Hades – Eine (fast) wahre Geschichte aus der Unterwelt (2023)

WIENER BLUT IM HERZEN UND AUF DER STRASSE

6/10


hades© 2023 Constantin Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2023

REGIE: ANDREAS KOPRIVA

DREHBUCH: HORST-GÜNTHER FIEDLER, ANOUSHIRAVAN MOHSENI

CAST: ANOUSHIRAVAN MOHSENI, ALEKSANDAR PETROVIĆ, IGOR KARBUS, ALMA HASUN, FRITZ KARL, PROSCHAT MADANI, AGLAIA SZYSZKOWITZ, TIM SEYFI, ANICA DOBRA, HARALD SCHROTT, CHRISTIAN STRASSER, FANNY STAVJANIK, ALEXANDER LUTZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Mit dieser knapp um die letzte Jahreswende hirzulande in den Kinos gestartete österreichische Unterweltkomödie geht ein kurioses Phänomen einher, welches nicht nur lokalkolorierte Eigenproduktionen betrifft, sondern mitunter auch Internationales. Bei letzterem könnte man noch verstehen, dass zu wenige Säle zu viele Filme stemmen müssen, denn jede im Verleih befindliche Produktion will seinen Weg zum Publikum finden. Verwunderlich dabei ist, dass die einheimische Filmwelt keinerlei Heimvorteil hat. Anhand von Hades – Eine (fast) wahre Geschichte aus der Unterwelt lässt sich gut erkennen, wie stiefmütterlich Genreproduktionwn wie diese behandelt werden. Denn Hades, zu welchem der renommierte österreichische Filmkritiker Horst-Günther Fiedler auch das Drehbuch verfasst hat, lief gefühlt gerade mal eine Woche in den Lichtspielhäusern, bevor er sang- und klanglos aus dem Kinoprogramm verschwand. Auf der filmgenuss-eigenen Watchlist stehen österreichische Filme generell gerne weit oben, auch dieser hier und nicht zuletzt aufgrund wohlwollender Kritiken. Und dann das. So schnell hätte man als Filmnerd gar nicht die besten Plätze reservieren können, war er weg. Die Chance auf illustre Besucherzahlen bestand gleich gar nicht, ich bin sogar versucht zu sagen: Wenn Kinobetreiber heimischen Werken so derart ans Bein pinkeln, grenzt das – natürlich polemisch formuliert – fast schon an Sabotage.

Umso mehr freut es mich, Hades im Sortiment von Netflix entdeckt zu haben. War der Umstand der nicht vorhandenen Kinoauswertung vielleicht Teil eines Streaming-Deals? Bringt dieser Entschluss den größeren Reibach? Vermutlich. Was schade ist. Denn österreichische Filme im Kino beleben die kulturelle Landschaft. Mut dazu, sie länger laufen zu lassen als andere, wäre der Glauben an die eigene Sache. Aber genug des Idealismus. Wie sieht es nun mit dem Film selbst aus, der als fast wahre Geschichte von Aufstieg und Fall eines Mannes fürs Grobe erzählt? Interessant wäre dabei zu erfahren: Was genau hat Anoushiravan Mohseni denn wirklich erlebt? Gab es zum Beispiel diesen Kommissar Czermak, diese Figur irgendwo zwischen Inspektor Columbo, Lolli-Kojak und einer Wiener Melange aus Ernst Hinterbergers Dramatis Personae? Als Hommage an den Wien-Krimi bringt Serien-Regisseur Andres Kopriva Stereotypen wie ihn in einen sozialen Dunstkreis ein, in welchem Hauptdarsteller Mohseni Motive aus seiner eigenen Kindheit und vielleicht auch seinem späteren Lebenswandel einbringt.

In den 90er Jahren nach Wien immigriert, findet der Dreikäsehoch sofort Gefallen daran, Diebesgut zu verhökern. Scheinbar kommt da bereits ein Talent zum Vorschein, welches ihn mit der autochthonen Jugendgang im Gemeindebau auf „ein Packerl hauen“ lässt. Gewalt gehört bald zur Tagesordnung, andere werden verdroschen und bestohlen, ach wie ist das Leben als kleinkrimineller Jugendlicher nicht lukrativ. Jahrzehnte später haben die vier Kids leider nichts dazugelernt, der eine von ihnen hat sich gar zum Nachtclub-Zampano hochgearbeitet, die anderen drei bilden das Trio Infernal der Unterwelt-Exekutive, allen voran eben Reza, der nicht nur auf charmante Wiener Art Furcht und Schrecken verbreitet, sondern dank intensiven Kampfsport-Trainings fast schon in Hill/Spencer-Manier unwilligen Schuldnern die Fresse poliert. Und dann passiert das – was in Unterweltfilmen meistens passiert: Die Liebe, im Idealfall auf den ersten Blick. In Nullkommanix erobert er mit selbstgefälligen Sprüchen, die ihn arroganter erscheinen lassen als er eigentlich ist, das Herz von Beatrice (Alma Hasun), die nichts von seiner Drecksarbeit weiß. Ein Umstand, der Komplikationen birgt. Und Reza langsam, aber doch, zum Umdenken bewegt.

Ein Perser in der Unterwelt – ich bin ja heilfroh, dass dafür nicht Publikumsliebling Michael Niavarani aus dem Simpl abkommandiert wurde, um aus Hades – Eine (fast) wahre Geschichte aus der Unterwelt eine weitere Kabarett-Komödie a la Salami Aleikum zu machen. Koprivas Film ist da weitaus gelassener, weil sein Antiheld, der aus dem Nähkästchen plaudert, lieber keine Rampensau sein will. Und das ist gut so. Kenner des österreichischen Films wissen vielleicht: Im Tatsachendrama Taktik gab Anoushiravan Mohseni einen der drei Geiselnehmer, die in den 90ern in einem Grazer Gefängnis ihre Freifahrt erpressten. Diesmal wird er zum Erzähler seiner eigenen Geschichte, das gelingt ihm mit selbstironischem Humor und dem zugrundeliegenden Gemüt eines Belehrbaren, der es irgendwann besser machen will. Man könnte Hades tatsächlich als augenzwinkernde Gaunerkomödie betrachten, die zwar auf abgetretenen Pfaden unterwegs ist, um altbekannte Versatzstücke auszuprobieren, die aber noch schärfer und sekkanter hätten sein können, um sich – und da kann man ja dreist genug sein – der schwarzhumorigen Süffisanz eines Guy Ritchie anzunähern. Das Herz hat Hades zwar am rechten Fleck, doch das unüberhörbare Problem an der Sache ist Mohsenis sprachliche Intonation. Einer wie Fritz Karl oder eine wie Aglaia Szyszkowitz werden sofort, nur Sekunden, nachdem sie im Fokus der Kamera stehen, zu denen, die sie darstellen. Bei Mohseni klingt alles, was er zum Besten gibt, wie auswendig gelernt. Die Kunst im Schauspiel liegt ja bekanntlich darin, die Rolle so aussehen zu lassen, als wäre das Gesagte nichts, was jemand anderer geschrieben hätte. Hades nimmt sich durch dieses Defizit vieles an seiner Authentizität. Hinzu kommt, dass Andrea Kopriva aus dem Serienfach kommt und selten kinoformatfüllende Größe erreicht. Vieles, womöglich dem Budget geschuldet, bleibt beschaulich und arrangiert, manches Mal scheint der Erzähfluss gestört, vorallem in den Szenen aus Rezas Jugendzeit.

Was bleibt, ist unterm Strich der gewinnende Charakter eines Improvisationstalents mit Migrationshintergrund als einer, der nicht alles weiß, vieles kann, aber manchmal eben nicht das richtige tut. Eine umschmeichelte Noir-Figur mit Potenzial ist dieser Reza: er ist einer, dem man nicht böse sein kann. Obwohl das Schauspiel zu wünschen übrig lässt: Mohseni hätte das Zeug. Das Phlegmatische eines Adam Sandler ist da zu finden, das Energische eines Kumal Nanjiani und das Wienerische eines Robert Palfrader, der das Gefährliche mit dem Lausbübischen genauso gut hätte verbinden können wie Mohseni. Hades – Eine (fast) wahre Geschichte aus der Unterwelt ist kleinformatiges Selbstfindungskino mit Hang zu Grätzel und Schabernack, politisch unkorrekten Fausthieben und der verzeihlichen Selbstüberschätzung seiner Figuren. Die Erdung derselbigen gelingt am besten, alles andere hat man mitunter schon besser gesehen. Oder gehört.

Hades – Eine (fast) wahre Geschichte aus der Unterwelt (2023)

Back to Black (2024)

VOM WERT DES WELTRUHMS

6,5/10


backtoblack2© 2024 Dean Rogers, STUDIOCANAL SAS


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2024

REGIE: SAM TAYLOR-JOHNSON

DREHBUCH: MATT GREENHALGH

CAST: MARISA ABELA, LESLEY MANVILLE, EDDIE MARSAN, JACK O’CONNELL, JULIET COWAN, BRONSON WEBB, ANSU KABIA, SAM BUCHANAN U. A.

LÄNGE: 2 STD 2 MIN


Janis Joplin, Jim Morrisson, Jimi Hendrix – und Amy Winehouse. Sie alle gehören, mit einem gewissen Zynismus betrachtet, zum Klub 27. Sie haben ein Leben gelebt, das nicht mal drei Dekaden gedauert hat. Sie wurden weltberühmt, Fans lagen ihnen zu Füßen, Türen und Tore waren geöffnet, und dennoch scheiterten sie daran, das, worauf es ankam, halten zu können. Im Juni 2011 starb Amy Winehouse aufgrund einer Alkoholvergiftung nach einer längeren Phase der Enthaltsamkeit, wie uns am Ende des nun in den Kinos angelaufenen Biopics letzte Zeilen informieren. Eine große Stimme, unverwechselbare Musik, und dennoch ist das, was Menschen wie Winehouse in die Geschichte eingehen lässt, eben nicht das, was ein gutes Leben wohl ausmachen würde. Ein gutes Leben, das wäre Beständigkeit, Geborgenheit und Zusammenhalt, Liebe und Treue. Back to Black sieht sich als Künstlerinnendrama weniger in der Pflicht, eine Chronik des jähen Erfolgs abzuliefern als vielmehr, den Alltagsmenschen Amy Winehouse losgelöst von all diesem Tamtam rund um ihre Person darzustellen, in der Erzählform einer Charakterstudie, die ankommt.

Back to Black setzt da an, wo alle Welt beginnt, die Stimme von Amy Winehouse zu bewundern. Manager werden hellhörig und handeln Deals mit dem Label Island Records aus, es dauert nicht lange, da schwappt der Erfolg nach dem ersten Albums Frank mit titelgebendem Meisterwerk auch nach Übersee in die Staaten über. Und wer mal, das wissen wir seit Falco, dort die Nummer Eins in den Charts erklommen hat, kann höher nicht mehr steigen. Die Talfahrt muss irgendwann folgen, denn Wundernummern, die auf der ganzen Welt gleichermaßen ins Ohr gehen, lassen sich auch nicht so einfach aus dem Ärmel schütteln. Was Amy Winehouse aber an diesem Punkt von allen anderen Künstlern unterscheidet, die am Leistungsdruck, den Erwartungen und all der Öffentlichkeit letztlich scheiterten, sind die gänzlich anderen Prioritäten, die Winehouse gesetzt hat. So platt und pseudoromantisch es auch klingen mag, hinter all dem Tun und den Treiben von Winehouse stand am Ende nur noch ein einziger Motor. Und dieser hieß: Lover Blake Fielder-Civil (Jack O’Connell). Diese nicht gerade hellste Kerze auf der Torte und ein Freund aller Substanzen, die man illegal inhalieren kann, sollte zur großen und einzig wahren Liebe des stimmmächtigen Soulstars werden. Und auch zu dessen größter Prüfung. Mit einem wie Blake lassen sich genussvoll toxische Beziehungen leben, und es ist ja nicht so, als wäre Winehouse ein einfacher Mensch gewesen. Newcomerin Marisa Abela scheint dafür bestens geeignet, dieser komplexen, stark nach Perfektion im Lebensglück fixierten jungen Frau mit all ihren Stärken und Schwächen gerecht zu werden. Und nicht nur das: Alle Musikstücke von Amy Winehouse hat Abela selbst eingesungen, und bewundernswerterweise kommt ihre Interpretation der Lieder der Originalstimme deutlich nah.

Sam Taylor-Johnson, die mit Nowhere Boy über die Anfänge der Kultband The Beatles bereits Musikgeschichte adaptiert hat, beißt sich zum Glück nicht daran fest, Winehouses Biographie klar zu strukturieren. Die Jahre ihres Erfolges und ihres privaten Unglücks fließen ineinander, niemals ist klar, wann was wo gerade stattfindet, es sind Szenen aus einem Leben, von welchem es Bilderalben voll von Paparazzi-Fotografien geben muss, so sehr rückte die Presse Winehouse auf die Pelle. Doch selbst das, und gerade das – Ruhm, Erfolg, Geld – blieb ihr zeit ihres kurzen Lebens egal. Stand by your Woman könnte man sagen, und dazu gehört auch, sich nicht mal in für andere womöglich peinlichen Situationen aus Suff und impulsivem Verhalten zu verstellen. So gesehen war diese Musikerin, wenn man Johnsons Portrait Glauben schenken will, ein Mensch der Extreme, der lieber Pech im Spiel und dafür Glück in der Liebe gehabt hätte.

Back to Black setzt Marisa Abela, mit Turmfrisur und Augenschminke, bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit ikonisch in Szene, es ist eine Hommage an eine Jahrhundertstimme, die Lieder für die Ewigkeit intonierte und noch so viel zustande hätte bringen können, wäre die Liebe ihres Lebens jemand anderer gewesen, jemand mit Beständigkeit. Vielleicht mag man dem Film vorhalten, sich zu sehr auf seine Hauptdarstellerin verlassen zu haben, und wenn nicht auf die Hauptdarstellerin, dann auf die Musik. Rechnet man diese Faktoren weg, bleibt eine handwerklich routinierte Regie übrig, und ein Film, über den man nicht reden wird, denn worüber man einzig und allein reden wird, ist Amy Winehouse – so, als hätte man einen Nachruf gelesen, dessen sprachliche Wucht vor dem emotional aufgeladenen biografischen Notizen wohl niemals verlangt werden wird.

Back to Black (2024)

Miller’s Girl (2024)

DES LEHRERS FEUCHTER TRAUM

3/10


MillersGirl© 2024 Constantin Filmverleih


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE / DREHBUCH: JADE HALLEY BARTLETT

CAST: JENNA ORTEGA, MARTIN FREEMAN, GIDEON ADLON, BASHIR SALAHUDDIN, DAGMARA DOMIŃCZYK, CHRISTINE ADAMS U. A.

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


In Ti Wests Retro-Slasher X fiel sie dem Publikum vielleicht nicht ganz so auf – spätestens als Wednesday war das eine Sorge weniger: Jenna Ortega brillierte als morbider Teenie-Freak in ungeahntem Ausmaß, ihre denkwürdige Tanzeinlage in einer der wohl erfolgreichsten Netflix-Serien ever zählt jetzt schon zu den popkulturellen Schätzen der 20er Jahre des neuen Jahrtausends. Tim Burton wusste, wie er nicht nur die gesamte monströse Sippschaft, sondern vor allem Ortega in Szene setzen muss – mit ernster, stoischer Miene und stets einem gespenstischen Lächeln auf den Lippen, wenn Mord, Tod und Verwesung gerade mal wieder Hochkonjunktur hatten. So eindringlich diese Performance in Addams verschroben-spannender Fantasy, so austauschbar wird sie im neulich in den Kinos angelaufenen Lehrer-Schüler Drama Miller’s Girl von Jade Halley Bartlett. Diesen Miller, den gibt der ewige Sympathieträger Martin Freeman, der als junger Bilbo Beutlin Wesentliches dazu beigetragen hat, um Mittelerde nicht in Schutt und Asche versinken zu lassen. Und als vom Krieg traumatisierter Dr. Watson war er die perfekte Ergänzung zum messerscharf kombinierenden Benedict Cumberbatch.

In Miller’s Girl darf er als mehr oder weniger erfolgloser Schriftsteller an einer Uni irgendwo in Tennessee Literatur unterrichten, ganz besonders bemerkt er dabei die stets in Miniröcken recht reizvoll aufgedonnerte 18jährige Studentin Cairo Sweet (was für ein obskurer Name), die es sich nicht nehmen lässt, den knuddeligen, leider etwas in seiner künstlerischen Entfaltung verhinderten Intellektuellen mit subversiver Koketterie zu verführen und daher nicht mit Reizen zu geizen, die spätestens dann, als Miller seiner Schülerin die Möglichkeit gibt, aufgrund ihres famosen Talents eine vorgezogene Zwischenprüfung zu absolvieren, nicht umsonst gewesen sein werden. Denn in der Wahl ihrer Arbeit wählt sie Henry Miller als stilistisches Vorbild, und wir alle wissen, was dieser Mann alles geschrieben hat, vor allem Dinge, die Minderjährige nicht lesen sollten. Spätestens da wird die Namensgleichheit der beiden Wortakrobaten überdeutlich, und Martin Freemans Figur des stets nahe an der süßen Versuchung (Sweetie – Nomen est Omen) befindlichen Miller Nr. 2 kann gerade noch so an sich halten, um nicht das Verbotene zu tun, nämlich eine Liaison mit einer Studentin einzugehen, die ihm vermutlich den Job kosten würde.

Natürlich ist die junge Dame ein Hingucker, natürlich sind die Close Ups ihres Konterfeis und all die figurenbetonenden Outfits so richtig nett – für einen Instagram Account. Für einen Film, der sich zaghaft gibt und meilenweit davon entfernt ist, mit dem Thriller-Genre zu kokettieren, fehlt es an der Wahl der richtigen Szenen, um den Charakteren eine relevante Biographie angedeihen zu lassen, da hilft nicht mal Jenna Ortegas Stimme aus dem Off, die über ihr Leben klagt, weil sie in elternloser, aber steinreicher Einsamkeit (ein Soll, nach dem Barry Keoghan in Saltburn strebt) jenseits ihres Studiums sonst nichts hat, was ihr Leben aufpeppt. Diesen Mangel an Biss, den Cairo Sweetie mit aus meiner Sicht dilettantischer Provokation wettmachen will, macht Miller’s Girl aber unentwegt zum Thema.

Vielleicht liegt es auch an der Fehlbesetzung von Martin Freeman, der sich nicht entscheiden kann, wer oder was er sein will: Bilbo, Dr. Watson, Agent Ross aus dem Marvel-Universum oder jemand ganz anderer? Es ist ein ständiges Zögern auf beiden Seiten, viel Gerede über Literatur, es ist wie das Warten auf die Unterrichtsstunde irgendwo am Schulhof, während man eine Zigarette raucht. Dabei blicken sich beide tief in die Augen – und nichts passiert. Sidekicks wie Bashir Salahuddin als Millers Lehrerkollege oder Dagmara Domińczyk als exaltierte bessere Hälfte Freemans stören dieses ohnehin scheiternde Chemie-Experiment auf nervtötende Weise, ihr Mehrwert für diesen Film lässt sich nicht deutlich erkennen, dabei nehmen diese ganz schön viel Raum ein, wie Hooligans bei einem Fußballmatch: Störend, auffällig, doch den Kern der Sache bringt es nicht weiter. Miller‘s Girl ist ein Beispiel dafür, wie Nebenrollen einen Film dabei hindern können, mehr aus sich zu machen.

Da diese Nebenrollen wie lästige Gäste am Ende noch immer nicht gehen wollen, verhallt die körperliche Liebe in Gedanken. Ohne Funke, ohne Feuer, nur kalter Rauch, das letzte Überbleibsel einer zaghaften Idee, die nicht den Mut hat, über eine Schamesröte beim Lesen von Henry Miller hinauszugehen. Da bleibt nur Jenna Ortega, wie sie in Zeitlupe die Spindzeile ihrer Schule entlangschreitet – was sie in Wednesday auch schon getan hat, nur diesmal selten in Schwarz und mit offenem Haar.

Miller’s Girl (2024)

Ein ganzes Leben (2023)

HEIMATLOS IN DER HEIMAT

7/10


einganzesleben© 2023 Tobis Film


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH 2023

REGIE: HANS STEINBICHLER

DREHBUCH: ULRICH LIMMER, NACH DEM ROMAN VON ROBERT SEETHALER

CAST: STEFAN GORSKI, AUGUST ZIRNER, JULIA FRANZ RICHTER, ROBERT STADLOBER, ANDREAS LUST, THOMAS SCHUBERT, MARIANNE SÄGEBRECHT, MARIA HOFSTÄTTER, GERHARD KASAL U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN 


In Rainhard Fendrichs inoffizieller österreichischer Bundeshymne lautet eine Zeile wie folgt: Da bin ich her, da gehör‘ ich hin. In Robert Seethalers fiktiver Heimatbiographie Ein ganzes Leben wird das unerschütterliche Statement zur unsicheren Fragestellung: Wo bin ich her, wo gehör‘ ich hin? Das sind Kernwahrheiten, nach denen wir alle suchen. Doch Seethalers Roman bringt es auf den Punkt, stellt diese Fragen dringender denn je – und macht mit seiner Figur des Andreas Egger die Probe aufs Exempel, wie es wohl sein muss, nicht zu wissen, woher man – im Bezug auf das Diesseits – eigentlich kommt und wohin man schließlich gehört. Zumindest Hans Steinbichler (u. a, Das Tagebuch der Anne Frank, Winterreise) hat den Schwebezustand eines bergverbundenen Mannes aus seiner allerletzten Verankerung gerissen und lässt ihn wie einen dieser montanen Greifvögel zwar nicht hoch, aber trotz allem in einiger Distanz zu seinem eigenen Leben und dem Sinn dahinter umhernomadisieren.

Das Woher-komme-ich lastet bereits im ersten Take des Films auf den Schultern eines gerade mal achtjährigen Jungen, der, und das wird nicht näher erläutert, so ziemlich elternlos daherkommt. Irgendwo muss dieser „Oliver Twist“ auch hin, am besten zum entfernt verwandten Bauern Kranzstocker (garstig: Andreas Lust), der, wie der Name schon sagt, gerne zum Stock greift, den Knaben verprügelt und diesen prinzipiell nicht leiden kann. Ein böser Mensch unter dem Herrn, und derart böse Menschen gibt es viele auf dieser Welt. Der junge Andreas Egger nimmt das stoisch hin, schluckt seinen physischen wie psychischen Schmerz einfach runter. Wenig wird er sprechen, zumindest in den jungen Jahren nicht. Doch kaum ist dieser älter und wehrhafter, kehrt er dem Hof und dem Prügelbauern den Rücken, sucht sein eigenes Glück und seine Bestimmung. Sucht im Grunde seine Heimat. Und findet seine Liebe, die, soeben erst gewonnen, wieder verlorengehen wird. Mit ihr auch die Idee eines Zuhause; einer Geborgenheit, die Andreas nicht mehr erlangen wird. Um sich selbst zu spüren, wird er schuften und arbeiten, arbeiten und schuften. Dazwischen schlafen, etwas essen, und sonst nicht viel reden.

Dieses Leben zwischen und auf den Bergen ist ein schnödes, undankbares. Eines, das gerade mal malerische Landschaften und blühende Blumenwiesen bietet. Rauschende Wälder und gar nicht mal einen Jodler. Ein ganzes Leben scheint einer dieser durch und durch klassischen, wildromantischen Heimatfilme zu sein, wie es sie früher gegeben hat. Statt Stefan Gorski oder August Zirner wäre die Rolle des Egger eine solche, die Luis Trenker wohl gespielt und einer wie Georg Wilhelm Pabst inszeniert hätte. Vermutlich in expressionistischem Schwarzweiß, stets im Fokus das wettergegerbte Gesicht des den Entbehrungen ausgesetzten Landmenschen, der hört, wie der Berg ruft, wie das Grollen von Lawinen vibriert und wie kalt der Tod sein kann.

Und doch ist bei Steinbichlers Film so manches anders. Muten die Metaebenen dieser in simpler Chronologie gehaltenen Jahrhundertbeichte fast wie paradoxe Gleichnisse an. Das Gefühl von Heimatlosigkeit in der Heimat, die Freiheit, über die Gipfel zu blicken, und doch nie gelernt zu haben, weiterzureisen bis ins nächste Tal. Arbeit, um zu leben, wird zum Leben, um zu arbeiten. Alles in Ein ganzes Leben hat eine Dualität, die in derselben Begrifflichkeit wurzelt. Auch wenn kaum feststellbar ist, welchen Gedanken dieser Egger nachhängt, – der übrigens sowohl von Stefan Gorski und August Zirner ohne Charakterbruch wie aus einem Guss gespielt wird, als wären beide ein einziger Akteur – lenkt Steinbichler seinen Panoramablick auf sein Innerstes. Damit ist diese in ihrer Sprache recht karge, doch emotional aufwühlende Literaturverfilmung weniger spektakuläres Epos als vielmehr eine introvertierte Suche nach nichts Bestimmtem, doch gleichzeitig nach Allem.

Ein ganzes Leben (2023)

Die drei Musketiere – D’Artagnan (2023)

VIELE MÄNTEL, VIELE DEGEN

6,5/10


musketiere_dartagnan© 2023 – CHAPTER2 – PATHE FILMS – M6 FILMS – Constantin Film Verleih GmbH/Ben King


LAND / JAHR: FRANKREICH, DEUTSCHLAND, SPANIEN 2023

REGIE: MARTIN BOURBOULON

BUCH: ALEXANDRE DE LA PATELLIÈRE & MATTHIEU DELAPORTE, NACH DEM ROMAN VON ALEXANDRE DUMAS

CAST: FRANÇOIS CIVIL, VINCENT CASSEL, PIO MARMAÏ, ROMAIN DURIS, EVA GREEN, LOUIS GARREL, VICKY KRIEPS, LYNA KHOUDRI, ÉRIC RUF U. A.

LÄNGE: 2 STD 1 MIN


Das Genre des Mantel- und Degenfilms hat endlich wieder zu seinen begriffgebenden zwei Substantiven zurückgefunden. Tatsächlich wehen in der was weiß ich wievielten Neuverfilmung von Alexandre Dumas‘ Klassiker, auf die eigentlich niemand gewartet hat, mehr wettergegerbte Lederklüfte als in Sergio Leones Spaghettiwestern. Darüber hinaus verleiht der Dreispitz dem, der ihn trägt, und sei er auch noch so ein übler Bandit, eine gewisse Grazie. Die geschliffenen Handwaffen mit vibrierender Spitze – nun, die bohren kleine tödliche Löcher ins Gegenüber, hinterlassen aber weniger Sauerei als würde man mit der Axt ausholen. Mantel und Degen haben Stil. Und das reicht auch, meint zumindest Martin Bourboulon (u. a. Eiffel in Love), der sich des legendären und mittlerweile wirklich schon auserzählt scheinenden Stoffes angenommen hat. Diesmal will er das große Polit- und Agentenabenteuer aus der Epoche des dreißigjährigen Krieges als zweiteiligen Eventfilm komponieren – mit genug Zeit dafür, seine Charaktere zu entwickeln und den fein gewobenen Intrigen von Kardinal Richelieu und Milady de Winter jene nötige Aufmerksamkeit schenken, die ein eigentlich komplexer Actionkrimi wie dieser verdient hat.

Über den Plot brauchen, wie ich denke, gar nicht so viele Worte verloren werden. Jede und jeder kennt die Geschichte des jungen Mannes aus der Cascogne, der um jeden Preis Musketier werden will und sich daher, mit einem Empfehlungsschreiben seines alten Herrn, in Paris einfindet, um sich anzuwerben. Während seines Bemühens, sich Gehör zu verschaffen, eckt er mit Athos, Porthos und Aramis an – den hartgesottensten Recken der königlichen Garde, die aber trotz ihres Heldenmuts als richtige Mimosen rüberkommen, wenn’s um ihre Ehre geht. Also fordern sie D’Artagnan zum Duell – wobei dieser sicher den kürzeren gezogen hätte, wären da nicht Richelieus Männer dazwischengeraten, die den Jüngling als Zeugen eines politischen Attentats beseitigen wollen. Der gemeinsame Feind schweißt die drei mit dem einen zusammen – und das ist erst der Anfang für eine weitere Intrige, für welche der altehrwürdige Athos seinen Kopf hinhalten muss, würde es den anderen nicht gelingen, seine Unschuld zu beweisen. Natürlich mischt Milady de Winter auch kräftig mit, als Superagentin des Klerus. Was wir haben, ist also das gut ausgearbeitete Stück eines straff gezogenen Historienthrillers, der als Setting für eine neue Epochen-Edition des beliebten Game-Franchise Assassins Creed fabelhaft gut geeignet wäre.

Von der poppig-bunten Süßlichkeit von Paul W. S. Andersons Abenteuervehikel aus dem Jahr 2011 mit Logan Lerman und Regisseuren-Gattin Milla Jovovich als Milady ist in dieser erwachsen gewordenen Interpretation nichts mehr zu sehen. Statt Opulenz und Budenzauber herrscht hier eine in satten Brauntönen gehaltene Düsternis, die einfach vorherrscht, wenn ein Konfessionskrieg tobt, der Katholiken und Protestanten auch in Frankreich gegeneinander aufbringen wird. Ein herbstkalter September legt sich über die Szenerie, es wird unter bewölktem Himmel viel über Felder galoppiert und an Türen gelauscht. Das Leben im frühen 17. Jahrhundert ist grau und entbehrungreich. Die Romantisierung der Geschichte besteht darin, selbst in dieser unbunten, erdigen Inszenierung eine nostalgische Melodie zu entdecken, die sich eingeprägt hätte, würde nicht irgendwann alles recht gleichförmig wirken. Das Kolorit ist nicht die Stärke des Films, obwohl es anfangs den Anschein hat. Das Beste bleibt der Cast. Vincent Cassel und Romain Duris scheinen nur darauf gewartet zu haben, endlich diese Rollen zu spielen. Sie verleihen ihnen Authentizität und gütige Strenge. Louis Garrel als Louis VIII. ist aber noch besser: Seine Darstellung des französischen Monarchen ist jede Sekunde glaubwürdig. Die Balance zwischen Machtbewusstsein, Gnade und Hofetikette hält. Vicky Krieps erreicht die Stärke ihrer Sisi-Rolle aus Corsage allerdings nicht.

Natürlich endet der erste Teil mit einem Cliffhanger. Das gibt dem Film den Charme einer Streaming-Produktion, bei der man sowieso längst keine Kosten mehr scheut, die mit ihrem offenen Ende aber unfertig wirkt. Somit lässt sich nicht genau sagen, wie das Werk in seiner Gesamtheit letztendlich abschneidet. Bis dahin ist aber schon so manch Solides auf der Habenseite und die Degen stumpf vom Stechen. Ob Die drei Musketiere – Milady aus einer kurzweiligen Qualitätsroutine das große Event heraufbeschwören kann, wird sich zeigen.

Die drei Musketiere – D’Artagnan (2023)

Dungeons & Dragons: Ehre unter Dieben (2023)

WELCHE ROLLE DARF’S DENN SEIN?

6,5/10


dungeonsanddragons© 2023 Constantin Film


LAND / JAHR: USA 2023

BUCH / REGIE: JONATHAN GOLDSTEIN, JOHN FRANCIS DALEY

CAST: CHRIS PINE, MICHELLE RODRIGUEZ, JUSTICE SMITH, SOPHIA LILLIS, REGÉ-JEAN PAGE, HUGH GRANT, DAISY HEAD, CHLOE COLEMAN, BRADLEY COOPER U. A.

LÄNGE: 2 STD 14 MIN


Welche Rolle wäre wohl am besten? Die axtschwingende Barbarin mit dem körperbetonten Outfit und einer Vorliebe für Kartoffeln und kleine Männer? Der chaotische junge Zauberer, der daherkommt wie ein Lehrling und sich selbst nichts zutraut außer den Duft von frisch gemähtem Gras zu verbreiten? Vielleicht aber die Gestaltwandlerin, die, wenn’s hart auf hart kommt, plötzlich zum Eulenbär mutiert, der ordentlich zulangen kann? Bleibt noch das Mastermind der Truppe, der diebische Barde, der eigentlich nichts Spezielles kann, außer eben Pläne schmieden. Und wenn die scheitern: weitere Pläne schmieden. Alle werden sich aber womöglich um den sehr eloquenten Alleskönner reißen, einem Paladin in glänzender Rüstung. Würde man mich fragen: Die besten Skills hätte Doric, die sich in alles verwandeln kann, was so kreucht und fleucht. Obwohl der Magier: ein unfreiwillig komischer, sympathischer Geselle. Dann nehm‘ ich lieber den.

Bei Dungeons & Dragons: Ehre unter Dieben ist es aber nicht so, dass hier Leute aus unserer realen Welt á la Jumanji plötzlich in einer irrationalen Welt landen und mit ihrem Charakter, der ihnen zugewiesen wurde, spielen müssen. Prinzipiell aber sind da wie dort Synergien gefragt – und Teamwork ist alles. Denn der eine kann nicht, was der andere kann, und umgekehrt. Gemeinsam sind sie stark. Gemeinsam arbeiten sich also seit den Siebzigerjahren spielfreudige Phantasten durch eine imaginäre Abenteuerwelt, in der alles passieren kann – vorausgesetzt, es bleibt plausibel und in kausalem Zusammenhang. Dungeons & Dragons – das Kultspiel für Fantasy-Nerds und kreative Köpfe. Die deutsche Antwort darauf: Das schwarze Auge. Die Convenience-Version als Brettspiel: Hero Quest. Natürlich kann so viel Potenzial nicht ungenutzt bleiben. Fans gibt’s schließlich genug. Doch man braucht auch ein bisschen mehr Respekt vor seinen Sehern, sonst passiert ähnliches wie Anfang der Neunziger – eine Verfilmung mit Charaktermime Jeremy Irons (warum nur?) in einem Totalflop und mit miesen Effekten. Die Zeit ist also reif für ein Reboot. Und niemand weiß, wie es funktionieren wird.

Ich selbst habe mich nur in Hero Quest versucht und kenne D&D vom Hörensagen. Die Einsteiger-Box liegt daheim, zum Verinnerlichen der Regeln braucht es aber ungefähr genauso viel Widerstand gegen den inneren Schweinehund wie beim Sporteln. Am liebsten will man sich hinsetzen und loslegen. Geht aber nicht. Im Kino allerdings schon. Da nimmt man Platz und öffnet Aug und Ohr und genießt diesmal eine Welt, in der alles seinen Platz hat, was man sich nur so vorstellt, dass es Platz haben soll: Magier, Drachen, Bestien, Fabeltiere und Untote. Ritter, Elfen und geheimnisvolle Orte. Artefakte, unterirdische Welten und zwielichtige Gesellen, die einen verraten. In so einer Welt geistern also eingangs erwähnte Heldinnen und Helden herum, die sich selbst nicht als solche sehen und deshalb sehr sympathisch sind. Chris Pine gibt Edgin, den diebischen Barden, der von seinem Komplizen Forch seinerzeit übervorteilt wurde und der ihm seine Tochter entwendet hat, die Edgin wieder zurückwill. Im Zuge dessen schadet es auch nicht, dessen Schatzkammer zu plündern und ein bestimmtes Artefakt, nämlich die Tafel der Wiedererweckung, zu finden, um die von bösen Magiern ums Leben gerbachte Ehefrau und Mutter wieder zurückzuholen. Der Weg dorthin ist eine klassische Queste, eine Schnitzeljagd von A nach B nach C, dabei erlebt die Gruppe Gefährliches wie Witziges. Vieles geht schief, doch Niederlagen pflastern nur den Weg zum Erfolg. Anders wär’s ja auch kein Abenteuer.

Warcraft – The Beginning war als Kick-Off für ein Kino-Franchise mehr als gelungen. Wurde aber eingestampft. Willow, die neue Serie und ähnlich gestrickt wie vorliegender Film, hat womöglich auch keine Zukunft. Dungeons & Dragons unter der Regie von Jonathan Goldstein und John Francis Daley, steht zwar nicht ganz so sicher auf eigenen Beinen, hat aber Potenzial für etwas, das noch besser werden kann. Das Ensemble ist – wie kann es anders sein angesichts dieses Kontextes – gut aufgelegt, Mimen wie Hugh Grant haben ihren Spaß, der nie vergeht. Und alles wirkt wie ein Bauchladen an willkommenen, aber austauschbaren Motiven, die in eine High Fantasy-Spielwelt mit entsprechender Lore einfach hingehören. Das ist lustig und bunt, kurzweilig und manchmal auch richtig raffiniert. Es hat Selbstironie, ein bisschen Finsternis und manchmal auch das Zeug zum Schenkelklopfer. Aus einem Guss wirkt der Schauplatzwechsel mit stetig neuem Stuff zwar nicht, aber er macht Gusto darauf, einmal selbst zu Papier und Bleistift zu greifen, um doch mal in einer Welt zu wandeln, deren Look einem nicht so wohlportioniert vorgesetzt wird. Die wahren Abenteuer sind schließlich im Kopf.

Dungeons & Dragons: Ehre unter Dieben (2023)

Moonfall

DER MOND IST AUFGEGANGEN…

4/10


moonfall© 2022 Constantin Filmverleih


LAND / JAHR: USA, KANADA, CHINA 2022

REGIE: ROLAND EMMERICH

CAST: PATRICK WILSON, HALLE BERRY, JOHN BRADLEY-WEST, MICHAEL PEÑA, CHARLIE PLUMMER, DONALD SUTHERLAND, KELLY YU U. A.

LÄNGE: 2 STD 10 MIN


Als Mond fühlt man sich manchmal etwas benachteiligt. Immer dreht sich alles um die Erde. Wird Zeit, dass sich das ändert. Vielleicht mit einem kleinen Orbitalschwenk, der dazu führt, dass sich der Trabant auf zwirbelnder Route der Erde nähert. Das, so hat sich Roland Emmerich sicher gedacht, gibt sicherlich einen hervorragenden Katastrophenfilm ab. Wir hatten ja bereits den ausbrechenden Yellowstone-Supervulkan, den Stillstand der atlantischen Meeresströmung und die Invasion technisch haushoch überlegener Aliens. Was jetzt noch fehlt, wäre Luna als der Menschheit letzter Nemesis. Machen wir doch daraus einfach einen Film! So entzückt muss der deutsche Desaster-Export da gewesen sein ob dieser weltbewegenden Idee. Ende letzten Jahres konnten wir Kinogeher da schon meisterlich geteasert werden. Boah, hab‘ ich mir gedacht – was hat Emmerich denn jetzt am Köcheln! Das wird ja immer schöner. Und verdammt – das könnte wirklich alles Bisherige in den Schatten stellen.

Manchmal aber reicht es nicht, wenn nur die Idee vielversprechend ist, der Weg zum Ziel aber alle nur erdenklichen Kompromisse eingeht und bereit ist, die physikalische Realität so weit zu verbiegen, dass letzten Endes die Geschichte ihr glückliches Ende bekommt. Schließlich ist es Hollywood gemeinsam mit Emmerich, der die Katastrophenintegrität der Spezies Mensch niemals angezweifelt hat und reinen Herzens an jeden einzelnen seiner Spezies glauben will. Frei nach dem Motto: Gemeinsam überwinden wir alle Hürden – sind sie auch noch so punktgenau aufgelegt, als wären wir in einem Konsolenspiel.

In Moonfall hält sich die Story nicht allzu viel mit Nebensächlichkeiten auf. Emmerichs Stars sind niemals die gehypten Zugpferde Hollywoods, vielmehr sind es gerne gesehene Randfiguren wie John Cusack oder Dennis Quaid – diesmal Patrick Wilson und Halle Berry. Beide agieren als Astronauten, die 2011 die Begegnung mit einer extraterrestrischen Wolke machen, die beide fast ins Gras hat beißen lässt. Zehn Jahre später gesellt sich noch Game of Thrones-Star John Bradley-West hinzu, der als Verschwörungstheoretiker ganz fest daran glaubt, dass der Mond eine von intelligenten Wesen geschaffene Megastruktur darstellt – der Weg zu den Echsenmenschen ist nicht mehr weit. Bradley als K.C. bemerkt auch eine seltsame Schwankung im Orbitalflug des Mondes – da tanzt was ganz akut aus der Reihe. Niemand glaubt ihm, eh klar. Bis er die Sache via Social Media an die große Glocke hängt. Wilson und Berry werden als Augenzeugen von damals zur NASA zurückbeordert, alle drei gemeinsam zwängen sich bald ins Cockpit der ausrangierten Endeavour, um dem Mann im Mond einen Besuch abzustatten, während dieser bereits beginnt, die Erde zu verwüsten – mit Tsunamis, Feuerregen und wechselseitiger Gravitation.

Spaß beiseite: Was passiert denn nun wirklich, wenn der Mond drauf und dran ist, mit der Erde zu kollidieren? Wir könnten den Astrophysiker Werner Gruber fragen, oder überhaupt gleich die Science Busters. Egal wie die Antwort ausfällt, jedenfalls wird nicht das passieren, was bei Emmerich passiert. Es wird passieren, was unweigerlich zum Ende allen Lebens auf unserem Planeten führen wird. Das sieht man sogar in den animierten Entwicklungsmodellen im Film. Interessant, dass diese dort gezeigten Prognosen dann trotzdem nicht der Tatsache entsprechen. Interessant, wie sehr sich die Physik des Universums den Befindlichkeiten einer Handvoll Leuten unterwirft, die ja eigentlich nicht wirklich in Gefahr sein können, weil sie redliche Ziele verfolgen oder die Chance ergreifen, sich bessern zu wollen. Die Physik alles Molekularen weicht der Physik einer hellhörigen, irgendwo zwischen den Sternen versteckten Entität, die jeden noch so kleinen Huster eines Gutmenschen für ihre Schicksalsplanung berücksichtigt. So viel Gnade hätten viele Menschen gern. Doch wie auch immer, es sind wieder nur ein paar wenige, die die Welt retten, und natürlich alles Amerikaner, denn wir haben ein US-lastiges Weltkino für Unterhaltung, so gesehen bereits bei Don’t Look Up.

Emmerich will in Moonfall leider zu viel des Guten. Hier quält sich ein naives Script durch einige Schauwerte, frei von Selbstironie und voller Trivialitäten. Bis zum Schluss rechnet man gar mit der Nazi-Raumstation auf der dunklen Seite des Mondes. Iron Sky, das Trash-Vehikel mit Hitler auf dem T-Rex, hat dramaturgisch gesehen fast bessere Karten als diese Trabantenpolka, welche ihre menschelnde Laudatio auf Einzelhelden nicht mit ihrem malerischen Kawumm vereinbaren kann.

Moonfall

The Ice Road

THE FROST AND THE FURIOUS

6/10


theiceroad© 2021 Constantin Film


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: JONATHAN HENSLEIGH

CAST: LIAM NEESON, LAURENCE FISHBURNE, MARCUS THOMAS, BENJAMIN WALKER, AMBER MIDTHUNDER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Wenn´s so richtig kalt ist, wird man wieder munter. Das lässt sich ganz gut am Schauspiel Liam Neesons erkennen, der nach zwei eher müden Produktionen wieder fest am Sattelschlepper sitzt. Honest Thief ist ja generell gut gemeint, aber etwas zäh. The Marksman setzt dem schaumgebremsten Spiel und auch der drögen Inszenierung noch eins drauf und lässt den Altstar auffallend oft einer gewissen Schläfrigkeit unterliegen. Neeson ist zwar noch längst keine 90 wie Clint Eastwood, tut aber manchmal so, als wäre er es. In The Ice Road ist er putzmunter, gibt Gas und zeigt eine Geistesgegenwärtigkeit, die wiederum Clint Eastwood gerne hätte. Es bleibt ihm prinzipiell auch nichts anderes übrig, denn in Jonathan Hensleighs hemdsärmeligem Survival-Abenteuer geht’s über blankes Eis, noch dazu mit drei tonnenschweren Trucks. Wo Vin Diesel und Co mit ihren fahrbaren Untersätzen Pirouetten drehen, bleibt Liam Neeson zumindest auf der Spur. Und hofft, dass es nicht taut.

Immerhin haben wir in The Ice Road schon April, und normalerweise sind diese legendären Straßen im hohen Norden Kanadas, die übers Meer führen, für die Überfahrt bereits gesperrt. Im Normalfall, wohlgemerkt. Hier geht es allerdings um mehr, denn die Kumpel einer Diamantenmine werden verschüttet, und so braucht es spezielle Bohrköpfe, um an die 26 Überlebenden ranzukommen, bevor diesen die Luft ausgeht. Die sind so schwer, das schafft kein Hubschrauber. Kleines Detail am Rande: natürlich hat der böse Bergbaukonzern seine Finger mit im Spiel, opfert sein Moralbewusstsein kapitalistischer Gier und will natürlich vertuschen, dass trotz Methanvorkommen weitergeschürft wurde. Wie macht er das? Mit Sabotage. Davon wissen Liam Neeson und sein kriegsinvalider Bruder allerdings nichts, als sie von Laurence Fishburne angeheuert werden, um den riskanten Job zu erledigen. Es ist ein Schlittern auf Zeit, und man muss ganz genau wissen, wie schnell oder langsam man fährt, um das Eis unter den Rädern gütlich zu stimmen.

The Ice Road überrascht mit Spannung. Da möchte man meinen: keine Kunst, denn ob das Eis bricht oder nicht, ist alleine schon ein Fifty-Fifty-Ringen um so kleinliche Umstände wie Leben oder Sterben. Würde man diesen Spannungsbonus auch noch vergeigen, hätte man auf dem Regiestuhl wirklich nichts verloren. Doch Jonathan Hensleigh, der bislang auf eine eher überschaubare Filmographie zurückblicken kann und unter anderem The Punisher mit Thomas Jane inszeniert hat, weiß, was er auf der Habenseite hat. Dazu kommt ein Sympathieträger wie eben Liam Neeson, der wie schon gesagt ausgeschlafen genug ist, um in nimmermüder Agilität hünenhafte Kerle aus dem Wasser zu ziehen oder gebrochene Nasen zu verpassen. Zwischendurch quälen ihn und uns erstaunlich platte Dialoge, mit denen Hensleigh egal welches Publikum auf provozierende Weise unterschätzt. Wenn Neesons Figur plötzlich einleuchtet, wer oder was all diese Hürden zu verantworten hat, dann ist das ein Meilenstein platter Dialogregie. Neeson tut was er kann, um diese Peinlichkeit zu überbrücken. Das sollte nicht die letzte gewesen sein, da kommen noch einige. Doch abgesehen davon passieren immer wieder Szenen, die durchaus packen.

Die Rechtschaffenen sollen es schaffen. Ein schlichter Imperativ, der in einem recht schlichten Abenteuer zwischen Frost und Frust immerhin (fast) ausschließlich mit Echtschnee auskommt. Dafür gibt’s abseits des Thermometers ein Plus.

The Ice Road

Hinterland

VERSTÖRTE WELT

7/10


hinterland© 2021 Constantin Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, LUXEMBURG, BELGIEN, DEUTSCHLAND 2021

REGIE: STEFAN RUZOWITZKY

CAST: MURATHAN MUSLU, LIV LISA FRIES, MAX VON DER GROEBEN, MARC LIMPACH, AARON FRIESZ, STIPE ERCEG, MARGARETHE TIESEL, MATTHIAS SCHWEIGHÖFER U. A.

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Der Expressionismus lebt! Oder hat sich zumindest aus den kunstgeschichtlichen Archiven erhoben, in denen er gefühlt seit Ende der Vierzigerjahre vor sich hindämmern durfte. Verabschiedet hat sich der markante Stil damals mit einem zeitlosen Klassiker: Der dritte Mann. Carol Reed warf, untermalt mit den Klängen von Anton Karas, sein Publikum in eine verfremdete Dimension aus Licht und Schatten. Im Fokus stand da eine Welt, die vormals Wien gewesen sein soll. Kaum zu erkennen, dieses Chaos aus Ruinen, denunzierenden Passanten und dem formschönen Riesenrad, dass sich auch nach der Apokalypse immer noch weiterdreht. Eine verstörte Welt also. Dabei haben die Wiener das schon zum zweiten Mal erlebt. Beim ersten Mal wurde Österreichs Bundeshauptstadt zwar nicht zerbombt, dafür aber fanden in den Jahren nach Kriegsende immer wieder Scharen totgeglaubter Seelen ihren Irrweg nachhause. Nur um festzustellen, dass diese Heimat, die nur noch auf Fotografien die Geborgenheit einer Biographie widerspiegelt, entstellt vor sich hin darbt, und nichts mehr Vertrautes zum Geschenk machen kann.

Einer dieser Heimkehrer ist Peter Perg, und er findet sich, gemeinsam mit seinen Kameraden, nach zweijähriger Kriegsgefangenschaft vor einer undurchdringlichen Kulisse aus zerrissenen Postkarten wieder, die notdürftig gekittet wurden, um die Identität einer Stadt zu bewahren. Nichts ist mehr wie früher, alles ist neu – und mutig geht in diese Zeiten wohl keiner voraus. Perg schon gar nicht, aber er weiß zumindest noch, wo er gewohnt hat. Dort allerdings ist niemand mehr – Frau und Kind sind aufs Land gezogen. Während der gezeichnete und traumatisierte Rückkehrer versucht, irgendwo Halt zu finden, erschüttert eine Mordserie die Metropole an der Donau. Und zwar eine, deren Opfer nicht einfach so gemeuchelt, sondern in schrecklichen Tableaus zur Schau gestellt werden. Der Killer will irgendetwas mitteilen – nur was? Perg, ehemals polizeilicher Ermittler und Gerichtsmedizinerin Körner (Liv Lisa Fries) versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen. Nebenher allerdings fordert der Krieg in seinen Nachwehen von allen möglichen Leuten ihren Tribut.

Das schöne Wien, das liegt im Hinterland, jenseits der Front. Jahrzehnte später wird es den Zweiten Weltkrieg geben, und die Saat dafür wird längst ausgestreut. Ähnlich wie Tom Tykwer in seiner kongenialen Krimiserie Babylon Berlin harrt Europa in unruhiger Ausgelassenheit einem neuen Sturm entgegen. Stefan Ruzowitzky beeindruckt in erster Linie damit, mit nicht nur technischer Raffinesse, sondern auch mit einem Gespür für den Einsatz seiner Komparserie ein urbanes Chaos zu erzeugen, welches das freie Spiel der Kräfte in einem sozialpolitischen Vakuum ebenso kongenial widerspiegelt wie Tykwer das geschafft hat. Sein Wien birgt nicht das Toben einiger weniger Statisten, sondern das einer dichten, breiten Masse unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Ambitionen. Mittendrin in diesem Gewusel ein Mann wie Murathan Muslu, der trotz fehlender Schauspielausbildung ein Talent an den Tag legt, mit dem manch andere, die das Fach studiert haben, nur schwer mitkommen. Dazu kommt Muslus sonorer, exakt ausformulierter Spruch, eine gehobene, dialektlose Theatersprache, der fast schon ein bisschen das Ausfällige fehlt. Trotz dieser Widersprüche bleibt die Figur von Perg stark und dominant, ein an sich selbst zweifelnder Suchender, der, emotional ausgebrannt, versucht, die schrägen Winkel einer kaputten Architektur wieder geradezurücken.

Manchmal allerdings verlässt den Machern der Ehrgeiz, dieser subjektiven Wien-Wahrnehmung Pergs konsequent zu entsprechen. Eher halbgare Versuche, Häuserzeilen und Sehenswürdigkeiten ineinanderzustecken und übereinanderzustapeln, zeigen Schwächen im Gestaltungsprozess. Einige Close-Ups sind offensichtlich als Hommage an Der dritte Mann gedacht, das Verzerrte huldigt den Kulissen aus Robert Wienes Dr. Caligari. Auch hier hätte Ruzowitzky mehr mit Kontrasten arbeiten können, viel mehr mit Licht und Schatten, wie er es manchmal, aber viel zu selten tut. Ob das Ganze in Schwarzweiß besser gewesen wäre? Wäre interessant, zu sehen. Vielleicht lässt sich unser Oscarpreisträger später nochmal dazu hinreißen, eine unbunte Version von Hinterland zu veröffentlichen, so wie James Mangold das mit Logan getan hat. Vielleicht würde mich das noch mehr begeistern.

Hinterlands Stärke liegt im Einfangen einer so individuellen wie nationalen Katharsis. Und weniger im Zelebrieren eines Serienkiller-Plots wie diesen, der mit seiner Aufgabe als begleitende Metaebene zufrieden scheint. Doch auch wenn dieser Film mehr Psychogramm als klassischer Wien-Krimi ist, überzeugt allein schon die innovative, audiovisuelle Komposition, die eine ganz eigene Stimmung schafft.

Hinterland

Tides

EIN LUFTBEFEUCHTER NAMENS ERDE

7/10


tides© 2020 Constantin Filmverleih GmbH


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, SCHWEIZ 2020

BUCH / REGIE: TIM FEHLBAUM

CAST: NORA ARNEZEDER, IAIN GLEN, BELLA BADING, SARAH-SOFIE BOUSSNINA, JOEL BASMAN, SOPE DIRISU U. A. 

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Nach der großen Dürre folgt die ewige Feuchtigkeit –- zumindest handhabt der vielversprechende Schweizer Filmemacher Tim Fehlbaum den Fortgang der Menschheit für die ferne Zukunft auf diese Weise. 2011 verblüffte er bereits mit Hell, einer nicht gerade staubfreien Vision einer ausgetrockneten Erde, wo jeder auf der Suche nach einem Tröpfchen Wasser gerne auch mal über Leichen geht. Eine verstörende, düstere Sache, dieser Film, trotz ganz viel Sonne. Weniger düster, aber immer noch düster genug, gibt sich das Gegenstück zu diesem Entwurf: Tides, und zwar spielen da selbige tatsächlich eine wesentliche Rolle, denn alles, was von unserem Planeten noch trockenen Fußes überquerbar scheint, das sind die Gezeitenzonen.

Greta Thunbergs Erben haben also der Wahrheit ins Gesicht sehen müssen, als sie diesen unseren geliebten Planeten aufgeben mussten, um irgendwo anders zu siedeln, nämlich ein ganzes Stück weit entfernt auf einem Staubkorn namens Kepler 209. Im Grunde sowas wie der Mars, nur vielleicht wärmer. (Warum dann nicht gleich auf dem Mars siedeln, wenn man sowieso nicht raus kann?) Als eine Expedition nach Hause geschickt wird, um den Zustand von Terra abzuklären, stürzt die Raumkapsel ab – Astronautin Louise überlebt (Ein guter, bekannter, aber immer wieder reizvoller Ausgangspunkt für dystopische Science-Fiction). Klarerweise bleibt Louise nicht allein, denn sie wird von den Muds – einem Menschenstamm, scheinbar aus dem Waterworld-Universum – eingefangen. Die wiederum werden zwar nicht von den Smokern, jedoch von anderen Wattpiraten überfallen, die deren Kinder klauen. Louise schafft es aus ihrem Gezeitengefängnis und nimmt die Verfolgung auf. Dabei trifft sie auf die eine oder andere, alles verändernde Überraschung.

Tides ist ein Augenschmaus. Womit man Denis Villeneuve bereits bildsprachlich assoziiert, das können andere genauso gut, und ganz ohne Abkupfern. Gedreht an Orten wie der deutschen Nordseeküste mit ihrem ewig scheinendem Wattenmeer, findet Tim Fehlbaum mehr als genug postapokalyptische Settings, ohne auch nur an CGI zu denken. Das Wetter ist als proaktiver Stimmungsdesigner ebenfalls mit an Bord, und das ganz ohne Honorar. Wie bei Villeneuve schälen sich auch hier Silhouetten aus Dunst und Nebel, scheinen alte Schiffswracks, die ihr blankes Grundgerüst in den verhangenen Himmel recken, wie abgestürzte Raumschiffe vergangener Äonen. Dieses Szenario, eingefangen mit einer innovativen Kameraführung, die sich nicht scheut davor, nahe an seine Protagonisten und an all diese mit Regenmänteln und grobem Stoff gekleideten Gestalten heranzugehen, birgt das Zeug für episches Visionskino. Nicht zuletzt findet Fehlbaum mit Nora Arnezeder eine Frauenfigur, die gut und gerne Heldinnen wie Sigourney Weaver oder Katherine Waterston aus dem Alien-Kosmos das Wasser reichen kann. Ein tougher Charakter in einer Welt des Überlebens.

Gegen so viel Setting-Performance und Charakter-Brillanz kommt die Story selbst allerdings nicht an. Diese gibt sich zwar nicht moralinsauer und tadelnd, dafür aber nimmt sie das Ende und den Neuanfang der Menschheit hin wie ein vorbeiziehendes Unwetter. So, wie Mutter Erde das machen würde.

Tides