Best of 2022

DIE TOP 30 VON FILMGENUSS


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Das letzte Filmjahr war insofern etwas anders, da ich mich vermehrt einem Genre widmete, welches ich die Zeiten zuvor viel zu sehr vernachlässigt hatte, steckt doch in diesem wohl unglaublich viel kreatives Potenzial, mit welchem ich mich nicht mehr abfinden hätte können, es niemals gesichtet zu haben: Der Horrorfilm. Natürlich stürzte ich mich dabei nicht kopfüber in unbekannte Gewässer. Torture Porn und Jumpscares brauche ich nicht. Der gediegene, intelligente Horrorfilm hat es mir angetan, der mit verspielter Freude dazu bereit ist, Genres zu kreuzen und Versatzstücke miteinander zu kombinieren, die sonst eher weniger zusammengehören. Vorreiter dieser Art des Filmemachens ist Jordan Peele, der es heuer bei mir auf Platz 2 geschafft hat. Mit den Indie-Perlen Fresh von Mimi Cave und dem Hexenmärchen You Won’t Be Alone sowie dem überraschend geschmackvollen The Menu finden sich noch andere genreübergreifende Horrorfilme wieder, die nicht nur darauf abzielen, das Publikum von den Sitzen springen zu lassen. Und das ist gut so. Denn in dieser Form findet der Schrecken dennoch seinen Weg. Nur intuitiver und experimenteller.

Begonnen hat das Jahr mit gleich mehreren Wunderwerken, vom dänischen Historiendrama Die Königin des Nordens über den Animationsalbtraum The House bis zu Pablo Larrains Biopic-Erlebnis Spencer, der für mich mit 9 Punkten zum besten Film des Jahres zählt. Die Viennale im Herbst des Jahres und auch der Streaminggigant Netflix hielten so einige Geheimtipps parat, wohingegen die großen Franchise auf ein recht schwaches Jahr zurückblicken. Wakanda Forever mischt als einziger Marvel-Film ganz oben mit – und Avatar: The Way of Water war wohl zu teuer, um es sich leisten zu können, handwerklich nicht zu beeindrucken. Am Ende von 2022 dann noch die große Überraschung: Was man von hier aus sehen kann scheint für mich Deutschlands bester Film des Jahres gewesen zu sein.

Man sieht – Abwechslung war genug vorhanden, und für mich haben sich neue Spielwiesen erschlossen, die auch im nächsten Jahr weiter neugierig machen werden: der Horror mit seinen vielen Gesichtern, und die kommende Viennale. Ich stehe schon in den Startlöchern. Und freue mich besonders auf das Programmkino-Abo, das heuer im Frühling garantiert genutzt werden wird.


PLATZ 1: SPENCER

Als Biopic wohl irritierend, als das assoziative Psychogramm einer großen, viel zu früh verstorbenen Persönlichkeit hat der Chilene Pablo Larrain das Genre neu definiert. 9/10 Punkte.

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PLATZ 2: NOPE

Was zum Geier war das? Jordan Peeles neue Mystery war vieles gleichzeitig – erschreckend, humorvoll, unheimlich und spektakulär. Wie man so etwas zusammenbringt, ist nur als Meisterleistung zu bezeichnen. 8,5/10 Punkte.

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PLATZ 3: GODLAND

Island sehen… und sterben? Ganz im Stile eines Abenteuers von Werner Herzog sinniert der Isländer Hlynur Pálmason über Gott und Identität, Vergänglichkeit und Freiheit. Das Highlight der letztjährigen Viennale! 8,5/10 Punkte.

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PLATZ 4: THE HOUSE

Als hätten David Lynch und Jean Pierre Jeunet einen Animationsfilm kreiert, der unheimlicher und phantastischer nicht sein kann. Der Dank geht an Netflix, denn nur dort lassen sich solche Juwelen entdecken. 8,5/10 Punkte.

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PLATZ 5: WAS MAN VON HIER AUS SEHEN KANN

Am Ende des Jahres begeistert noch das deutsche Kino mit einer oszillierenden und so warmherzigen Literaturverfilmung, dass man gar nicht anders kann, als seinen Sitznachbarn in den Arm zu nehmen. Kino, das gut tut. 8,5/10 Punkte.

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PLATZ 6: DIE KÖNIGIN DES NORDENS

Selten war Europäische Geschichte so packend, kompromisslos und tiefgründig. Wer Game of Thrones nur im Genre der Fantasy sucht – auch im wirklichen Leben hat es derlei Stücke gespielt. 8,5/10 Punkte.

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PLATZ 7: THE FATHER WHO MOVES MOUNTAINS

Ein Film, den wohl kaum jemand kennt, den Netflix aber in petto hat: Dieses Katastrophendrama aus Rumänien über einen verzweifelten Vater, dessen Sohn in den Bergen als vermisst gilt, war dieses Jahr wohl der bessere Ruben Östlund. Zynisch, manisch und erhellend. 8/10 Punkte.

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PLATZ 8: THE MENU

Schmeck’s! Dieses Dinner mit Anya Taylor-Joy und Ralph Fiennes war der wohl unberechenbarste Film des letzten Jahres und so erfrischend wie eine Speisefolge aus minütlich servierten Geschmacksexplosionen. 8/10 Punkte.

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PLATZ 9: ABTEIL NR. 6

Wenn eine Finnin und ein Russe an den äußersten Rand von Putins Königreich pilgern, dann ist das eine unvergessliche Zugfahrt durch ein unentdecktes, liebenswertes und skurriles Land. 8/10 Punkte.

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PLATZ 10: CORSAGE

Wie schon Pablo Larrain die Figur der Lady Diana auf ganz subjektive Art interpretiert hat, wagt sich die Österreicherin Marie Kreutzer an eine nicht weniger kultisch verehrte Persönlichkeit: Kaiserin Sisi. Wie sie das macht, ist faszinierend und von Vicky Krieps famos verkörpert. 8/10 Punkte.

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PLATZ 11: ZEITEN DES UMBRUCHS

A Mensch möcht‘ i bleib’n – das hat schon Wolfgang Ambros gesungen. In diesem wertvollen Coming of Age-Drama aus den USA strebt Anthony Hopkins Enkel dieses Ideal an – und wundert sich über die Klassengesellschaft seines Landes. Wunderschön und auch sehr berührend. 8/10 Punkte.

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PLATZ 12: YOU WON’T BE ALONE

Auf dem Wiener Slash-Filmfestival letztes Jahr vertreten gewesen, ist dieser australische Fantasydrama eine poetisch-versponnene Mischung aus Eggers The Witch und den Filmen eines Terrence Malick. Sehr philosophisch und humanistisch, dafür gab’s 8/10 Punkten.

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PLATZ 13: AVATAR: THE WAY OF WATER

Besser umsetzen lassen sich phantastische Welten wohl kaum mehr. James Cameron setzt die Latte für geschmeidige Action, fiktive Kreaturen und die Schönheit fremder Ökosysteme so hoch, das sonst niemand sie erreichen kann. Vorerst. 8/10 Punkte.

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PLATZ 14: DER SCHNEELEOPARD

Als einzige Dokumentation schafft es die mit Nick Caves Klängen untermalte Expedition auf der Suche nach einem der seltensten Tiere der Welt unter die Top 20. Hier entgeht nichts den Blicken des Tierfilmers. Und wir können daran teilhaben. 8/10 Punkte.

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PLATZ 15: FRESH

Horror muss nicht immer durchwegs verstören, wenngleich es verstörende Momente gibt: Diese auf Disney+ erschienene Romanze macht es so wie Jordan Peele und verknüpft verschiedene Genres zu einem hochspannenden und intelligenten Schlagabtausch zwischen Mann und Frau. 8/10 Punkte.

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PLATZ 16: NIGHTMARE ALLEY

The Cabinets of Curiosities haben mich nicht so überzeugt – dieser existenzialistische Film Noir in den Farben Guillermo del Toros und einer Verbeugung vor Tod Brownings Parabel Freaks hingegen schon. 8/10 Punkte.

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PLATZ 17: FRAU IM DUNKELN

Olivia Colman in einem Psychogramm der Extraklasse. Hier kommt vieles erst nach und nach ans Tageslicht, obwohl die mediterrane Sonne stark genug scheint. Fesselnd und faszinierend. 8/10 Punkte.

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PLATZ 18: RED ROCKET

Was tun, als arbeitsloser Pornostar? Sich einfach wieder neu aufstellen und in die Pole Position begeben. Sean Baker zaubert zu diesem Thema eine Sozialkomödie mit Pfiff und einem enorm gut aufgelegten Ensemble. 8/10 Punkte.

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PLATZ 19: BLACK PANTHER: WAKANDA FOREVER

Ein Königinnendrama im Marvel-Universum? Funktioniert prächtig, ist voller Folklore und ordentlich Drama. Ryan Cooglers Verbeugung vor Chadwick Boseman und das Einläuten einer neuen Ära ist das Beste, was Marvel 2022 zustandegebracht hat. 8/10 Punkte.

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PLATZ 20: SUNDOWN – GEHEIMNISSE IN ACAPULCO

Was macht Tim Roth am Strande von Acapulco? Diese stille, in sich gekehrte Mystery ist einer jener Filme, die durch die Hintertür kommen und lange nachwirken. Ein ganz besonderer Geheimtipp.

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Auf den Rängen 21 bis 30 finden sich – mit der Bewertung 7,5/10 ab Platz 22:



21) Á la Carte – Freiheit geht durch den Magen, 8/10 Punkte

22) Phantastische Tierwesen: Dumbledores Geheimnisse

23) The Card Counter

24) Elvis

25) Der beste Film aller Zeiten

26) Der Sommer mit Anaïs

27) Mr. Harrigans Phone

28) Decision to Leave

29) The Banshees of Inisherin

30) The Good Nurse

Best of 2022

The Banshees of Inisherin

FREUNDSCHAFT IST EIN VOGERL

7,5/10


bansheesofinisherin© 2022 20th Century Studios All Rights Reserved.


LAND / JAHR: IRLAND, GROSSBRITANNIEN, USA 2022

BUCH / REGIE: MARTIN MCDONAGH

CAST: COLIN FARRELL, BRENDAN GLEESON, KERRY CONDON, BARRY KEOGHAN, SHEILA FLITTON, PAT SHORTT, JON KENNY U. A. 

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Von Juni 1922 bis in den Mai des Folgejahres tobte auf Irland ein verlustreicher Bürgerkrieg zwischen jenen, die den Irischen Freistaat befürworteten, und jenen, die natürlich dagegen waren. Das hieß auch, dass ein Teil Nordirlands immer noch unter britischer Hoheit blieb. Ein Kompromiss, den viele nicht eingehen wollten. Diesen entbrannten Bruderkrieg konnte man von den vorgelagerten Inseln Irlands manchmal beobachten – und auch hören. Explosionen, donnernde Salven. Auf Inisherin, einer der irischen Küste vorgelagerte, fiktive Insel in der Galwaybucht, hat laut Martin McDonagh (Three Billboards outside Ebbing, Missouri) der Krieg scheinbar wenig Einfluss. Das Leben nimmt dort seinen Lauf, ein Tag folgt dem anderen und endet im Pub an der Steilküste. Es wird musiziert, dann, nächsten Morgen, wird das Nutzvieh versorgt, und pünktlich um 14 Uhr am Nachmittag holt einer wie Padraic seinen besten Freund von zuhause ab, um gemeinsam ein oder mehrere Guinness zu heben. Viel mehr passiert hier nicht. Langweilige Menschen tun langweilige Dinge. Aber das ist schön so. Und vertraut. Und jeden Tag aufs Neue Grund genug, dafür aus den Federn zu kommen. Doch eines Tages, es ist der erste April des Jahres 1923 – der Krieg am Festland liegt in den letzten Zügen – ist alles anders. Padraics Freund Colm kündigt die Freundschaft. Einfach so. Das dumme Gerede des einen, so meint er, stehle ihm viel zu viel Zeit für die wesentlichen Dinge des Lebens. Für Kunst. Und Musik. Padraic versteht das nicht, da er nichts getan hat, was sein Gegenüber so harsch und gemein werden lässt. Doch für Nettigkeit ist noch niemand in die Geschichte eingegangen, so Colm. Padraic lässt jedoch nicht locker. Will wissen, was da vorgeht und kann es nicht akzeptieren, dass der brummige Geigenspieler einfach nur seine Ruhe haben will. Wer nicht locker lässt, provoziert. Und der Krieg jenseits des Meeres scheint auf die Gemüter der beiden Sturköpfe abzufärben.

Mit The Banshees of Inisherin (Banshees sind weibliche Geister aus der irischen Mythologie) hat McDonagh wohl einen der ungewöhnlichsten Filme über Freundschaft geschaffen, die man sich nur vorstellen kann. Und obendrein gleich noch eine Allegorie gesetzt, die das Wesen des Krieges widerspiegeln soll, wie Schatten auf einer Höhlenwand. In Wahrheit gibt es keinen Grund für Konflikte, es sind lediglich die Folgen von Ignoranz, Kränkung und fehlender Weitsicht. Von krankhafter Sturheit und fehlendem Respekt. Dabei wird klar: Die Absenz der Nettigkeit hat vieles verursacht, was sich locker hätte vermeiden lassen. Sowohl im Kleinen als auch in der Weltpolitik. McDonagh sucht die Wurzel des Übels im Kleinen und zaubert daraus einen zutiefst komischen, aber auch so richtig makabren Schwank, der in herzhaften Dialoggefechten und dann wieder lakonischen Szenen seine Vollendung findet. The Banshees of Inisherin ist so urtümlich irisch wie der St. Patricks Day, suhlt sich in grünen Landschaften, irischer Volksmusik und jeder Menge Schwarzbier. Lässt die Brandung an die Felsen brechen und das Vieh ins Haus. Blut wird fließen, grimmige Konsequenzen durchgezogen, als wäre Verbohrtheit ein hehres Ziel. Und bei diesem Duell zwischen dem Harten und dem Zarten laufen nach Brügge sehen… und sterben die beiden Vollblütakteure Brendan Gleeson und Colin Farrell zur Höchstform auf. Bei Gleeson war mir ohnehin längst klar: dieser Mann war nicht nur als Harry Potter-Einauge Mad Eye Moody eine Offenbarung, sondern viele seiner Filme – vorrangig das Priesterdrama Am Sonntag bist du tot – wurden erst durch die Wucht seines Schauspiels nachhaltige Werke. Bei Colin Farrell ist nach dieser Performance nun auch jeder ZWeifel ausgeräumt: der diesjährig bei den Filmfestspielen von Venedig ausgezeichnete Brite setzt uns seine bislang beste und eingängigste Leistung vor. Der verstörte, ungläubige Blick, als Padraic erfährt, dass ihn Colm nicht mehr mag, zählt jetzt schon für mich zu den stärksten Interpretationen eines emotionalen Zustands. Und dann dreht er nochmals auf – ist wütend, resignierend, in seiner Einfältigkeit liebevoll charmant und dann wieder herausfordernd. Bis alle Stricke reißen. Wenn das passiert, ist der Bürgerkrieg einfach so auch in dieser beschaulichen Idylle angekommen. Und über allen Absurditäten wandelt eine Banshee die Wege und Hügel entlang, wie eine der Hexen aus Shakespeares Macbeth, die in die Zukunft sehen können.

The Banshees of Inisherin ist ein Buddy-Movie der besonderen Art. Nicht nur kauzig, schräg und so schwarz wie der tägliche Ausschank, sondern auch auf mehreren Ebenen eine zu Herzen genommene Zurschaustellung einer Menschenwelt, die ohne Respekt und Achtsamkeit nicht funktioniert.

The Banshees of Inisherin