem wissenschaftlichen Durchbruch nicht erklärt. Genau diesen dramaturgischen Schachzug verorte ich auf der Habenseite. Erklären lässt sich das ganze sowieso nicht, daher bleiben die Beweise vage, und die Tatsache allein, dass es so ist, müsste genügen. Viel wichtiger und ebenso viel interessanter bleibt die psychosoziale Resonanz. Genau da hat der Film aber enorme Defizite. Wie es sich anscheinend für einen waschechten Independent-Kandidaten gehört, setzt McDowell auf viel Geschwurbel, viel Gerede. Schicksalsschläge aus des Professors Familie kommen hoch, Jason Segel windet und verliebt sich. Geistert durchs Haus und blickt gemeinsam mit Rooney Mara ins Narrenkästchen. Das fühlt sich recht träge an, und das weiß der Filmemacher selbst anscheinend auch, also wird’s später noch ordentlich mysteriös und dank gewisser halbseidener Versuche, eine Logik in das philosophische Konstrukt einzubinden, obendrein noch so konfus, als würde man bei einem, der im Schlaf redet, den Kontext verstehen wollen.

So viel Potenzial für so ein höchst sensibles, spannendes Thema. Jedoch ein Film, der so schnell verdrängt werden wird wie der Gedanke ans eigene Lebensende, das irgendwann – oder vielleicht auch nie, weil gegenwärtig zu abstrakt – kommen wird.

The Discovery