Klondike (2022)

MIT DEM KRIEG AUF DER COUCH

8/10


klondike© 2023 ZDF / Foto: Sviatoslav Bulakovskyi


LAND / JAHR: UKRAINE, TÜRKEI 2022

BUCH / REGIE / PRODUKTION / SCHNITT: MARYNA ER GORBACH

CAST: OXANA CHERKASHYNA, EVGENIY EFREMOV, ARTUR ARAMYAN, OLEG SHCHERBINA, SERGEY SHADRIN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Manche Filme stellen Dinge mit einem an, die lassen sich nicht voraussehen. Damit meine ich nicht, dass sie nachhaltig verstören und man als Zuseher Zeit braucht, um das Gesehene zu verarbeiten. Manchmal braucht es nicht den Schockeffekt als alleiniges Mittel, um das Publikum mitzureißen. Manchmal sind es höchst ungewöhnlich gesetzte Prioritäten oder eine der dramatischen Intensität des Gezeigten entgegenlaufende Dynamik, die erstmal irritiert, dann vielleicht sogar langweilt – in letzter Instanz aber genau dadurch zu einer Conclusio findet, die sowohl auf der Metabene des Films als auch in der ganzen augenscheinlichen Handlung funktioniert. Klondike von Maryna Er Gorbach ist so ein Werk. Ein nüchterner Lokalaugenschein, eine semidokumentarische Chronik unheilvoller Ereignisse und ein zutiefst humanistisches Manifest gegen den Irrsinn eines politischen Konflikts, dem nichts heilig ist, außer dass er die menschenverachtenden Mittel heiligt, die dem Zweck dienen sollen. 

Zu solch ähnlichen Erkenntnissen kommen Antikriegsfilme des öfteren. Alles sinnlos: Der Krieg, die Opfer, der Konflikt um gezogene Grenzen – letzten Endes nichts wert. So auch im Osten der Ukraine im Jahr 2014. Separatisten, die den Donpass längst schon unter russischen Fittichen sehen wollen, kämpfen gegen die ukrainische Regierung. Es herrscht lokaler Bürgerkrieg, der autoritäre Nachbar füttert von jenseits der Grenze seine Stellvertreter. Wir wissen längst, und spätestens seit Februar 2022, wohin das führen wird. Damals noch war alles etwas anders, aber nicht weniger erschütternd. In Klondike (naheliegend, dass dieser Titel auf den amerikanischen Goldrausch und seine Folgen anspielt – der auch anderswo entsprechend eskaliert, nur ist es eben Kohle statt Gold) steht ein Ehepaar im Mittelpunkt, das ihren kleinen Bauernhof unglücklicherweise direkt im Kriegsgebiet zur Selbstversorgung betreibt. Toliks Frau Irka ist hochschwanger und müsste bald ins Krankenhaus. Dumm nur, dass die Region von Separatisten abgesperrt wird, die beiden können nirgendwo hin. Ein Passagierflugzeug der Malaysian Airlines wird abgeschossen – ich bin mir sicher, wir alle erinnern uns noch, als dieses Unglück die Titelseiten dominierte. Die Gegend ist von Trümmern des Wracks übersät, überall liegen Leichen. Um der ganzen zerfahrenen Situation auch noch die Krone aufzusetzen, wird das Haus von Tolik und Irka von einem Geschütz getroffen und reißt die ganze Wohnzimmerfront ein. So sitzen die beiden nun auf der verstaubten Couch direkt vor dem klaffenden Loch mit Blick aufs Kriegsgebiet, von wo aus bald selbstgefällige Warlords heranrücken werden, um den beiden auch noch den letzten Rest nicht nur an Würde, sondern auch an Nahrung zu nehmen.

Wie sich erkennen lässt, ist Klondike wahrlich kein Film, der für gute Stimmung sorgt. Er stochert aber auch nicht zum Selbstzweck in offenen Wunden herum, nur um die Latte der Betroffenheit beim Publikum in schwindende Höhen zu treiben. Filmemacherin Gorbach, eine Ukrainerin, die mit ihrem erst 2022 beim Sundance Filmfestival ausgezeichneten Werk auch anderswo für Aufsehen gesorgt hat, schafft durch ihre bemerkenswerte filmische Reduktion eine völlig entrückte, sich fremd anfühlende Atmosphäre, in die Zuseher ohne viel Bezug zur Materie nur schwer einsteigen könnten. Das liegt auch an der nüchternen Betrachtung der Situation, die durch seine langen, langsamen Kamerafahrten und den fast schon selbstvergessenen Beobachtungen eines mühsam zusammengehaltenen Alltags, bestehend aus Sicherheit schaffenden Ritualen, die Geduld auf die Probe stellt. Oftmals verlässt die Kamera den Ort des Geschehens und studiert im 360°-Schwenk die ganze Umgebung, um letztlich wieder an den Ausgangspunkt zurückzukehren. Das ist seltsam. Und doch erstaunlich. Mit dieser Methode kommt Klondike durch die Hintertür ins Oberstübchen seines Betrachters. Genau diese höchst ungewöhnliche Erzählweise schafft letzten Endes einen beklemmenden Sog, obwohl der Film seine Figuren auf Distanz hält – nur Irka rückt als Close-up ins Bild. Schließlich liegt in dieser Person die Kampfbereitschaft um Würde, liegt die Angst vor einer globalen Eskalation, liegt die Sorge um die nächste Generation, die als Baby ans Licht des Tages will.

Wie Gorbach alle Ereignisse zu einem bedeutungsvollen Schlussakt bündelt, gerät zum Meisterwerk des anderen Blicks. Gerät zu einem ikonischen Bild, dass mehr verkündet als jedes gesprochene Wort. Das einerseits an die Nieren geht, andererseits so sehr verblüfft und überrascht angesichts dieser schmerzvollen wie traurigen Konsequenz.

Klondike (2022)

Das Salz der Erde

WELTGEWISSEN IN SCHWARZWEISS

6/10

 

salzdererde© 2014 NFP marketing & distribution GmbH

 

LAND: BRASILIEN, FRANKREICH 2014

REGIE: WIM WENDERS, JULIANO RIBEIRO SALGADO

MIT SEBASTIÃO SALGADO, WIM WENDERS, JULIANO RIBEIRO SALGADO, LÉLIA WANICK SALGADO U. A.

 

Das Herz der Finsternis liegt nicht nur in den Dschungeltiefen Zentralafrikas, auch nicht nur in den Oberläufen der Flüsse Vietnams. Es ist dort zu finden, wo Menschen einander unterdrücken. Einer, der Licht in diese Finsternis bringt, ist Sebastião Salgado. Kenner der Fotoszene wissen: Salgado ist ein brasilianischer Fotograf, und seine preisgekrönten Schwarzweiß-Fotografien weltberühmt. Fotografieren kann natürlich jeder, und dabei kommt es, wie man weiß, nicht in erster Linie auf das technische Equipment an. Salgado fotografiert mit einer stinknormalen Kamera und ohne Stativ, das höchste der Gefühle ist ein Teleobjektiv. Worauf es also ankommt, ist das Auge dahinter. Und auf den Mut, dort zu sein, wo keiner hinwill. Zur falschen Zeit also, aber am richtigen Ort, um Bilder aus den Eiterherden dieser Welt zu schießen mit dem Risiko, dabei verlustig zu gehen. Sebastiao Salgado ist nicht das nicht passiert, zumindest nicht physisch. Seine Seele allerdings hat gelitten, so hat er es in einem Gespräch mit Wim Wenders auch tacheles zu Protokoll gegeben. Was er gesehen hat, kann nicht spurlos an einem vorüberziehen. Vor allem die Gräuel in Afrika haben ihm zugesetzt, insbesondere Ruanda und der Kongo. Von Ruanda weiß ich, dass man gar nicht mal wirklich der Katastrophe als solche gewahr werden muss – da reicht es, in einem Land unterwegs zu sein, dessen Bevölkerung Unvorstellbares erlebt hat. Die Gedenkstätten als solche habe ich mir, als ich dort war, dann auch verkniffen, aus eigener psychohygienischer Verantwortung heraus. Gut ist es, so denke ich mir, dass es jene gibt, die da genau hinsehen können, die das Objektiv drauf halten auf oft verborgenen, menschlichen Notstand. Bis gar nichts mehr geht, selbst bei denen, die das Weltgewissen erhobenen Blickes herausfordern.

Wim Wenders ist fasziniert von berufenen Weltbürgern wie Salgado einer ist. Ein Mann, der die Erde wohl so kennt wie kein zweiter, der in seinem Tun eine Pflicht sieht und gar nicht anders kann. Der überall gewesen sein mag, der jeden Winkel dieses Planeten kennt, der die Nomaden der Sahelzone besucht oder Walrösser in der Arktis aufspürt, um deren Stoßzähne im Licht der Mitternachtssonne zu fotografieren. Wenders und Juliano Ribeiro Salgado, der Filius des Fotografen, haben eine Dokumentation entworfen, die – unüblich für einen Film – vor allem aus unbewegten Bildern besteht. Aus Salgados Bildern. Ein Meisterwerk nach dem anderen wird auf den Screen geschoben, vom Künstler selbst erklärt. Es ist wie eine Diashow mit Audiokommentar. Manchmal sieht man das Foto selbst soweit verblassen, damit Salgados sprechendes Konterfei dahinter zum Vorschein kommt. Und diese Art des Interviews, diese für den Zuseher bequeme Führung durch eine Best Of-Galerie, für die dieser keinen Schritt zu machen braucht, die überall auf der Welt und auf jedem Bildschirm gleichzeitig sein kann, ist sowieso und in jedem Fall erhellend – als Film ist Das Salz der Erde aber sehr wohl ein mutiges Experiment, welches das Medium Kino mit den Features eines Lichtbild-Vortrags verbindet. Was, wie man sieht, durchaus machbar ist.

Der große deutsche Autorenfilmer geleitet also mit bedächtiger, äußerst phlegmatischer Stimme durch zwei Stunden Interview und Dokumentationsmaterial, begleitet Salgado in den Norden, zu den Lanis nach West Papua und zurück in seine Heimat nach Brasilien. Wenders filmt manche Szenen selbst in Schwarzweiß, um Salgados Fotostil nachzuahmen, in manchen Szenen – vor allem in jenen, die von Instituto Terra, einem Verein zur Wiederaufforstung des Regenwaldes, erzählen – auch in Farbe. Stilistisch ist das Ganze relatives Patchwork, auf Spielfilmlänge zusammengeschnitten, und wenn man mal die eindrucksvollen Bilder des Fotokünstlers ausklammert, bleibt vom Film selbst nichts als Routine, natürlich die eines Profis. Aber haben das Dokus nicht so an sich? Dass es mehr um den Inhalt geht, um das, was bei all der Investigation herauskommt, und weniger um filmtechnische Besonderheiten? Wohl eher, würde ich meinen. Daher sind Dokus nicht zwingend etwas fürs Kino. Bei Das Salz der Erde aber habe ich so meine Zweifel, sorgt das Element der Diashow doch für die nötige Wucht, auch wenn Salgados Werke wie bei der Besprechung eines Kunstwerkes aus der Serie 1000 Meisterwerke (lief früher mal im Fernsehen) in statischer Ruhe wie Schwarzbuch-Dokumente eines finsteren Zeitalters irgendwann von berauschenden Momentaufnahmen unserer Natur abgelöst werden. Das ist typisch Wim Wenders, der selten hudelt, sich stets Zeit nimmt für sein Gegenüber, und sich auch hier in dessen Erinnerungen verliert und aus einem Künstlerportrait ein biographisches Essay über das Schwarze und Weiße unserer Welt erdenkt. Das ist bereichernd, faszinierend, aber auch seltsam versucht, nicht nur Salgados, sondern auch Wenders innerer Einkehr zu folgen.

Das Salz der Erde