Das Rätsel (2019)

DER URHEBER ALS MELKKUH

7/10


dasraetsel© 2023 Constantin Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2019

REGIE: RÉGIS ROINSARD

DREHBUCH: ROMAIN COMPINGT, DANIEL PRESLEY, RÉGIS ROINSARD

CAST: LAMBERT WILSON, ALEX LAWTHER, OLGA KURYLENKO, RICCARDO SCAMARCIO, SIDSE BABETT KNUDSEN, EDUARDO NORIEGA, ANNA MARIA STURM, FRÉDÉRIC CHAU, MARIA LEITE, MANOLIS MAVROMATAKIS, SARA GIRAUDEAU U. A. 

LÄNGE: 1 STD 45 MIN 


Was ist das beste Beispiel für einen Millionenbestseller, um den sich der ganze Erdball einen sprichwörtlichen „Haxen“ ausreißt, um vielleicht an einen Leak zu kommen? Natürlich Harry Potter. So eine Exklusiv-Challenge hat sogar Eingang in den Film Der Teufel trägt Prada gefunden. Was für Sicherheitsvorkehrungen bezüglich der Übersetzung in – so mutmaße ich – fast alle Sprachen der Welt (bis vielleicht auf den Buschmann-Dialekt) es da gegeben haben muss. Vielleicht sogar solche, die jenen im vorliegenden Film Das Rätsel vielleicht nahekommen. Oder waren da vermutlich unterschriebene Verträge mit zahlreichen Klauseln alleine schon genug, um illegale Previews zu unterbinden?

In diesem Literatur- oder Belletristik-Thriller reicht kein Papierkram, um die Angst des Verlegers zu stillen. Dieser, dargestellt von einem mit eiskaltem Pragmatismus ausgestatteten Lambert Wilson, sperrt seine Übersetzer aus Ländern mit dem prognostizierten größten Umsatz an Buchverkäufen in den Keller seines Anwesens. Er will den dritten Band der Trilogie Daedalus weltweit und zeitgleich auf den Markt werfen, daher müssen neun Übersetzerinnen und Übersetzer in penibel abgestimmten Arbeitsschritten bis zu einem Stichtag ihre Sprachversionen fertigstellen. Insgesamt soll diese Schaffensphase zwei Monate dauern – jede (elektronische) Verbindung mit der Außenwelt wird unterbunden, damit auch keiner der Anwesenden in Versuchung kommt, auch nur irgendeine Zeile aus dem Bunker zu schmuggeln. Verleger Eric Angstrom muss hier bereits schlechte Erfahrungen gemacht haben. Oder aber die Gier nach Umsatz ist ihm längst zu Kopf gestiegen. Trotz dieser extremen Vorsichtsmaßnahmen wird der Albtraum Realität: Ein anonymer Erpresser veröffentlicht die ersten zehn Seiten im Internet und droht mit den nächsten hundert Seiten, würden nicht beachtliche Geldbeträge den Besitzer wechseln. Angstrom stellt sein Ensemble zur Rede, will die Wahrheit gar erzwingen. Der Fall ist knifflig, und mutet an wie ein perfekt einstudierter Zaubertrick. Denn es scheint unmöglich, das so etwas hat passieren können.

Genauso unmöglich wie sämtliche Mordfälle aus der Feder Agatha Christies. Nur hier wird das Verbrechen nicht an einer Person, sondern an einem urheberrechtlich geschützten Werk begangen. Und an den Rechten, die Angstroms Verlag womöglich erlangt hat – oder auch nicht. Der Autor selbst nämlich hält sich bedeckt. Niemand kennt seine Identität, er arbeitet mit einem Pseudonym, was die verzwickte Situation noch erschwert. Das Publikum kann also im Laufe des recht eleganten Whodunit-Krimis Überlegungen anstellen und den Profiler geben, wenn die neun grundverschiedenen Charaktere ihren knapp gefassten Steckbrief an den Laptop heften. Das ist routiniertes Kino, aber insofern etwas anderes, da es keinen Mordfall und folglich auch keinen Mörder gibt. Régis Roinsard, der im Sommer letzten Jahres mit dem bittersüßen Psychodrama Warten auf Bojangles Virgine Efira zu Höchstleistungen antrieb, legt nun seine bereits vier Jahre alte Urheber-Moritat nach, dessen verspätete Erscheinung wohl kaum nur der Pandemie geschuldet sein kann, sonst wäre der andere Film genauso ein Nachzügler. Doch vielleicht ist der Grund dafür einfach nur jener, Prioritäten gesetzt zu haben. 

Vom Film selbst mag man sich anfangs vielleicht etwas gelangweilt fühlen, da die Figuren, welche sich selbst als sehr interessant empfinden, viel zu kalkuliert erscheinen. Ihre charakterlichen Besonderheiten mögen etwas aufgesetzt wirken, und auch der dem Leak nachfolgende Psychokrieg will prickelnder und mitreißender sein, als er letztlich ist. Was aber nicht heißen soll, dass Das Rätsel eine vergebliche Investition von 105 Minuten sein muss. Eigentlich ganz im Gegenteil, und all die Defizite räumt Roinsard letztlich vom Tisch.

Im letzten Drittel fügt dieser unerwartet geschickt so einige Story-Twists ein, die er schon am Anfang anteasert, von denen man aber nicht allzu viel erhofft. Sein Film ist dann kein Mysterykrimi von der Stange mehr, sondern eine Konfrontation des Urhebers mit seinem Nutznießer. Der Verlag wird zur parasitären Institution, zum blutsaugenden Zeck, der das geistige Eigentum an sich reißen möchte. Der Urheber wird zum Verfechter eben jenes abstrakten, unantastbaren Guts, das im Zeitalter der KI kurz davorsteht, aufgeweicht und hinterfragt zu werden, bis die Idee des Einzelnen dem Kapitalismus mit Haut und Haaren zum Opfer fällt. Dafür findet Das Rätsel am Ende nicht nur geistreiche Worte, sondern auch spannende Bilder, die die Frage, wie sich Erfolg definieren soll, auf eine zwar plakative, aber treffende und auch unmissverständliche Weise beantwortet.

Das Rätsel (2019)

Der Schacht (2019)

DRUNTER UND DRÜBER

7/10


derschacht© 2020 Netflix Österreich


LAND / JAHR: SPANIEN 2019

REGIE: GALDER GAZTELU-URRUTIA

BUCH: DAVID DESOLA, PEDRO RIVERO

CAST: IVÁN MASSAGUÉ, ANTONIA SAN JUAN, ZORION EGUILEOR, EMILIO BUALE, ALEXANDRA MASANGKAY U. A.

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Wie kommt der Hunger in die Welt? Der Schweizer Globalisierungskritiker Jean Ziegler hat mit genau diesem Titel ein Buch an seinen Sohn geschrieben, da sich dieser nicht erklären konnte, wie es so viel Ungerechtigkeit auf Gottes Erden geben kann. Der spanische Science-Fiction-Film Der Schacht erklärt die Grunddynamik der Klassengesellschaft und ihre Folgen auf eine vermutlich viel simplere Art, dafür aber kontrastreich genug, um im Gedächtnis zu bleiben. Der Schacht (auf englisch: The Platform) ist allein schon aufgrund seiner genialen Idee ein denkwürdiges Ereignis – ein Kammerspiel zwischen menschengemachten Horror und surrealer Satire.

Die Kammer, in der das Ganze spielt, könnte einem Drama des absurden Theaters von Beckett oder Ionesco als dramaturgischer Unterbau gereichen. Vielmehr ist es eine Art Turm (wir wissen nicht, ob dieser unter- oder oberirdisch errichtet wurde) mit scheinbar unendlichen Ebenen, die weder Aus- noch Einstieg besitzen, die jeweils ungefähr quadratisch groß sind und in der Mitte eine Aussparung besitzen, durch welche täglich eine Plattform vorbeirauscht, die, beladen mit den köstlichsten Speisen, die man sich nur vorstellen kann, den Freiwilligen oder unfreiwilligen Teilnehmern den Magen füllt. Allerdings gibt es da ein kleines Problem: Die oberen Ebenen, beginnend bei 1, können sich noch die Bäuche vollschlagen, während die jeweils darunter liegende Kammer nur das bekommt, was die obere übriggelassen hat. Man kann sich also vorstellen, wie es, sagen wir, Ebene Nummer 48 ergeht – oder gar Ebene 100. Die müssen sehen, wie sie überleben, denn da ist außer abgenagten Knochen und leergegessenem Gedeck nicht mehr viel übrig.

Goreng – einer, der mit dem Vertikalen Zentrum für Selbstverwaltung einen Deal ausgehandelt hat, um einen Studienabschluss zu bekommen, wacht eines Tages also auf Ebene 48 auf. Das ist zwar nicht so glücklich gewählt, als wäre man drüber, aber besser als drunter. Ihm gegenüber ein älterer Herr, der schon lange Zeit festsitzt. Jeden Monat erwachen beide auf einer neuen Ebene, die mal besser, mal schlechter sein kann. Ein Ding darf jeder mitnehmen, Goreng hat Don Quichotte, sein Mitinsasse ein Messer. Man kann sich denken, wohin das führt, sitzen beide mal tiefer. Denn die Nahrungsbeschaffung in der Not kann letztlich nur eines bedeuten.

Wer mit Kannibalismus im Film überhaupt nicht umgehen kann, sollte Der Schacht tunlichst meiden. Andererseits ist dieser blutige Umstand Teil eines höchst durchdachten Konzepts zur Veranschaulichung eines sozialen Gefälles und gleichzeitig eines Phänomens, dass die Satten gieriger werden lässt und die Hungrigen verzweifelter. Dabei sollte der üppigst beladene Tisch für alle hier Anwesenden genug Essen zur Verfügung stellen, damit niemand mehr darben muss. Allein: Am menschlichen Verhalten scheitert es. Jesus wäre mit seiner wunderbaren Brot- und Fischvermehrung wohl gescheitert, hätte er den Korb durch die Reihen gehen lassen. Solidarität ist ein rares Gut. Warum teilen, wenn man selbst nichts davon hat? Altruismus ist nicht leicht zu verstehen.

Der Schacht ist zynisch, brutal und pessimistisch. Aber nicht ganz hoffnunsglos, obwohl der Streifen versucht ist, die Hoffnung auf den besseren Menschen aufzugeben. Da ist ein Streben in diesem Film, ein Vorwärtskämpfen und der Wille zum Stürzen geltender Systeme. Auch das ist dem Menschsein inhärent. In seiner mit scharfer Klinge geschriebenen Dialogen und absurden Plot-Highlights so wie jenem, die Panna Cotta als Botschaft des Umbruchs zu erwählen, mag Galder Gaztelu-Urrutias Film seine im Widerspruch zur klinischen Kulisse archaische Gewalt und deftige Exzesse manchmal zu sehr entarten zu lassen – im Grunde aber bleiben diese Elemente Teil einer höheren Bedeutung, nämlich die einer lustvollen bis gar leidenschaftlichen Zurschaustellung der Gier, der Macht und des Eigennutzes. Da dies so hell und klar durch den Schacht strahlt, lässt sich die Hölle ertragen, solange die Suche nach der Erlösung anhält.

Der Schacht (2019)

O Beautiful Night (2019)

MIT DEM TOD EINEN TRINKEN

3/10


obeautifulnight© 2019 NFP marketing & distribution GmbH


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2019

REGIE: XAVER BÖHM

BUCH: ARIANA BERNDL, XAVER BÖHM

CAST: NOAH SAAVEDRA, MARKO MANDIĆ, VANESSA LOIBL, EVA-MARIA KURZ, JOHANNA POLLEY, PETER CLÖS, GERHARD BÖS, SVEN HÖNIG, SOOGI KANG U. A. 

LÄNGE: 1 STD 26 MIN


Normalerweise, wenn der Tod an die Tür klopft, wird, wenn es nach der mittlerweile leider in Rente gegangenen Austro-Band EAV geht, etwas zu trinken geben. Zum Beispiel Jagatee. Am besten etwas, wonach man nach dem vierten oder fünften Nachschlag nicht mehr so ganz den Überblick hat. Wie passend für eine Wesenheit, die arme Seelen abholen will ins Jenseits, und dann nicht mehr weiß, wer nun als nächstes ins Gras beißen soll. Den Tod kann man auch ganz leicht überlisten, wie jenes alte Mütterchen, das den Gevatter innigst darum bittet, morgen wiederzukommen, und dieser sein Ehrenwort noch dazu an die Tür des Hauses kritzelt. So lebt die Alte ewig, und der Sensenmann muss klein beigeben.

Im Falle dieser nachtaktiven Tragikomödie mit Mystery-Touch kommt der Tod für einen Angsthasen wie Juri (Noah Saavedra, u. a. Egon Schiele: Tod und Mädchen) gerade recht, ist dieser doch fest davon überzeugt, dass seine Albträume, die einen unmittelbar bevorstehenden Herzinfarkt ankündigen, sehr bald wahr werden. Die Furcht vor dem Leben lähmt ihn – doch der Tod, das Objekt der Furcht schlechthin, weicht in O Beautiful Night von seiner eigentlichen Aufgabe ab. Eines Nachts erscheint er dem schlotternden Hypochonder wie aus dem Nichts, um ihn mitzunehmen. Zuvor aber soll der, der eigentlich nie wirklich erfahren hat, was es heißt, zu leben, das Dasein nochmal genießen. Vom Tod würde man sowas nicht erwarten. Man würde aber auch nicht erwarten, dass dieser in Gestalt eines mit slawischem Akzent sprechenden Vagabunden hier aufschlägt. Statt bleichgesichtig und schwarz ummantelt wie bei Ingmar Bergman ist dieser in Feierlaune und holt den verängstigten Juri aus seinem Schneckenhaus, um ihn durch die Nacht zu geleiten. Dabei ist ein Besuch bei Stripperin Nina, jener Frau, der Juri sein Herz geschenkt hat, mit inbegriffen.

O Beautiful Night hätte so werden können wie Jan-Ole Gersters Berlin-Ballade Oh Boy mit Tom Schilling als orientierungsloser Tagedieb, der durch die Facetten einer Großstadt mäandert. Doch Xaver Böhm, der auch am Drehbuch mitschrieb, verfängt sich in einer Episodenhaftigkeit, die zum Stückwerk wird. Vielleicht liegt es dabei auch an der Darstellung der Figur eines angreifbaren Todes, welcher der Slowene Marco Mandić ein allzu weltliches Gesicht gibt. Dafür frönt dieser viel zu sehr den irdischen Gelüsten, und jede Szene, in der Mandić performt, schreit danach, niemals anzunehmen, dass es sich dabei um eine Entität wie den Tod handeln könnte. Als Teufel wäre die Figur, die wie Lucifer aus gleichnamiger Serie den Lastern des Lebens nicht abgeneigt ist, nachvollziehbar genug. Der Tod aber ist etwas anderes. Zwar auch nicht unbedingt so, wie Neil Gaiman sich diesen in der Serie Sandman vorstellt, aber weiser, ruhiger und doch irgendwie anders als wir Menschen, die nur so umherirren in ihrem beschränkten Radius der eigenen Wahrnehmung. Mandić verleiht der Figur bis auf kleine Ausnahmen keinen größeren Radius, vielleicht weiß er manchmal mehr als andere und taucht ganz plötzlich dort auf, wo er vorher noch nicht gestanden hat. Sonst aber fällt es mir schwer, dieser Figur ein gewisses Maß an Respekt entgegenzubringen.

Wenn schon dieser Tod die recht sperrigen Episoden nicht auf einen Nenner bringen kann – wer tut es dann? Eigentlich niemand. Weder Noah Saavedra, der als Anti-Jedermann in Sachen Hedonismus ziemlich verloren wirkt und sich vom Tod herumschubsen lässt, noch die unnahbare Vanessa Loibl, die völlig unmotiviert zu den beiden schrägen Vögeln ins Auto steigt. Was bei O Beautiful Night nicht funktioniert, sind die nur in Ansätzen vorhandenen Charakterbilder der Figuren, die nicht zu dem werden, was sie eigentlich sein sollten. Die nicht den Film tragen wollen, der aber genau darauf setzt. Saavedra und Loibl lassen sich treiben, währen Mandić als Tod seinen Job scheinbar satthat. Die feine Klinge blitzt manchmal auf, wenn der Bote des Jenseits mit ein paar Russen ebensolches Roulette spielt. Doch auch in diesen Szenen ist die Motivation für das große Ganze zu selbstgefälliges Kunstkino, das seine einzelnen Szenen liebt, seine Figuren aber halbfertig auf eine existenzialistische Tour schickt, die sich niemals so anfühlt, als ginge es um Leben und Tod.

O Beautiful Night (2019)

Wir

DIE SCHATTEN IHRER SELBST

6/10


wir© 2019 Universal Pictures


LAND / JAHR: USA 2019

BUCH / REGIE: JORDAN PEELE

CAST: LUPITA NYONG’O, WINSTON DUKE, SHAHADI WRIGHT-JOSEPH, EVAN ALEX, ELISABETH MOSS, TIM HEIDECKER, CALI & NOELLE SHELDON, ANNA DIOP U. A. 

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Der Ex-Comedian und Synchronsprecher Jordan Peele hat schon längst, wie das Kino der Gegenwart bestätigt, frischen Wind um die bereits etwas angestaubten Säulen jener Kunstform wehen lassen, die wir so lieben. Das hat mit Get Out begonnen und mit Nope, der diesen Sommer in den Kinos lief, seinen Höhepunkt erreicht. Nämliche Science-Fiction-Mystery hat mich als kurioses Meisterwerk zwischen Horror, Gesellschaftskritik und rätselhafter Fantasy so richtig überzeugt, nachhaltig beeindruckt und Lust auf mehr von einer Art Film gemacht, die völlig neue Wege geht. Nope ist Jordan Peeles bester und größter Wurf. Was ich nun, nach Sichtung des obskuren Zweitwerks Wir, letzten Endes bestätigen kann. Denn Peeles blutige Doppelgänger-Farce, die mit der beklemmenden Panik einer Home Invasion sein Publikum in eine Ausweglosigkeit manövriert, die nur der tröstende Schoß eines Alles-ist-möglich-Kinos retten kann, errichtet natürlich eine kreative Basis für sein Geschichte, zögert aber, um das Geheimnis hinter dem Horror zu lüften, viel zu lange, um auch nur einige wenige gehaltvolle Brotkrumen zu streuen. Das Hinterherhudeln mit der Aufklärung all der bedrohlichen Ereignisse stößt so manches fein errichtete Detail von seinem Platz, denn man will die Geschichte schließlich so abrunden, damit sie plausibel erscheint. Was nicht ganz gelingt.

Doch der Reihe nach. Anfangs begibt sich eine Familie rund um Ada (stark: Lupita Nyong’o) auf Sommerurlaub an einen vertrauten Ort – ein Bungalow am Wasser, nicht weit vom dicht bevölkerten Strand entfernt, an welchem Papa Winston Duke gerne entspannen würde – Ada allerdings nicht, hat sie doch in Kindheitstagen dort in der Nähe am Fuße eines Rummelplatzes und in einem seltsamen Spiegellabyrinth Dinge erlebt, die sie nachhaltig und bis heute verstört haben. Es war, als hätte sie sich selbst gesehen – was aber auch nur Einbildung gewesen sein könnte. Jedenfalls trägt sie dieses Trauma mit sich herum, und es bricht sich Bahn, nachdem eines Abends eine Familie in der Einfahrt des Hauses steht, die – ebenfalls vier Mann hoch – genauso aussieht wie jene, die in Kürze ihrer Freiheit beraubt werden, da diese Doppelgänger etwas im Schilde führen, was sich dank der krächzenden Stimme von Adas Spiegelidentität nicht wirklich gut nachhören lässt. Aber seis drum: Der grimmige Schlagabtausch zwischen den unheimlichen Besuchern und der ums Leben bangenden Familie möge beginnen. Jordan Peele geht in die Vollen, schickt sein Ensemble in den physischen Kampf, und zwar viel früher als bei Get Out, wo Daniel Kayuula erstmal diplomatisch agiert. Wir wissen: Die Familie muss für etwas bezahlen, wovon niemand etwas weiß. Leider wir als Zuseher auch nicht.

Peele setzt ins Zentrum seines augenzwinkernden und mitunter auch ironischen Albtraums die hitzige Action eines Widerstands gegen psychopathische Gewalt. Fast fühlt es sich an, als wären die Body Snatchers auf Gottes Erden gelandet, oder irgendeine Schattenwelt wie in Stranger Things hätte ihr Portal geöffnet, um sinistre Gegenbilder aufrechter Bürger Zombies gleich auf eine funktionierende Welt loszulassen, die bald ihre Zügel aus der Hand gibt. Die Vermutung einer Verschwörung bestätigt sich, und Jordan Peele beginnt zu schwurbeln.

Was Lupita Nyong’o bereits in der Prologszene als Kind Gruseliges hat erleben müssen! Alles beginnt mit einem Blick in die Vergangenheit, um das Jetzt besser zu platzieren. Dieses scheinbar wie aus einem anderen Film herbeigeführte Extra an Information gibt’s bei Nope genauso. Eine Spezialität bei Peele. Das macht das Ganze aber so richtig interessant. Und dennoch gelingt Peele dieser Spagat zwischen Anfang und dem Moment, in dem er die Katze aus dem Sack lässt, nur mit gerissener Hose. Der seltsamen und an den Haaren herbeigezogenen Wahrheit fehlt ein plausibler Unterbau. Erklären kann Peele diese nicht. Es bleibt wie ein vager Traum, der Elemente einer Was-wäre-wenn-Vision nicht so nutzen kann, als wäre die Wahrheit dahinter wirklich möglich. Das ist sie nicht, darum scheint es Peele auch hinzunehmen, dass die Thriller-Komponente zwischen seinen angedachten Schreckensvisionen wichtiger wird als alles andere. Und ja: diese fährt auch auf Hochtouren – so blutig wie zynisch und mit jeder Menge Galgenhumor. Vielleicht wäre es da sogar besser gewesen, vieles im Vagen zu belassen oder überhaupt nicht zu erklären. Vielleicht auch nur anzudeuten, statt aufzulösen. Bei Nope ist ihm die Balance perfekt gelungen. Bei Wir lässt sich durchaus vermuten, dass die Idee für Peele selbst nicht ganz rund war, dieser aber scheinbar fasziniert davon gewesen zu sein, dass Menschen von sich selbst heimgesucht werden. Demzufolge dürfte das Skript nicht aus einem Guss entstanden, sondern mehrmals ergänzt und überarbeitet worden zu sein, bis es halbwegs hinhaut – was sich auch deutlich erkennen lässt.

Die gesellschaftskritische Ebene wie bei Get Out oder Nope sucht man bei Wir anderswo, dafür ist die Prämisse darin zu bemüht und konstruiert, um den subversiven Angriff auf unsere Zeitgeist-Manieren abzufeiern.

Wir

Glass

BITTERE PILLEN FÜR PINKY & THE BRAIN

6,5/10


glass© 2019 Universal Pictures 


LAND / JAHR: USA 2019

BUCH / REGIE: M. NIGHT SHYAMALAN

CAST: JAMES MCAVOY, BRUCE WILLIS, SAMUEL L. JACKSON, SARAH PAULSON, ANYA TAYLOR-JOY, SPENCER TREAT CLARK, CHARLAYNE WOODARD, LUKE KIRBY U. A.

LÄNGE: 2 STD 9 MIN


Sie sitzen nicht in Arkham Asylum, aber immerhin in einer Psychiatrie, die weniger so aussieht wie Bates Motel: Drei Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Der eine unverwundbar, der andere so klug, dass er all seine Mitmenschen unter den Tisch taktiert, und der dritte bringt sowieso gleich dreiundzwanzig weitere Identitäten mit, die sich alle vor der vierundzwanzigsten und letzten fürchten, die da die Bestie genannt wird. Wir, die Kenner von M. Night Shyamalans eigentümlicher Superhelden-Trilogie, wissen noch genau, was Kevin Wendell Crumb in Gestalt eines eifrig auf die Differenzierung seiner Charaktere konzentrierten James McAvoy der jungen Anya Taylor-Joy alles abverlangt hatte, als er sie eingesperrt hielt, mit noch ein paar Mädchen mehr. Der Psychothriller aus dem Jahr 2016 hieß Split. Gehen wir noch weitere 16 Jahre zurück – ja tatsächlich, 16 Jahre – dann landen wir beim Superheldendrama Unbreakable – Unzerbrechlich. Mit so viel Abstand zwischen den Filmen lässt sich nur von einer losen Trilogie sprechen, die sich nicht allzu viel auf ihre Vorgänger berufen darf. Aber natürlich: schnell ist es passiert und Teil 1 und 2 sind nachgeguckt, um dann nahtlos mit Glass starten zu können, der das Schicksal aller drei Pro- oder Antagonisten (man weiß es nicht so genau) in seinen Händen hält.

Und so sitzen sie Dr. Ellie Staple (Sarah Paulson) gegenüber, einer Psychiaterin, die davon überzeugt ist dass sich keiner des Trio Infernal das Prädikat Superheld an die Fahnen heften kann. Was sie antreibt oder quält, sind lediglich pathologische Symptome, vorwiegend die Psyche betreffend. Dr. Glass erliegt dem Wahn, der Welt unbedingt mitteilen zu wollen, dass Superhelden existieren. Wendell Crumb ist offensichtlich ein Opfer seiner vielen multiplen Persönlichkeiten – und David Dunn? Könnte dank eines genetischen Defekts als bester Stuntman der Welt Karriere machen. Um den beiden Berserkern wie James McAvoy und Bruce Willis die Welt rechtmäßig zu Füßen zu legen – dafür ist Mr. Glass viel zu sediert. Er kauert ihm Rollstuhl, mit windschiefer Frisur und leerem Blick. Doch wieviel davon ist nur Tarnung? Und wer von den dreien ist wohl der Gefährlichste? Doch nicht etwa the Brain, jene Maus, die die Weltherrschaft erlangen will, während Pinky als tumber Haudrauf an ihrer Seite mit den Fäusten fuchtelt? Genau darauf aber läuft es hinaus. M. Night Shyamalan entwirft mit seinem kammerspielartigen Abschluss eine seriöse Pinky & Brain-Version seiner erdachten Comicfiguren. Einen Escape-Irrenhaus-Thriller oder Ausbruchsfilm, je nachdem, wie man die Institution, in der die drei untergebracht sind, wahrnehmen will.

Wie sinnvoll allerdings ist es, allen da draußen zu verkünden, dass Superhelden existieren? Eine gesellschaftspolitische Grundsatzfrage, die gefühlt fast 90% aller Comics zugrunde liegt, egal, ob Marvel, DC oder Dark Horse. M. Night Shyamalan bemüht sich aber, diese Frage so aussehen zu lassen, als wäre er der erste, der sie stellt. Wie wirkt sich das aus, wenn einer allein so viel Potenzial hat, um sich über alle Gesetze zu stellen? Wenn niemand ihm oder ihr etwas anhaben kann? Die Welt in The Boys zittert seit der ersten Folge der ersten Staffel, ob nicht einer der Sups sehr bald durchdrehen wird. Natürlich, das bringt eine Menge Probleme mit sich, wenn psychisch labile Persönlichkeiten (und das sind sowieso fast alle, die sich damit auseinandersetzen müssen, anders zu sein) die Faust auf den Tisch knallen, womöglich ohne Rücksicht auf Verluste. Genau darauf spielt Shyamalan an, und er liebt es, all dieses Legendenhafte seit den Comic-Anfängen auf seine verquere Art zu interpretieren. Helden, so der Meister des Mystery-Suspense, können niemals so integer, gerecht und wie Gandhi losgelöst von den eigenen Bedürfnissen sein, um als solche, eben Helden, die Welt in der Waage zu halten. Helden können nicht existieren, ohne dass irgendjemand keinen Schaden nimmt. Wenn, dann gestaltet sich ihr Auftreten als anarchischer Haufen einer Suicide Squad mit unberechenbaren Gemütslagen und natürlich sämtlichen Achillesfersen, die wie Krypton oder im Falle von David Dunn eben Wasser den ganzen Metabolismus in Mitleidenschaft ziehen.

Glass ist viel mehr analytisches Portrait als phantastischer Thriller. Das war Unbreakable – Unzerbrechlich auch schon. In einer enorm verletzbaren Welt wie die, in welcher Shyamalans Trilogie seine Handlung setzt, ist die Diskrepanz zu den gezeichneten Panels größer als irgendwo sonst. Umso fremdartiger und absurder wirkt der Gedanke, sich mit dem Unmöglichen zu arrangieren. Somit ist die unvermeidbare Götterdämmerung, die abseits spektakulärer Bilder und weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit vonstatten geht, die einzig mögliche Konsequenz.

Glass

How It Ends

MIT SCHWIEGERPAPA UNTERWEGS

6/10


howitends© 2019 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2018

REGIE: DAVID ROSENTHAL

CAST: THEO JAMES, FOREST WHITAKER, KAT GRAHAM, KERRY BISHE, MARK O’BRIEN, NANCY SORRELL U. A.

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Die Welt steht auf kein‘ Fall mehr lang. Das wusste schon Johann Nestroy, als er für seine moralische Komödie Der böse Geist Lumpazivagabundus das sogenannte Kometenlied erdichtet hat. Wenn man wenigstens wüsste, aus welchem Grund die Erde untergeht, wäre ja das ganze Schicksal vielleicht besser zu ertragen, als wenn man im Dunkeln tappt. So wie Theo James in dem 2019 auf Netflix veröffentlichten endzeitlichen Roadmovie How it Ends. Das Problem an Titel und dazugehörigem Film: Man weiß eben nicht, wie es endet. Und schon gar nicht wodurch. Nur so viel: Irgendetwas ist passiert. Etwas ganz Schlimmes. Vielleicht der endgültige Kollaps aufgrund zu hoher Energiepreise? Margin Calls überall? Alles reine Spekulation. Was das amerikanische Volk im Osten des Kontinents, genauer gesagt in New York, als erstes zu spüren bekommt, sind Flugausfälle und eine gekappte Verbindung in den Westen. Für Theo James als werdender Vater Will eine schreckliche Sache, weilt doch die werdende Mutter in der eigentlichen Heimat Seattle, während Will geschäftlich nach New York hat fliegen müssen und dort auch gleich seine Schwiegereltern besucht. Mit Schwiegervater Tom, dargestellt von einem rollenbedingt etwas angriffslustigen Forest Whitaker, hat der Mittdreißiger so gut wie gar nichts gemeinsam, doch die angeheiratete Familie kann man sich eben nicht aussuchen. Als Vater Tom sich anschickt, mit dem Auto gen Westen aufzubrechen, um nach dem Rechten zu sehen, muss Will sich anschließen. Wie in einem Roadmovie dieser Art zu erwarten: Je weiter und je länger beide unterwegs sind, desto apokalyptischer wird die ganze Situation. Und je apokalyptischer diese wird, desto näher rücken die beiden Sturköpfe zusammen, um ihr Ziel zu erreichen.

Während man im Kometenkatastrophendrama Greenland längst wusste, was auf einen zukommt, konnte sich Ric Roman Waugh vollkommen auf das Bewältigen sämtlicher Probleme zum Überleben der Spezies konzentrieren. How it Ends fährt die kontinentale Angelegenheit auf eine Tour of Duty hinunter, die mit den üblichen Komplikationen aufwartet, denen Durchreisende eben mal so begegnen, greift die Anarchie langsam um sich. Whitaker verleiht dem Abenteuer so etwas wie Würde, seine gönnerhaft-resolute Erscheinung als Ex-Marine (was man ihm allerdings nicht so ganz glauben mag) weckt Interesse, und ja, man würde den Mann, würde er am Straßenrand stehen, einfach aufgrund seines Charismas mitnehmen, damit die Fahrt nicht so langweilig wird.

Für Langeweile sorgt die Dystopie dankenswerterweise nicht. Denn David Rosenthal, dessen 2019 gedrehtes Remake von Adrian Lynes Jacob‘s Ladder sang und klanglos in der Versenkung verschwand, lässt die Karotte für den hinterherhoppelnden Hasen – in diesem Fall wir Zuseher – lange genug vom Heck seines staubaufwirbelnden Fahrzeuges baumeln. Diese Karotte: sie ist der wahre Grund für das Desaster. Und Rosenthal, er schweigt. Lässt Rauchsäulen in den Himmel steigen, lässt gar nicht mal wissen, ob sich das ganze nur als nationale oder gar globale Tragödie ausgestaltet. Lässt Straßen sperren und vertröstende Worte von einem selbst recht ratlosen Militär spenden und manch vertrauten Bekannten aufgrund der Extremsituation zu einem psychisch labilen Verbrecher mutieren. Das wiederum scheint wenig glaubhaft, gönnt uns am Ende aber endlich den Thriller, den How it Ends die ganze Zeit auf der Straße vor sich hertrieb, während hinten eben das Gemüse lockt. Was zu spät kommt, bezahlt man im Film mit Kreativität. Leider auch in diesem Fall, denn die Fahrt von Schwiegervater und -sohn hätte auch ein ganz normales, aber gelungenes Generationendrama sein können.

How It Ends

Sea Fever

ALLE IM SELBEN BOOT

6/10


seafever© 2019 Neasa Hardiman


LAND / JAHR: IRLAND, USA, GROSSBRITANNIEN, SCHWEDEN, BELGIEN 2019

BUCH / REGIE: NEASA HARDIMAN

CAST: HERMIONE CORFIELD, DOUGRAY SCOTT, CONNIE NIELSEN, JACK HICKEY, ARDALAN ESMAILI, ELIE BOUAKAZE U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Die Natur findet immer einen Weg, sich des Menschen zu entledigen. Nennt sich: Naturkatastrophen. Neben Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Tsunamis und dem ganzen tektonischen wie meteorologischen Treiben finden sich auch ganz kleine Organismen wie Viren und anderes Zeug dazwischen. Bakterien zum Beispiel. Oder Parasiten. Bei diesen durch den Willen zur Vermehrung angetriebenen proaktiven Winzlingen lässt einem das Gefühl nicht los, dass so etwas nur dazu auf der Welt ist, um Homo sapiens populationstechnisch in die Schranken zu weisen. Der Mensch jedoch ist klug genug, um das Schlimmste zu verhindern. Zumindest gegenwärtig. Oder hier in diesem Bio-Schocker auf hoher See, der genauso gut auf einem Raumschiff irgendwo in den Weiten des Alls hätte spielen können. Dann hätten wir Life von Daniel Espinoza. Doch griffiger wird’s, wenn der Zirkus auf der guten alten Erde abgeht. Und noch schöner, wenn wieder mal Europas Norden Filme wie diese inszeniert. Dann muss es nämlich nicht zwingend gut ausgehen, sondern einfach zu einem den Umständen entsprechenden, plausiblen Ende führen.

Wie auch immer. Ein reines Symptomtagebuch auf einem Fischkutter ist Sea Fever auch nicht geworden. Ein bisschen mehr als das. Vielleicht sogar etwas, dass sich als Nachzügler einreiht in die Ende der 80er Jahre so großzügig auf den Videothekenmarkt geworfenen Monsterhorrorstreifen, die James Camerons Abyss folgten und vorzugsweise in submarinem Umfeld stattfanden. Sea Fever ist aber durchaus subtiler. Zumindest anfangs erinnert der Streifen an das von mir sehr geschätzte Monsterdrama mit dem unverwechselbaren Titel Monsters von Gareth Edwards (by the way: Was wurde eigentlich aus diesem begnadeten Talent?). Auch hier kann die Crew eines irischen Trawlers der unheimlichen Begegnung mit einem zoologischen Mysterium nicht entgehen. Denn irgendetwas hält den Kahn an Ort und Stelle, viele Kilometer von der Küste entfernt. Nur gut, dass die Seeleute ganz zufälligerweise eine junge, zum Leidwesen aller abergläubischen Fischer rothaarige Studentin an Bord haben, die anomale Verhaltensweisen der Meeresfauna beobachten soll. Da Seeleute selten schwimmen können, und schon gar nicht daran denken, ins unheimliche Nass zu tauchen, muss das Mädchen Siobhan ran – und entdeckt da unten in der Dunkelheit etwas, das, würde man es nicht selbst sehen, leider als Seemannsgarn durchgehen muss, das lauschendem Tavernenvolk ungläubiges Kopfschütteln entlockt. Dieses Seemannsgarn hat aber noch ganz andere Qualitäten auf Lager, und es dauert nicht lange und das erste Mitglied der Besatzung spuckt Blut. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, in welchem Siobhan ganz vorne mitrennen muss, hat sie doch das meiste Knowhow, um dem Organismus wissenschaftlich und auch rational auf den Leib zu rücken, ohne sich dabei hinreissen lassen zu müssen, Poseidon anzubeten.

Sea Fever – in deutscher Übersetzung mit Angriff aus der Tiefe relativ austauschbar betitelt – folgt nicht wirklich neuen Pfaden, wenngleich der Blick in die Tiefe und bei dem, was da so zum Vorschein kommt, Thassalophobikern feuchte Hände garantiert. Oberwasser holt sich der Aggressor, ganz ähnlich anderen physisch überlegenen Bioinvasoren in ganz ähnlichen Thrillern, einen nach dem anderen. Das ist routiniert inszeniert und macht trotz der tödlichen Lage Lust darauf, noch tiefer abzutauchen, um dem Ökosystem noch andere Mysterien dieser Art zu entlocken. Darüber hinaus schafft, und das hebt den Film dann doch noch auf eine ethische Ebene, Regisseurin Neasa Hardiman sich und ihrem Skript ausreichend Raum, um auch die Frage nach Verantwortung zu stellen, wenn viel mehr auf dem Spiel steht als nur, die eigene Haut zu retten.

Sea Fever

Rim of the World

INDEPENDENCE DAY FÜRS SOMMERCAMP

5,5/10


rimoftheworld© 2019 Netflix


LAND / JAHR: USA 2019

REGIE: MCG

CAST: JACK GORE, MIYA CECH, BENJAMIN FLORES JR., ALESSIO SCALZOTTO, ANDREW BACHELOR, ANNABETH GISH U. A.

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Die Achtziger ließen mit den Fünf Freunden, TKKG oder den 3 Fragezeichen eine Welle eingeschworener Cliquen aus Mut, akzeptiertem Anderssein und Zusammenhalt in die lernfreien Nachmittage von Volksschülern und Unterstuflern schwappen. Das Kino ist auf dieser Welle ebenfalls mitgeritten, zu sehen in Die Goonies oder Stand by Me. Das mit Hitchcock als Testimonial veredelte Detektivtrio hatte da am meisten den Drall zum Phantastischen, obwohl nach den immer gleichen, bewährten und zeitlosen Lösungsparadigmen für scheinbar paranormale Phänomene Justus Jonas, Peter Shaw und Bob Andrews am Ende des Tages stets feststellen mussten, dass alles in diesem Universum logisch erklärbar bleibt. Ein bisschen mehr über den Tellerrand des wissenschaftlich Erfassten zu blicken, hätte der Reihe nicht geschadet. Aber gut, dafür gibt’s eben Stranger Things – oder den auf Netflix erschienenen Independence Day für Halbwüchsige: Rim of the World.

Auch hier sind vorab drei, später dann vier Freunde fest davon überzeugt, die Welt retten zu können. Der Weg dorthin führt aber über eine sozialkompetente Ebene, die sich im Sommercamp des Stanislaus National Forest in Kalifornien nur schwer erarbeiten lässt. Keine bzw. keiner der späteren Junghelden ist schließlich wirklich freiwillig hier. Die einen zur Not, die anderen, weil es ihnen dann vielleicht besser geht, wenn sie unter Leute kommen. Da wähnt man sich als Zuseher noch in einer recht unmotivierten Teenieklamotte mit schräg aufgelegten Gruppenleitern, die sich bis zur Peinlichkeitsgrenze verstockten Präpubertären auf erniedrigende Weise anbiedern. Doch dieser Fremdschämfaktor vergeht recht rasch, denn es passiert, was bereits in Independence Day passiert ist: Die Welt sieht sich einer Alien-Invasion gegenüber, und ja, natürlich bevorzugen diese den nordamerikanischen Kontinent. Sie kommen mit Raumschiffen und ballern unsere Zivilisation in Grund und Boden – zum Glück können die nunmehr vier grundverschiedenen Charaktere, die sich logischerweise zusammenraufen müssen, untertauchen, aber nicht, ohne vorher eine Raumkapsel vor den Latz geknallt zu bekommen, die nicht nur eine Astronautin, sondern auch ein recht lästiges Alien mit sich führt. Erstere wird nicht überleben, übergibt den Kids aber einen Schlüssel, den sie unbedingt von A nach B bringen müssen. Wohl klar, was die Next Generation tun wird, auch wenn es immer wieder danach aussieht, als wäre das eine Mission Impossible.

Mit dieser Franchise hat Regisseur McG allerdings nichts zu tun, wohl eher mit den Charlies Angels, dem Team aus Lucy Liu, Drew Barrymore und Cameron Diaz. Filme, die genauso wenig prägnant in Erinnerung bleiben wie seine spätere Komödie Das gibt Ärger oder 3 Days to Kill. McG inszeniert Filme, die wie Fastfood schmecken – weder Fisch noch Fleisch, aber ganz ok. Nährwert gibt’s darin keinen. Den finden wir bei Rim of the World auch nicht. Wenn man aber will, dann immerhin den Willen zur Reminiszenz eines eingangs erwähnten Hypes, der schon Jahrzehnte zurückliegt und wieder in Mode kommt. Dabei bekommen die vier Kids natürlich ihr Portiönchen an biographischer Wegzehrung mit auf den Weg, aber gerade nur so viel, damit nicht der Eindruck entsteht, sich ernsthaft damit beschäftigen zu wollen. McGs Invasions-Abenteuer braucht zur Gestaltung seiner Filmfassade nur ein bisschen davon – bei der Ausgestaltung des Monsters hätte es jedoch ein bisschen mehr sein können. Darüber mal hinweggesehen: Rim of the World ist solide Teenie-Fantasy mit dem Know-how, den kindlichen Trotz aufmüpfiger Pennäler für sich zu nutzen. Damit, so scheint es, lässt sich jedes Alpha-Alien einschüchtern.

Rim of the World

Wer wir sind und wer wir waren

DIE EHE NACH DEM AUS

6,5/10


hopegap© 2020 Tobis


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2019

BUCH / REGIE: WILLIAM NICHOLSON

CAST: ANNETTE BENING, BILL NIGHY, JOSH O’CONNOR, AIYSHA HART, NICHOLAS BURNS, SALLY ROGERS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Von einem Moment auf den anderen kann es zu Ende gehen. Allerdings nicht gleich das ganze Leben, aber ein Leben zu zweit. Da möchte man schon meinen: das ist so gut wie – wenn der oder die eine an dem oder der anderen hängt, umgekehrt aber nicht. Im britischen Ehedrama Wer wir sind und wer wir waren (im Original Hope Gap – ein Titel, der sich auf eine in Südengland gelegene Klippe inklusive Gezeitenzone bezieht) fällt die gute Annette Bening aus allen Wolken, als ihr Gatte eines Morgens nach dem Kirchgang verkündet, er werde fortgehen. Wie fortgehen, fragt natürlich die Gattin – und weiß gar nicht, worauf ihr Gegenüber anspielt. Fortgehen, zu einer anderen. Obwohl das Verlassen des gemeinsamen Haushalts nicht schon reichen würde, gibt’s obendrauf noch den Ehebruch mit einer natürlich jüngeren. Dabei ist der knochentrocken-sympathische Bill Nighy als Edward ein Langweiler, der stets am Computer hängt, um das Wikipedia aufzufüllen. Beide haben sich auseinandergelebt, was prinzipiell aber noch kein Grund sein muss, sich nicht nochmal annähern zu können. Aber Edward macht ernst. Und Minuten später sitzt Grace allein da. Zumindest hat sie noch ihren Sohn, der sie auffängt. Doch der sitzt bald zwischen den Stühlen, will sich aus dieser Misere heraushalten und beiden gerecht werden, was fast schon ein Ding der Unmöglichkeit scheint.

Man möchte meinen, die malerische Küste mit der sanft ansteigenden grünen Wiese, die dann abrupt an einer wuchtigen Kalksteinklippe endet – die man auch hinunterspazieren kann bis zum Wasser – man möchte meinen, diese Landschaft würde die Seele so sehr besänftigen wie in so mancher melodramatischen Bellestristik. Das tut es in diesem, aus einer gewissen Distanz betrachteten Familiendrama nur bedingt. Das Malerische einer Welt ist nur noch das Echo aus einem anderen Leben. Den Schock, die Trauer und die plötzliche Einsamkeit weiß Annette Bening zu empfinden. Dabei verkörpert sie keine duckmäuserische, konservative Ehefrau, sondern eine vielerlei interessierte, geistig jung gebliebene Individualistin, die mit Kränkungen vielleicht besser umgehen kann, diese aber dennoch erfahren muss. Eine Beobachtung, die ohne dramaturgische Überhöhung auskommt – was in solchen Filmen auch leicht passieren kann. William Nicholson, Drehbuchautor für Werke wie Shadowlands oder Gladiator, hat sich mit diesem Drama erstmals auch die Regie zur Brust genommen. Man merkt – der gute Mann ist ein analytischer, besonnener Denker, dem nichts ferner liegt als seinem Publikum zwischenmenschliche Beziehungen in Form eines emotionalen Blumenstraußes zu überreichen. Viel näher liegt ihm das kurze, vom Wind zerzauste Gras und die Gezeitentümpel, in denen sich allerlei Weichtiere tummeln.

Wer wir sind und wer wir waren ist eine Art Dreiecksgeschichte – zwei Elternteile, ein Kind. Das Kind ist erwachsen, hat selbst Beziehungsprobleme. Und bekommt als solches die wohl schwierigste Rolle aufgebrummt, die man aufbrummen kann: den Spagat zwischen zwei gleichsam geliebten Menschen zu meistern und dabei keine Partei zu beziehen. Zum Glück muss er sich als Minderjähriger nicht entscheiden, bei wem er leben möchte. Ein Unding für den Nachwuchs. Da die Rolle von Josh O’Connor als Sohn Jamie wohl die interessanteste des Films darstellt, wäre es noch spannender und aufschlussreicher gewesen, diesen von vornherein aus der Sicht des Sohnes zu erzählen anstatt den Fokus auf Annette Bening zu legen. Der Einblick in die Welt eines verlassenen Menschen enthält keine neuen Aspekte – wie es dem geht, der die Familie erst zur Familie gemacht hat, hätte da schon anderes zu berichten. Nicholson nimmt diese Sichtweise sehr wohl auch wahr. Vielleicht nicht in der richtigen Dosis, aber immerhin.

Genau das macht Wer wir sind und wer wir waren auch interessant, neben Benings variabel gestalteten Versuchen, ihr Leben wieder auf Schiene zu bringen. Dabei fallen weise, alltagsphilosophische Worte und britische Besonnenheit ebnet den tragikomischen Pfad zum Neuanfang.

Wer wir sind und wer wir waren

Astronaut

OPA IM ALL

6,5/10


astronaut© 2020 Jets Filmverleih & Vertrieb


LAND / JAHR: KANADA 2019

BUCH / REGIE: SHELAG MCLEOD

CAST: RICHARD DREYFUS, KRISTA BRIDGES, LYRIQ BENT, COLM FEORE, GRAHAM GREENE, RICHIE LAWRENCE U. A. 

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Star Trek-Fans haben diesen Tag wohl schon lange Zeit vorher im Kalender rot angestrichen: Captain James T. Kirk fliegt wieder ins All, und zwar inkognito als William Shatner, noch dazu mit stattlichen 90 Jahren. Damit wird er wohl als bislang ältester Mensch in die Geschichte der Raumfahrt eingehen. Und gleich auch beweisen, dass Raumfahrt mittlerweile wirklich jeder machen kann, es sei denn er hat das nötige Kleingeld dazu. Wohlgemerkt beschränkt sich das Vergnügen aber lediglich auf einen zehnminütigen Ausflug in den Orbit, Schwerelosigkeit inbegriffen. Dass man sich dann aber selbst von der Kugelform unserer Erde überzeugen kann, dürfte all die Millionen wert sein. Shatner hingegen hat dafür nichts bezahlt. Den Captain will man schließlich ehren.

Leute wie Richard Dreyfus, mittlerweile über 70 und im Vergleich zu Shatner fast noch blutjung, könnten sich dieses Vergnügen ebenfalls geben. Doch Dreyfus will lieber bezahlt werden als dafür zahlen – also macht er einen Film, der sich zur Einstimmung für Shatners orbitales Ereignis wohl nicht besser eignen könnte. Unter dem schlichten Arbeitstitel Astronaut ist der Star aus Der weiße Hai und Oscarpreisträger 1977 für Der Untermieter ein kauziger, kleiner Witwer, mit Wehwehchen da und dort, weshalb er auch im Haus seiner Tochter wohnt. Erinnert ein bisschen an The Father mit Anthony Hopkins – nur Dreyfus hat keine Demenz und ist so klar im Kopf wie der Sternenhimmel, den er tagtäglich und gemeinsam mit seinem Enkel beobachtet. Ein fast schon paradiesischer Lebensabend – wenn da nicht die Familie den Opa aus Kapazitätsgründen ins Seniorenheim auslagert. Von wegen auslagern: Dreyfus macht‘s wie Dieter Hallervorden in Sein letztes Rennen und wird der Welt zeigen, dass die Reise ins All immer noch auf der Bucket List steht. Und wie es der Zufall will, wird Opa, der vorgaukelt, jünger zu sein als er ist, für den ersten touristischen Flug zu den Sternen auserwählt.

Wer noch weiß, wie sich der Science-Fiction-Film Cocoon aus den Achtzigern angefühlt hat, kann Astronaut von Shelag McLeod ungefähr in dieser Richtung verorten. Nur diesmal schwimmt kein außerirdischer Kokon im Pool des Seniorenheims, sondern der Jungbrunnen hier ist einzig und allein der Wille, Wunsch und Weg für etwas undenkbar Machbares. Regisseurin McLeod ist allerdings Optimistin, und will natürlich, dass die Figur ihres Angus Stewart einer auf idealstem Wege leicht komplizierten Welt begegnet, mit bewältigbaren Hindernissen und der Fairness, die ein gutes Leben verdient hat. Wie in Cocoon ist auch hier das Bild der pflegebedürftigen Generation zumindest eines, das nichts mit sozialpornographischen Missständen beim Altwerden zu tun haben will. Die betagte Entourage, die Dreyfus umgibt, hätte gerne noch Jessica Tandy (Oscar für Miss Daisy und ihr Chauffeur) in ihrer Mitte. Am liebsten, so scheint es, hätte vielleicht sie ins All fliegen sollen, doch der eigentliche Star des Films entzückt mit nachdenklichen Blicken, erfahrenem Charme und einer nimmermüden Leidenschaft für Neues. Die routinierte, teils sehr konventionelle Inszenierung wirkt da gar nicht mal so vorgestrig, vielleicht, weil eben die Erinnerung an Cocoon, so wie die an Captain Kirk, eine nostalgische ist. Zwischen Fiktion und tatsächlicher Himmelfahrt liegt also dieser kleine, warmherzige Film, der die Brücke schlägt zwischen Weltenraum und leistbarem Lebenstraum.

Astronaut