Ich Capitano (2023)

MOSES DER MIGRANTEN

6,5/10


ichcapitano© 2023 Greta De Lazzaris / X Verleih AG


ORIGINALTITEL: IO CAPITANO

LAND / JAHR: ITALIEN, BELGIEN 2023

REGIE: MATTEO GARRONE

DREHBUCH: MATTEO GARRONE, MASSIMO GAUDIOSO, MASSIMO CECCHERINI, ANDREA TAGILAFERRI

CAST: SEYDOU SARR, MOUSTAPHA FALL, ISSAKA SAWAGODO, HICHEM YACOUBI, DOODOU SAGNA, KHADY SY, VENUS GUEYE, CHEICK OUMAR DIAW, BAMAR KANE U. A.

LÄNGE: 2 STD 1 MIN


Willkommen im Flüchtlingszeitalter. Dabei gab es dieses Phänomen der Migration schon, seit es Menschen gibt, betrachte man nur die Umwälzungen während der Völkerwanderung. Heutzutage sind es wieder mal Kriege im Nahen und europäischen Osten, die dazu geführt haben, dass von Syrien bis in den Iran Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen, um nach Europa zu gelangen. Die Rede ist von Flüchtlingen, die gar nicht anders können, als ihre eigene Haut retten zu müssen. Und dann gibt es jene, die weder verfolgt noch diskriminiert noch anderweitig bedroht werden, aber dennoch nicht hinnehmen wollen, in einem Land zu leben, das keinerlei Entwicklungsmöglichkeiten bietet. In Anbetracht dieser ernüchternden Umstände erscheint das nicht allzu ferne Europa als ein Land, in dem Milch und Honig fließen, als gelobter Boden, auf dem alles machbar scheint. Ganz egal, wer oder was Entwicklungsländern dieses Bild vermittelt – das Ideal eines paradiesischen Europas kann so nicht stimmen. Aufklärungsarbeit hinsichtlich dessen zu leisten, was Europa im Idealfall versprechen könnte und wieviel gleichzeitig auch nicht, könnte manchen Young Adult wie in Matteo Garrones Film vielleicht nochmal darüber reflektieren lassen, was im eigenen Land nicht vielleicht doch alles möglich wäre – und ob es die Reise ins Ungewisse wirklich lohnt, um dann, irgendwo weit weg von Heimat, Familie und allem Vertrauten, in einem Asylheim auszuharren, während der Traum von Reichtum und Ruhm zusehends verblasst.

Diese naive Vorstellung vom Leben in Saus und Braus als Star der Musikbranche treibt den 16jährigen Seydou dazu an, gemeinsam mit seinem Cousin Moussa die Hauptstadt des Senegal und somit auch die Familie zu verlassen, um ein besseres Leben zu beginnen. Dabei ist jenes in Afrika nun mal nicht das Schlechteste. Zugegeben, das Zuhause könnte ein Upgrade vertragen, beim Lebensstandard gäbe es Luft nach oben. Doch mit Ehrgeiz, Willenskraft und all dem Ersparten, dass Seydou und Moussa ohnehin zur Seite gelegt haben, könnte man es auch im Senegal zu etwas bringen, Beziehungen gäbe es genug. Den beiden ist das zu wenig. Europa ist das Ziel, und dafür würden alle Gefahren dieser Welt sie nicht aufhalten. So beginnt eine abenteuerliche Reise quer über die Nordhälfte des afrikanischen Kontinents – über Mali, den Niger bis nach Libyen und von dort sollte es per Flüchtlingsboot nach Italien gehen. Eine Entbehrung folgt der nächsten, der Marsch durch die Wüste wird zu einem Gewaltakt und eine Probe auf Leben und Tod. Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, werden Seydou und Moussa von libyschen Banditen überfallen, der eine kommt ins Gefängnis, der andere wird in die Sklaverei verkauft. Eine Prüfung folgt der nächsten, am Ende mag Seydou die Verantwortung tragen für ein Schiff voller Menschen. Ich Capitano wird der Teenager über die Köpfe seiner Schützlinge brüllen – er wird sich fühlen wie Moses, der eine Gefolgschaft ins gelobte Land führt.

Matteo Garrones entbehrungsreiches, üppig bebildertes Roadmovie war dieses Jahr für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert. Eine Auszeichnung, die gerechtfertigt ist? Es kommt darauf an, zu welchen Gedankengängen das Werk inspiriert.

Garrone ist einer, der in seinen Werken stets in sattem Naturalismus schwelgt, der nicht selten in rauer Gewalttätigkeit mündet. Seine Macht-Parabel Dogman ist schwere Kost, alternativ dazu gelingt ihn mit seinen düster-vernebelten Interpretationen barocker italienischer Märchen (Das Märchen der Märchen) und Collodis Volksklassiker Pinocchio eine Abkehr von schmeichelnder Lieblichkeit hin zu einem blutig-bizarren Maskenball. Ich Capitano zögert an manchen Stellen auch nicht, deftig auszuteilen, was insbesondere die Darstellung der libyschen Gefangenschaft betrifft. Darüber hinaus aber könnte man Garrones Direktheit fast schon vermissen. Die Reise seines alttestamentarischen Auserwählten überwindet zwar allerhand Hürden, doch die helfende Hand von etwas übergeordnet Schamanistischem scheint den jungen Seydou voranzuschubsen. Knallharter Kinorealismus sucht man vergeblich, auch wenn sich alles und zumindest visuell so anfühlt, als wäre es das. Ich Capitano ist immer noch entrückt magisch, wie eine leicht verschobene, beinharte Realität, und es ist nie klar zu sagen, ob die metaphysischen Elemente des Films Garrones Universum tatsächlich durchdringen oder nur Träumereien sind.

Letztlich ist es kaum zu glauben, dass diese Odyssee wirklich gelingt. Als zu simpel stellt der Film manches dar, der Hang zur Romantisierung ist unverkennbar. Was aber nicht heisst, dass Ich Capitano nicht weiß, wie er sein Publikum packt. Die Fahrt übers Meer gestaltet sich als kakophonisches Chaos aus darbenden Menschen, denen Seydou den Segen bringt. So etwas in Szene zu setzen bedarf Können, und Garrone sind dahinsichtlich meisterhafte Momente wohlwollenden Pathos gelungen, der sich dadurch in Zaum hält, das Schicksal einer Eroberung Europas nicht auszuerzählen.

Ich Capitano (2023)

Zombi Child

DIE KINDER DER TOTEN

6,5/10


zombichild© 2020 Grandfilm


LAND / JAHR: FRANKREICH 2019

BUCH / REGIE: BERTRAND BONELLO

CAST: LOUISE LABEQUE, WISLANDA LOUIMAT, MACKENSON BIJOU, KATIANA MILFORT, ADILÉ DAVID, NINON FRANÇOIS U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Zombies gibt es wirklich. Zumindest sagt man das, und zwar auf Haiti. Dort, wo Voodoo mehr ist als nur eine Zaubershow. Vielmehr eine Lebenseinstellung, eine Art metaphysische Weltsicht. Als der erste belegte Fall eines Zombies gilt Anfang der 60er Jahre ein Mann namens Clairvius Narcisse. Der brach eines Tages auf der Straße tot zusammen, wurde beerdigt – und kurze Zeit später wieder zum Leben erweckt, um als untote Kreatur ohne eigenen Willen mit anderen Zombies als Sklave auf einer Zuckerrohrplantage zu arbeiten. Irgendwie hat dieser Mann es geschafft, den Willen seiner Herren zu brechen und zu seiner Familie zurückzukehren, wo er bis zu seinem zweiten Tod gelebt hat. Klingt kurios? Ist es auch. Und es ist der erste mir bekannte Zombie-Film, der um genreübliche Versatzstücke wie Kannibalismus, Blutdurst und rasender Impulssteuerung einen großen Bogen macht. Mit dieser Darstellung des Zombie-Mythos bringt Regisseur Bertrand Bonello das medial hochgeschätzte und durch The Walking Dead massentauglich gewordene Thema auf den Boden kulturgeschichtlicher Tatsachen zurück. Dabei teilt Bonello seinen Film in zwei Hälften. Die eine schildert chronologisch die Ereignisse, die damals auf der karibischen Insel angeblich stattgefunden haben. Die andere erzählt die Coming of Age-Story der französischen Schülerin Fanny, die während ihres Aufenthaltes im Internat mit der Abfuhr ihres Freundes zurechtkommen muss. Ihr zur Seite steht eine kleine Gruppe vertrauter Freundinnen, die sich regelmäßig, zur nachtschlafener Zeit, als eingeschworene Schwesternschaft im Kunstsaal der Schule treffen. Dabei wird ein neues Mitglied aufgenommen – ein haitisches Mädchen namens Mélissa, die bei einer Tante lebt, und die man gut und gerne als Voodoo-Priesterin bezeichnen könnte. Fanny ist davon fasziniert – und spielt mit dem Gedanken, ihre Dienste in Sachen Liebeskummer in Anspruch zu nehmen.

Zombi Child fügt sich wunderbar an eine Reihe ähnlich gelagerter, augenscheinlicher Jugendfilme an, wie zum Beispiel When Animals Dream von Jonas Alexander Arnby oder Raw von Cannes-Preisträgerin Julia Ducournau. In allen diesen Filmen dringt das Paranormale in den ganz normalen Alltag junger Mädchen ein, die sich damit abmühen müssen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Bonellos Film kommt allerdings ohne Blut und Todesfälle aus, dafür ist das Überschreiten dieser Grenze hier im Film eine, die nicht weniger Wirkung hat. Statt verwesender Gesichter und bissfester Launen handelt das Voodoo-Drama von Seelenreisen und der Dominanz solcher. Vom Beschwören garstiger Dämonen und dem Bannen selbiger. Der westafrikanische Kult ist nichts, womit man einfach so aus Neugierde herumspielt, meint der Regisseur. Und auch nichts, das sich gerne als reißerisches Horror-Vehikel verbraten lassen will. Zombi Child nimmt die Möglichkeit einer unbekannten Dimension wie dieser durchaus ernst. Vielleicht ein bisschen zu ernst, und vielleicht schmeckt diese Art der Zombie-Interpretation verwöhnten Zombieland-Veteranen nicht wirklich, weil sie mit Schlitzen und Ballern nicht weit kommen. Als beruhigt beunruhigende Exkursion zu den Wurzeln eines Mysteriums allerdings ist Zombi Child Kopfkino für geschmacksorientierte Tellerrand-Balancierer, den Blick in den Abgrund inbegriffen.

Zombi Child

Pelikanblut

MACH MICH FERTIG, KINDERSEELE

7/10


pelikanblut© 2020 DCM


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2019

BUCH / REGIE: KATRIN GEBBE

CAST: NINA HOSS, KATERINA LIPOVSKA, ADELIA-CONSTANCE OCLEPPO, MURATHAN MUSLU, SOPHIE PFENNINGSTORF, DIMITAR BANENKIN U. A. 

LÄNGE: 2 STD 7 MIN


Manchmal ist man beim Nachwuchs mit seinem Latein am Ende. Die Nerven liegen blank, es kribbelt der kreisrunde Haarausfall und alle errungenen Erkenntnisse zur pädagogisch richtigen Erziehung sind plötzlich wie weggeblasen. Liegt natürlich auch am eigenen hausgemachten wie auch immer gearteten Stress. Dazu kommt der Kinderstress – und die Fetzen fliegen. Am Kind sieht man erst, wie Menschen überhaupt ticken, was sie quält und motiviert. Am Kind sieht man aber auch das eine oder andere Mal, wie sehr magisches Denken die Grenze zwischen Realität und Imagination verschwimmen lässt. Da kann es manchmal sein, dass Kinder einem wirklich das Gruseln lehren. Denn diese, so Berichten aus dem Kindergarten zufolge, sehen immer wieder mal Dinge, wo gar keine sind. So, als hätten sie das Füßchen in der Tür zu einer anderen Dimension, die sich für uns Erwachsene längst geschlossen hat. Kann sein, dass diese Tür im hohen Alter wieder aufgeht. Zwischendurch aber ist das Hier und Jetzt schwierig genug. Keine Zeit für Metaphysisches. Vielleicht auch, weil es die Welt, wie wir sie verstehen, über den Haufen werfen würde.

Mit Systemsprenger hat Pelikanblut, der letztes Jahr im Rahmen von Flash – dem Wiener Festival des phantastischen Films – zu sehen war, alleridngs nur sehr wenig gemein. Nora Fingscheidt erzählt ihren Film um die schwer erziehbare Helena Zengel aus einem ganz anderen Blickwinkel, bleibt beobachtend, dokumentarisch. Katrin Gebbe (u. a. Tore tanzt) hingegen geht da noch einen Schritt weiter und schickt ihr Problemkind auf einen Survivaltrip durch die emotionale Postapokalypse. Dabei hat das fünfjährige bulgarische Mädel das Riesenglück, von Nina Hoss adoptiert zu werden, die im Film eine idealistische, alleinstehende Pferdetrainerin namens Wiebke gibt. Allein auf weiter Koppel will sie sich scheinbar selbst davon überzeugen, den fehlenden Vater spielerisch kompensieren zu können, indem sie mit Raya ihr zweites Kind adoptiert.Die Freude über das zusätzliche Mutterglück weicht aber bald zähneknirschendem Abklopfen der eigenen erzieherischen Fähigkeiten, als der zugegeben nicht sehr sympathisch wirkende Blondschopf anfängt, die Einrichtung zu demolieren und in rasender Wut sogar das Kinderzimmer abzufackeln. Wiebke sieht sich gezwungen, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen – Experten raten ihr, das Kind in eine entsprechende Einrichtung zu geben. Zum Leidwesen der Erstadoptierten bringt es Mama aber nicht übers Herz und greift dabei lieber zu allen anderen möglichen Mitteln, um das scheinbar irreparable Defizit des gestörten Kindes auszugleichen.

Mitunter stelle ich durchaus in Zweifel, dass die Beweggründe zu Mamas rücksichtsloser Übersteigerung der eigenen Alltagskapazitäten nicht dafür gedacht waren, die erdadoptierte Mustertochter in ihrer Einsamkeit nicht verzweifeln zu lassen. Die hätte den Zuwachs am allerwenigsten nötig gehabt. Und natürlich: erziehungstechnisch ist bei Nina Hoss‘ Mutterfigur noch reichlich Luft nach oben, und man wundert sich manchmal gar nicht, dass manche Dinge so dermaßen aus dem Ruder laufen. Doch bei welchem Elternteil, mich nicht ausgenommen, wäre das anders. Die meisten von uns sind schließlich keine Pädagogen. Irgendwann aber ist in Pelikanblut der Punkt erreicht, an welchem der Film das herkömmliche Kinderzimmer verlässt und eine ganz andere Richtung nimmt. Ich will nicht sagen die des Horrorfilms, denn Horror wäre zu hoch gegriffen. Viel eher würde ich Pelikanblut vor allem in der zweiten Hälfte als dem Subgenre des Gothic-Grusels verwandt sehen, allerdings auf eine romantisierte Art und Weise, fast wie aus einem Roman von Daphne Du Maurier, die in ihren Werken stets immer mehr angedeutet als explizit ausformuliert hat. Das finden wir auch in Katrin Gebbes Film als eine beunruhigende, metaphysische Komponente, allerdings nahtlose eingebettet in einen soliden Realismus, der klassischem Kinderhorror wie Das Omen den Rücken kehrt. Ein gewagter und geglückter Genre-Sampler, der so sicherlich noch nicht da war.

Pelikanblut

Eine grössere Welt

DIE MIT DEM WOLF TANZT

7,5/10

 

einegroesserewelt© 2019 MFA+ Filmdistribution e. K. 

 

LAND: FRANKREICh, BELGIEN 2019

REGIE: FABIENNE BERTHAUD

CAST: CÉCILE DE FRANCE, NARANTSETSEG DASH, TSERENDARIZAV DASHNYAM, ARIEH WORTHALTER, LUDIVINE SAGNIER U. A. 

 

Was, wenn man verzweifelt versucht, einer nicht enden wollenden Lebenskrise zu entkommen? Alkohol, Drogen? Vielleicht auf bekömmlicheren Wegen wie Esoterik? So bekömmlich muss Esoterik gar nicht sein, durchaus kanns da passieren, dass Probleme nur noch schlimmer werden, kommt ganz darauf an, welche Quelle man hier ansteuert. Esoterik – diese Bezeichnung ist immer etwas abschätzig. Esoterik wird sehr gerne mitleidig belächelt. Allerdings – alles über einen Kamm scheren könnte dazu führen, dass das eine oder andere ernstzunehmende Detail leicht übersehen wird. Denn sicher ist: ausgelernt haben wir in Punkto Weltverständnis alle nicht. Es wäre vermessen, so etwas zu behaupten. Dabei lohnt es sich, mal hinzuhören oder hinzusehen, wie Fabienne Berthaud mit ihrem Film Eine größere Welt fernab jeglichen Humbugs dem grundlegend skeptischen, weil intellektuellen Kinogeher beizubringen versucht, um die Ecke zu denken.

Ihr Film erzählt die wahre Geschichte der in tiefe Trauer gefallenen Tontechnikerin Corine, die ihren an Krebs erkrankten Ehemann zu Grabe tragen musste. Nichts lässt diese Trauer versiegen. Wenn der Lebensmensch geht, ist kaum ein Weiterleben möglich. Wäre da nicht dieses Jobangebot ihres guten Freundes, für etwaige ethnographische Tonaufnahmen in die Mongolei zu reisen, um dem Ritual einer Schamanin beizuwohnen. Schamanismus – das ist doch die Möglichkeit, zwischen den Dimensionen hin und her zu reisen? Womöglich auch die Fähigkeit, Kontakte mit Verstorbenen aufzunehmen. Seelen bleiben da nicht nur unangreifbare Manifestationen einer Hoffnung auf das Transzendente, sondern werden zu Gesprächspartnern. Corine greift jeden Strohhalm, den sie kriegen kann, um die Liebe ihres Lebens wiederzusehen – und macht sich auf die Reise. Nur passieren dort Dinge in der Spitzjurtensiedlung der Tsaatan, die ein uns wohlbekanntes Weltbild erschüttern. Und Corine muss feststellen, dass sie im Grunde selbst jemand ist, der das Zeug hat, zwischen den Welten zu gehen. In eine noch größere als die unsrige hinein – und hoffentlich auch wieder heraus.

Mangels Vorrecherche, das gebe ich zu, wurde mir erst am Ende des Filmes klar, dass all das Gesehene auf wahren Begebenheiten beruht. Und Corine Sombrun es tatsächlich geschafft hat, die Terra Incognita des Trancezustandes für die Wissenschaft erstmalig relevant zu machen. Wenn man so will, ist Eine größere Welt der etwas andere Abenteuerfilm – eine spannende und packende Reise in eine fremde Kultur und an einen anderen Aussichtspunkt auf eine vertraute Realität, die so noch nicht fertig durchdacht sein kann. Skeptiker können natürlich davon halten, was sie wollen. So, wie Berthaud dieses Phänomen schildert, hat das weder etwas Reißerisches, noch Kitschiges noch plump Magisches. Ganz im Gegenteil: Sie konfrontiert ihr Publikum mit unverhohlener Neugier und einer wenig entrückten Unvoreingenommenheit. Ihr Blick ist ein von Vorurteilen völlig entrümpelter. Dazu kommt natürlich die beeindruckende und natürliche Performance von Schauspielerin Cécile de France, die das Glück hat, ihren darzustellenden Filmcharakter vollends verstehen zu können, vielleicht, weil sie von Grund auf selbst weltoffen genug ist. Das ist nicht nur die Rolle in einem Spielfilm, sondern auch jene einer rekonstruierten Dokumentation.

Für alle, die sich angesichts des aktuellen Wissensstands über unsere Welt noch nicht zurücklehnen oder noch nicht bemerken wollen, dass alle Geheimnisse bereits gelüftet sind, die aber auch nicht in nachhaltigem magischen Denken verweilen, sondern einfach an neuen Erkenntnissen interessiert sind, dem sei Eine größere Welt ehrlich und aufrichtig ans Herz gelegt. Einen schöneren Film über unsere und die Existenz der anderen wird man derzeit im Kino wohl kaum finden.

Eine grössere Welt

Der Schamane und die Schlange

DIE METAPHYSIK DES DSCHUNGELS

7,5/10

 

schamane

REGIE: CIRO GUERRA
MIT JAN BIJVOET, NILBIO TORRES, BRIONNE DAVIS

 

Wenn du lange genug in den Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Was Friedrich Nietzsche zur Fatalität der Faszination für das Schreckliche und Unbegreifliche zu sagen hatte, lässt sich genauso auf einen Kosmos anwenden, der unserer Welt inhärent ist und für den Menschen nicht minder furchterregend wie schön zu sein scheint – der Dschungel. Das Königreich aller tropischen Ökosysteme ist zweifelsohne das unendliche grüne Meer des Amazonasbeckens. Eine undurchdringliche, lebensfeindliche Wildnis voller Mythen, Legenden und unerklärlicher Vorkommnisse. Betritt man den Regenwald, scheint man in eine andere Dimension zu fallen. Was beginnt, ist nicht nur eine Reise durch ein geografisches Labyrinth, sondern auch eine Odyssee tief in die eigene Psyche. Bei der man verlorengehen kann wie Colonel Fawcett Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, verfilmt unter dem Titel Die versunkene Stadt Z, mit Charlie Hunnam als besessenem Entdecker. Oder dem Wahnsinn verfällt, wie der Konquistador Lope de Aguirre, beklemmend dargeboten von Wirrkopf Klaus Kinski in Werner Herzog´s Aguirre – der Zorn Gottes. Reisen wir etwas weiter östlich, über den Atlantik, landen wir im Regenwald des Kongobeckens. Die wohl bekannteste Odyssee in den Dschungel ist wohl Joseph Conrads Erzählung Herz der Finsternis, später von Francis Ford Coppola mit Apocalypse Now in den vietnamesischen Dschungel übertragen. All das sind Chroniken verhängnisvoller Expeditionen, aus denen die grüne Hölle als zivilisationsfeindliches, verschlingendes Dickicht hervorgeht.

Der kolumbianische Regisseur Ciro Guerra schafft es, dem Regenwald nicht nur den Irrsinn abzuringen, sondern auch jene Bedeutung, für welche die grüne Lunge neben all der Artenvielfalt ohnehin auf ewig erhalten werden soll. Nämlich die Bedeutung des Wissens. Der Wald, so unendlich groß und unerforscht, beherbergt ganze Apotheken. Nicht vorzustellen, wie viele Arten unbekannter Pflanzen und deren Wirkung noch auf ihre Entdeckung warten. So wie die geheimnisvolle Pflanze namens Yakruna. Ein unerhört seltenes botanisches Juwel von ebenso unerhörter Wirkungskraft, auf deren Suche man sich macht. Guerra erzählt in seiner beeindruckenden Parabel aus dem Tagebuch des tatsächlich gelebten Anthropologen Theodor Koch-Grünberg, aber auch von dem Biologen Richard Schultes. Auch diesen hat es tatsächlich gegeben, seine Darstellung in Der Schamane und die Schlange ist aber fiktiv. Verbunden werden die beiden Charaktere, die zeitlich rund 40 Jahre auseinanderliegen, von einem Schamanen, der nicht die Pflanze, aber sich selbst und seine Bestimmung wiederfinden muss. Er begleitet sowohl den einen als auch den anderen auf eine metaphysische Reise in ein ganz anderes Herz der Finsternis. In eines, in welchem die Finsternis den Zustand von Raum und Zeit, von Ich-Identitäten und Tier-Identitäten aufhebt. In hypnotischem Schwarzweiß erlebt der Zuseher eine meditative Reise auf versteckten Pfaden der Indianer, auf engen Flussläufen und Kreuzwegen religiöser Fanatismen. Wie Ciro Guerra es schafft, seine anthropologische Zivilisationskritik mit derart wenig persönlichem Comment zu überlagern, ist erstaunlich. Seine Darsteller, seine Bilder sprechen für sich. So, als würde der Film seinen eigenen Weg bis ans Ziel finden, ohne richtungsweisende Anstupser von außen.

Der Schamane und die Schlange ist ein abgekapselter Kosmos, der zugedröhnt wirkt wie die Filme von Werner Herzog, aber auch die unendliche Rätselhaftigkeit zelebriert wie der Thailänder Apichatpong Weerasethakul. Das Publikum muss nicht alles verstehen, nicht mit Worten. Es soll den Film begreifen, eher mit Gefühlen. Darauf lässt sich Guerra ein – und gewinnt. Da der Regisseur seinen Film treiben lässt wie eine Piroge am Wasser, kann er seine verzweifelten Botschaften viel intensiver transportieren, ohne dabei anzuklagen. Wenn am Ende der Biologe Schultes eine ähnliche transzendente Erfahrung macht wie David in 2001: Odyssee im Weltraum, hat nicht nur dieser seinen Weg zurück zu den Wurzeln gefunden. Auch jene, welche die Unberechenbarkeit terraner Wildnis fasziniert, werden erkennen, dass der Regenwald längst mehr ist als nur die Anzahl seiner Wurzeln und atmenden Geschöpfe.

Der Schamane und die Schlange