Wie im echten Leben (2021)

WISCH UPON A STAR

7,5/10


wieimechtenleben© 2022 Filmladen


LAND / JAHR: FRANKREICH 2022

REGIE: EMMANUEL CARRÈRE

BUCH: EMMANUEL CARRÈRE, HÉLÈNE DEVYNCK

CAST: JULIETTE BINOCHE, HÉLÈNE LAMBERT, LÉA CARNE, ÉMILY MADELEINE, PATRICIA PRIEUR, ÉVELYNE PORÉE, DIDIER DUPIN, LOUISE POCIECKA U. A.

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Was zeichnet eigentlich den westlichen Wohlstand aus? Nein, nicht in erster Linie das Geld, denn das haben mittlerweile nur mehr die Privilegierten und Mächtigen. Es ist die Hygiene. So ein Standard will was heißen. Einmal nicht geputzt, versiffen öffentliche Sanitäranlagen im Eiltempo, in Großraumbüros mobilisiert sich der Lurch zwischen den Kabeln und Steckerleisten zur großen Revolte. Im Restaurant kommt man nicht mehr vom Boden weg, denn da klebt das verschüttete Cola von vorgestern. Die großen Schritte Richtung Zukunft können nicht begangen werden, wenn der Dreck die Behaglichkeit außen vorlässt, die das Image des Westens etabliert. Und die, die dafür verantwortlich sind – ein großer Teil der kritischen Infrastruktur nämlich, denn ohne Hygiene geht gar nichts – müssen ein berufliches Leben im Verborgenen fristen, wie Vampire, die man tunlichst nicht dem Sonnenlicht aussetzt. Sie kommen, wenn alle gegangen sind oder kurz, bevor das Tagesgeschäft wo auch immer wieder losgeht. Dabei ist der Begriff Putzfrau oder Putzmann ohnehin obsolet und abwertend. Wie wäre es mit Raumpflegerinnen und Raumpfleger? Schon besser.

Eine zeitgemäßere Bezeichnung des Berufes bedeutet aber nicht, dass die Arbeitsumstände auf adäquate Weise ebenfalls optimiert wurden – ganz und gar nicht. Um diesen Umständen auf den Grund zu gehen und einen Blick hinter die Kulissen frisch gemachter Betten, duftender Toiletten und glänzender Böden zu wagen, gibt sich Bestseller-Autorin und Investigativ-Journalistin Marianne (sehr authentisch: Juliette Binoche) als Jobsuchende aus, die mit Handkuss jene freie Stelle annimmt, für die sie zwar heillos überqualifiziert scheint, die aber Zähigkeit erfordert. Sie wird Teil einer Gruppe von gerade mal über die Runden kommenden Arbeiterinnen, die für einen Hungerlohn tagtäglich bis an ihre Grenzen gehen. Klar – mit dem Schmutz muss man mal auf du und du sein, sonst wird das nichts. Doch die gemeinsame Anstrengung schweißt zusammen. Aus dem Team werden Freundinnen, aus der entbehrungsreichen Schufterei mitunter die Challenge, in Rekordzeit alles fertigzubekommen. Letztendlich bleibt es aber nur eine Frage der Zeit, bis Mariannes wahre Identität ans Licht kommt – und das für eigene Zwecke erlangte Vertrauen auf dem Prüfstand steht.

Will man dem Alltag von RaumpflegerInnen folgen, tun’s meistens Journaldokus wie Am Schauplatz. Für einen Spielfilm, der genauso wenig schönt, der keine Lust hat, irgendwem zu schmeicheln und keine Scheu davor hat, sich bereitwillig dem Leben und Leiden einer um ihre Anerkennung gebrachten Branche zu nähern, ist die Dokumentation durchgetakteter Arbeitstage nur das Fundament für ein explizites Drama um unerbrachte Wertschätzung für sogenannte niedere Arbeiten, die allerdings getan werden müssen, um das System am Laufen zu halten. Autor und Filmemacher Emmanuel Carrère ist wohl der Romancier unter den Sozialfilmern – Ken Loach oder die Brüder Dardenne sind zwar auf ihre ernüchternde und nüchterne Art unnachahmlich und präzise, für das große zwischenmenschliche Drama findet Carrère noch das bisschen mehr an Emotionalität und Eleganz, ohne dabei die Realität aus den Augen zu verlieren. Diesen unsichtbaren Engeln setzt dieser ein kleines, rechtschaffenes und unpathetisches Denkmal jenseits vom Sozialporno eines Ulrich Seidl. Am Ende aber ist die Diskrepanz zwischen den Gesellschaftsschichten unüberbrückbar, so sehr man sich auch eine alles verbindende Harmonie erhofft, welche die Protagonistinnen auf Augenhöhe wieder zueinander führt.

Wie im echten Leben (2021)

Causeway

FLUCHT ZURÜCK NACH VORNE

5/10


causeway© Apple TV+


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: LILA NEUGEBAUER

CAST: JENNIFER LAWRENCE, BRIAN TYREE HENRY, LINDA EDMOND, JAYNE HOUDYSHELL, FRED WELLER, NEAL HUFF U. A.

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


Mit einem tristen Indie-Drama wurde die Welt auf sie aufmerksam – zu einem tristen Indie-Drama kehrt Jennifer Lawrence nun zurück. Causeway ist ihr jüngstes Werk, und es erscheint in den dunklen Wintermonaten zeitgerecht auf dem Streamingdienst Apple TV+, denn dieser hat anscheinend ein Faible für Filme wie diese, die in unterschiedlicher Qualität einmal wirklich beeindrucken (wie das Sci-Fi-Drama Schwanengesang) oder lieber lethargisch bleiben, wie eben in diesem Fall. Ein Stück erarbeitete Lebensweisheit wie diese kann mitunter nur so tun, als hätte sie mehr auszusagen als ein kommerziell orientierter Comic-Blockbuster, denn diese sind ja schon allein aufgrund ihres Schwerpunkts auf Schauwerte gleich vorverurteilt, was Tiefe anbelangt. Sieht man allerdings genauer hin, können introvertierte Dramen wie dieses ihre wahre inhaltliche Ratlosigkeit auch nicht mehr kaschieren. Da kann Jennifer Lawrence noch so traumatisiert und emotional verkümmert ins Narrenkästchen blicken – der Film wird dadurch nicht griffiger oder gehaltvoller. Er bleibt zumindest inhaltlich von so geringer Spannkraft wie die Wasserspiegel der vielen Swimmingpools im feucht-tropischen Süden der USA, die Jennifer Lawrence alle reinigen muss. Doch warum nur tut sie das?

Lawrence spielt Lindsay, eine körperlich wie neuronal in Mitleidenschaft gezogene US Army-Ingenieurin, die bei einem Routineeinsatz in Afghanistan aufgrund eines Hinterhalts der Taliban schwer verletzt wurde. Der Unfall führte zu einer Gehirnblutung, die wiederum zur körperlichen Beeinträchtigung, die nur nach langen Monaten der Reha wieder so einigermaßen in den Griff zu bekommen war. Die Bilder des Schreckens von damals mindert das nicht – umso schwerer ist es, sich selbst genug zu motivieren, um, wieder daheim, zumindest vorübergehend ein neues Leben anzufangen, bis es wieder an die Front gehen kann. Denn das will sie, trotz oder gerade wegen dieser erschütternden Erlebnisse, die ein ziviles Dasein fast schon unmöglich machen. Dummerweise muss sie sich bei Muttern einquartieren – das Verhältnis zwischen den beiden pendelt zwischen zerfahren und vorsichtiger Annäherung, wobei schon einiges zu viel im Argen liegt, um länger in der Obhut der Vergangenheit bleiben zu wollen. Wie es der Zufall so will, trifft Lindsay auf den Mechaniker James (Brian Tyree Henry, zuletzt gesehen als Killer Lemon in Bullet Train), der ein ähnliches Schicksal mit sich herumträgt.

Klar wird aus dieser Begegnung mehr. Und auch aus der neuerlichen Zusammenkunft zwischen Mutter und Tochter. Causeway ist ein Aufarbeiten des Vergangenen und eine Suche nach einem Neuanfang. Für einen Indie-Film wie diesen klingt der Plot mittlerweile etwas abgenutzt und reicht gerade mal für eine Ausgangssituation, um unterschiedliche Ansätze darin zu entdecken. Das eindringliche Antikriegsdrama Brothers, ob als dänisches Original oder Remake mit Tobey Maguire und Jack Gyllenhal, ist ähnlich akzentuiert, entwickelt aber eine bedrohliche Eigendynamik. Die Tragikomödie Red Rocket von Sean Baker hat zwar keine traumatischen Kriegserlebnisse zu bieten, erzählt aber ebenfalls von Vergangenheit und Neuanfang auf erfrischend spitzbübische Weise. Familien spielen dabei immer eine Rolle, ob dysfunktional oder Geborgenheit bietend. Was Lila Neugebauer in ihrem ersten Langfilm daraus macht, scheint ein bisschen sehr gedankenverloren. Natürlich, Lawrence nimmt sich zurück und gibt sich ganz ohne Schminke und sonstige Accessoires bemüht natürlich. Brian Tyree Henry ist da schon chargierender, spontaner in seinen Emotionen, auch glaubhafter. Doch beide sind souverän in ihrer Arbeit, treten aber in der Entwicklung ihrer Figuren fast bis zuletzt auf der Stelle.

Für Langeweile sorgt Causeway aber dennoch nicht, was den beiden Darstellern geschuldet ist. Schauspielkino also für einen ruhigen Filmabend, der wenig Erhellendes bietet, seine Zuseher aber wissen lassen möchte, mit anscheinend viel Schwermut auch genug Gehaltvolles kommuniziert zu haben. Das lässt sich schnell glauben – in Wahrheit bringt das Thema für einen Langfilm viel zu wenig ins Rollen.

Causeway

Fragil (2022)

DAS SCHLUCHZEN DER MÄNNER

7/10


fragil© 2022 Flirrsinn


LAND / JAHR: FRANKREICH 2021

REGIE: EMMA BENESTAN

BUCH: EMMA BENESTAN, NOUR BEN SALEM

CAST: YASIN HOUICHA, OULAYA AMAMRA, TIPHAINE DAVIOT, RAPHAËL QUENARD, BILEL CHEGRANI, DIONG-KEBA TACU, GUILLERMO GUIZ, HOLY FATMA U. A.

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Der nächste Sommer kommt bestimmt – was man momentan vielleicht gar nicht mal so glauben kann, angesichts fast schon eisiger Temperaturen und kurzen Tagen, die den Nachtfrost einläuten. Da ist es manchmal nur willkommen, wenn sich die Hoffnung auf den nächsten Sommer zumindest in den Filmen manifestiert – und wir wieder Sehnsucht verspüren auf das zum Baden einladende Meer, lange Abende und leichter Bekleidung. Vor allem auch auf Meeresfrüchte aller Art, insbesondere Austern. Die gibt es so einige zum Verzehr, zumindest in der französischen Küsten- und Hafenstadt Sète. Diese Schalentiere sind richtig frisch – das garantiert uns der junge Austernfischer Az (Yasin Houicha), der seine Arbeit durchaus mit Leidenschaft betreibt, und auch leidenschaftlich genug sein will, wenn’s um Beziehungsangelegenheiten geht. Denn eines lauen Sommerabends will er seiner langjährige Geliebte Jess (Tiphaine Daviot) einen Heiratsantrag machen – er meint, der beste Ort dafür ist im Inneren einer Auster, die in der Taverne seiner Wahl serviert werden soll. Nur leider spielt das Leben eben nicht die romantischsten Melodien: Jess lehnt ab, will sich sogar eine Auszeit nehmen, steckt sie doch bis über beiden Ohren in einem Karrierehoch als Serienstar. Da bleibt keine Zeit für einen Austernfischer wie Az, der seiner Enttäuschung und seinem Liebeskummer durchaus auch mal die eine oder andere Träne dazugesellen lässt. Und ja: Männer dürfen weinen. Denn dieser Mann hier ist fragil genug, um seine Gefühle zu zeigen. Da muss man nicht auf tough tun und sich rational, wie Männer eben sein müssen, nach neuen Liebschaften umsehen.

Az ist ein unverbesserlicher Romantiker, der gerne in Rostands Klassiker Cyrano zwar nicht die Rolle des großnasigen Poeten, sondern dessen Freund einnehmen würde. Zum Glück hat er aber statt Cyrano einen ganzen Haufen anderer, wirklich guter Freunde, die schräger nicht sein können. Und eine Freundin, die, zurück aus Paris, den jungen Az dahingehend unter ihre Fittiche nimmt, dass er zumindest bei der nächsten großen Filmparty seiner Ex Jess mit Tanztechniken aus der algerischen Raï-Musik so richtig auftrumpfen kann.

Natürlich läuft in einem Film wie Fragil, dem Debüt der algerisch-französischen Filmemacherin Emma Benestan, nichts nach Plan. Der Plan dahinter ist nur, zu sich selbst und seinen Gefühlen zu stehen. Auch als Mann. Mit klassischen männlichen Stereotypen will Benestan aufräumen. Hier findet sich keiner, der Erfolg mit seinen Rollenklischees hätte, die aber bislang die „Herren der Schöpfung“ an ihr amouröses Ziel brachten. Nicht nur einmal erwähnt Az, er wäre im nächsten Leben gerne eine Frau, oder einfach so wie Freundin Lila, die bald schon mehr bedeutet als nur eine hemdsärmelige Vertraute aus Kindertagen. Die Frau im Manne ist etwas, wofür es sich lohnt, im Gefühlschaos Platz zu schaffen. Weinen gehört da ebenso dazu, und das nicht nur als schauspielerischer Kraftakt, wie ihn Konkurrent Giaccomo, ebenfalls Serienstar, als Sternstunde der Spontan-Improvisation demonstriert. Benestan findet ihre Männer hin und hergerissen zwischen kolportierten Idealen und wahren Emotionen. Dabei ist nicht wichtig, wie originell die Liebesgeschichte in Fragil wirklich erzählt werden will. Die ist nämlich erstaunlich vorhersehbar und folgt klassischen, vielleicht zu oft bemühten, aber immer noch funktionstüchtigen Formeln. Wert legt der Film vor allem auf die erfrischende Chemie zwischen den Darstellerinnen und Darstellern, zwischen Cesar-Preisträgerin Oulaya Amamra (Divines) und Yasin Houicha, die sich manchmal so anfühlt, als wäre man in einem mediterranen Dirty Dancing von Rhythmus-Regisseur Tony Gatlif, der mit Vengo oder Djam  – außerordentlich melodische Musikfilmstücke, verbunden mit dem Flair Südeuropas – das Filmschaffen des zweitkleinsten Kontinents längst bereichert hat. Wenn Lila und Az unter der Sonne des Mittelmeeres, zwischen Küste und Meer auf den steinernen Wellenbrechern ihre Bewegungen einstudieren, ist das gelebte Kultur und gelebte Romantik. Ohne Kitsch, sondern mit Gefühl für den Moment. Ja, das gilt auch für Männer.

Fragil (2022)

The Banshees of Inisherin

FREUNDSCHAFT IST EIN VOGERL

7,5/10


bansheesofinisherin© 2022 20th Century Studios All Rights Reserved.


LAND / JAHR: IRLAND, GROSSBRITANNIEN, USA 2022

BUCH / REGIE: MARTIN MCDONAGH

CAST: COLIN FARRELL, BRENDAN GLEESON, KERRY CONDON, BARRY KEOGHAN, SHEILA FLITTON, PAT SHORTT, JON KENNY U. A. 

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Von Juni 1922 bis in den Mai des Folgejahres tobte auf Irland ein verlustreicher Bürgerkrieg zwischen jenen, die den Irischen Freistaat befürworteten, und jenen, die natürlich dagegen waren. Das hieß auch, dass ein Teil Nordirlands immer noch unter britischer Hoheit blieb. Ein Kompromiss, den viele nicht eingehen wollten. Diesen entbrannten Bruderkrieg konnte man von den vorgelagerten Inseln Irlands manchmal beobachten – und auch hören. Explosionen, donnernde Salven. Auf Inisherin, einer der irischen Küste vorgelagerte, fiktive Insel in der Galwaybucht, hat laut Martin McDonagh (Three Billboards outside Ebbing, Missouri) der Krieg scheinbar wenig Einfluss. Das Leben nimmt dort seinen Lauf, ein Tag folgt dem anderen und endet im Pub an der Steilküste. Es wird musiziert, dann, nächsten Morgen, wird das Nutzvieh versorgt, und pünktlich um 14 Uhr am Nachmittag holt einer wie Padraic seinen besten Freund von zuhause ab, um gemeinsam ein oder mehrere Guinness zu heben. Viel mehr passiert hier nicht. Langweilige Menschen tun langweilige Dinge. Aber das ist schön so. Und vertraut. Und jeden Tag aufs Neue Grund genug, dafür aus den Federn zu kommen. Doch eines Tages, es ist der erste April des Jahres 1923 – der Krieg am Festland liegt in den letzten Zügen – ist alles anders. Padraics Freund Colm kündigt die Freundschaft. Einfach so. Das dumme Gerede des einen, so meint er, stehle ihm viel zu viel Zeit für die wesentlichen Dinge des Lebens. Für Kunst. Und Musik. Padraic versteht das nicht, da er nichts getan hat, was sein Gegenüber so harsch und gemein werden lässt. Doch für Nettigkeit ist noch niemand in die Geschichte eingegangen, so Colm. Padraic lässt jedoch nicht locker. Will wissen, was da vorgeht und kann es nicht akzeptieren, dass der brummige Geigenspieler einfach nur seine Ruhe haben will. Wer nicht locker lässt, provoziert. Und der Krieg jenseits des Meeres scheint auf die Gemüter der beiden Sturköpfe abzufärben.

Mit The Banshees of Inisherin (Banshees sind weibliche Geister aus der irischen Mythologie) hat McDonagh wohl einen der ungewöhnlichsten Filme über Freundschaft geschaffen, die man sich nur vorstellen kann. Und obendrein gleich noch eine Allegorie gesetzt, die das Wesen des Krieges widerspiegeln soll, wie Schatten auf einer Höhlenwand. In Wahrheit gibt es keinen Grund für Konflikte, es sind lediglich die Folgen von Ignoranz, Kränkung und fehlender Weitsicht. Von krankhafter Sturheit und fehlendem Respekt. Dabei wird klar: Die Absenz der Nettigkeit hat vieles verursacht, was sich locker hätte vermeiden lassen. Sowohl im Kleinen als auch in der Weltpolitik. McDonagh sucht die Wurzel des Übels im Kleinen und zaubert daraus einen zutiefst komischen, aber auch so richtig makabren Schwank, der in herzhaften Dialoggefechten und dann wieder lakonischen Szenen seine Vollendung findet. The Banshees of Inisherin ist so urtümlich irisch wie der St. Patricks Day, suhlt sich in grünen Landschaften, irischer Volksmusik und jeder Menge Schwarzbier. Lässt die Brandung an die Felsen brechen und das Vieh ins Haus. Blut wird fließen, grimmige Konsequenzen durchgezogen, als wäre Verbohrtheit ein hehres Ziel. Und bei diesem Duell zwischen dem Harten und dem Zarten laufen nach Brügge sehen… und sterben die beiden Vollblütakteure Brendan Gleeson und Colin Farrell zur Höchstform auf. Bei Gleeson war mir ohnehin längst klar: dieser Mann war nicht nur als Harry Potter-Einauge Mad Eye Moody eine Offenbarung, sondern viele seiner Filme – vorrangig das Priesterdrama Am Sonntag bist du tot – wurden erst durch die Wucht seines Schauspiels nachhaltige Werke. Bei Colin Farrell ist nach dieser Performance nun auch jeder ZWeifel ausgeräumt: der diesjährig bei den Filmfestspielen von Venedig ausgezeichnete Brite setzt uns seine bislang beste und eingängigste Leistung vor. Der verstörte, ungläubige Blick, als Padraic erfährt, dass ihn Colm nicht mehr mag, zählt jetzt schon für mich zu den stärksten Interpretationen eines emotionalen Zustands. Und dann dreht er nochmals auf – ist wütend, resignierend, in seiner Einfältigkeit liebevoll charmant und dann wieder herausfordernd. Bis alle Stricke reißen. Wenn das passiert, ist der Bürgerkrieg einfach so auch in dieser beschaulichen Idylle angekommen. Und über allen Absurditäten wandelt eine Banshee die Wege und Hügel entlang, wie eine der Hexen aus Shakespeares Macbeth, die in die Zukunft sehen können.

The Banshees of Inisherin ist ein Buddy-Movie der besonderen Art. Nicht nur kauzig, schräg und so schwarz wie der tägliche Ausschank, sondern auch auf mehreren Ebenen eine zu Herzen genommene Zurschaustellung einer Menschenwelt, die ohne Respekt und Achtsamkeit nicht funktioniert.

The Banshees of Inisherin

Mr. Harrigan’s Phone

DAS LETZTE HEMD HAT PLATZ FÜRS HANDY

7,5/10


mrharrigansphone© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: JOHN LEE HANCOCK

CAST: JAEDEN MARTELL, DONALD SUTHERLAND, KIRBY HOWELL-BAPTISTE, CYRUS ARNOLD, JOE TIPPETT, MYRNA CABELLO U. A. 

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Stephen King’s Kurzgeschichten zählen wohl zum besten, was verfilmt werden kann. Und das ist auch ganz offensichtlich, warum: Kurzgeschichten haben Längen, die, würde man sie in die Maßeinheit für Film umrechnen, ungefähr einem Kinoabend entsprächen. Weil man tatsächlich auf jedes Detail eingehen kann. Weil man nichts weglassen und die Intensität des Erzählten nicht abschwächen muss zugunsten einer erträglichen Laufzeit. Bestes Beispiel:  Die Verurteilten, eine unerreicht gute Adaption.

Mr. Harrigans Phone ist ebenfalls so ein knapp getextetes Gustostück und erschien erstmals 2020 im Sammelband Blutige Nachrichten (besser im Original: If it bleeds). Und da lässt sich wieder deutlich erkennen, was für ein Meister im Mysteriösen Stephen King eigentlich ist. Einer, der offensichtlich Paranormales so sehr zwischen seinen Zeilen verstecken kann, dass es durch die Hintertür kommt und einem vom Nacken aufwärts die Härchen aufstellt. Doch manchmal muss es das auch gar nicht. Vielleicht wäre das schon wieder zu plump, für einen, der sein Talent vor allem in den kleinen, knappen Gedankengängen so auslebt, als hätte man das Gefühl, genau so etwas ähnliches schon mal selbst mit Schrecken erdacht zu haben. Denn in Mr. Harrigan’s Phone, da stellt sich die Frage: Was, wenn Tote als Geist in der Maschine ihren Draht zum Diesseits nicht ganz kappen können? Was, wenn das Smartphone als technologisches Mysterium der Gegenwart, das wohl die wenigsten von uns in seinen Prozessen nachvollziehen können, ohnehin längst als Tor in eine andere Dimension fungiert?

Andere Autoren würden hier vielleicht mit viel Budenzauber ein Portal zur Hölle oder sonst wohin auftun. Stephen King macht das nicht. Und auch John Lee Hancock (u. a. The Blind Side), der die Vorlage adaptiert und inszeniert hat, hütet sich davor, allzu effektbeladen seine Anomalien innerhalb einer uns vertrauten Welt aufzuplustern. Es ließe sich gut vorstellen, Jonathan Frakes als Moderator diese Geschichte im Rahmen seines süchtigmachenden X-Faktor-Panoptikums ankündigen zu lassen. Er könnte uns fragen: Was glaubt ihr? Ist das, was ihr gesehen habt oder sehen werdet, wahr – oder falsch? Auch in X-Faktor ist das Paranormale gleich um die nächste Ecke präsent, und vielleicht begegnen wir ähnlichem, eines Tages, wenn wir es am wenigsten erwarten.

So ergeht es schließlich Jaeden Martell als Craig, einem hilfsbereiten Jungen, der dem reichen und mittlerweile gealterten Geschäftsmann Mr. Harrigan dreimal die Woche aus seinen Büchern vorliest – gegen Bezahlung natürlich. Wer geglaubt hätte, dies wäre vielleicht ein bisschen Taschengeld für ein Semester, wird sich wundern: Über fünf Jahre wird Craig die ganze Bibliothek des Alten rauf und runterlesen und mit dem erfahrenen, distinguierten und gebildeten Gentleman Gespräche führen – über Gott und die Welt. Über die Vergangenheit und den Fortschritt. Apropos Fortschritt: Dieser lässt in Gestalt des ersten iPhone (dieser Film enthält Produktplatzierungen!) den Greis nochmal so richtig aufblühen. So wie all die jungen in der Schule hängt auch er nur noch am mobilen Endgerät. Und dann passiert es. Diese ungewöhnliche Freundschaft endet jäh, als Mr. Harrigan stirbt, mit dem Telefon in der Hand, darauf Craigs Nummer angewählt. Als die Beerdigung stattfindet, steckt ihm Craig sein iPhone unters Jackett. So als kleiner Trost. Die Konsequenz dieser Geste: Mr. Harrigan schickt Nachrichten aus dem Grab, kryptische SMS. Und ab und an erschallt dessen eigener Klingelton: Stand by your Man von Tammy Wynette.

Schaudert es euch schon? Mich zumindest auf gewisse Weise. Ein seltsames Gefühl wohligen Unwohlseins bemächtigt sich meiner. Es ist etwas Unheimliches geschehen, das sich allerdings auf schräge Weise vertraut anfühlt. Ein seidener Faden als Brücke zwischen Dies- und Jenseits scheint gesponnen. Oder ist das alles doch nur ein profaner Hacker-Streich, der eine Kette an Zufällen auslegt? Kann es das geben? All diese vagen Vermutungen und die Vernunft, die das Metaphysische als unmöglich ablehnt, geraten in einen Dialog. Und auch dann, wenn Dinge wie diese, die hier passieren, vielleicht auch wirklich nur Koinzidenzen sein könnten, belebt die Möglichkeit eines sich aller Wissenschaft entziehenden Wunders die Hoffnung auf ganz anderen Wahrheiten, die unserer Existenz einen verlockend anderen Spin mitgeben. Mit diesem Wechselspiel an atmosphärischer Suspense und den Werten von Freundschaft und Verantwortung gelingt John Lee Hancock ein subtiles, fein gesponnenes Mysterydrama, das seinen Reiz durch das Indirekte und Unbekannte erhält – und natürlich durch das elegante Spiel eines würdevollen Donald Sutherland, der, wie es scheint, längst noch nicht genug davon hat, vor der Kamera zu stehen.

Mr. Harrigan’s Phone

Trees of Peace

ESCAPE ROOM IM GENOZID

5/10


treeofpeace© 2022 Netflix


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: ALANNA BROWN

CAST: ELIANE UMUHIRE, CHARMAINE BINGWA, ELLA CANNON, BOLA KOLEOSHO, TONGAYI CHIRISA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 37 MIN


Das systematische Töten von bis zu einer Million Menschen von April bis Juli des Jahres 1994 zählt zu den schlimmsten Verbrechen, die Menschen einander antun können. Natürlich – systematische Säuberungen gab es andernorts auch, so gesehen in Kambodscha oder Serbien. In Ruanda aber ist passiert, was niemand jemals vermutet hätte und was diese Abscheulichkeiten in einem noch schrecklicheren Licht zeigt: Die Bereitschaft ganz normaler, rechtschaffener Menschen, langjährige Freunde, Familienmitglieder und Kinder einfach dahinzuschlachten. Und das nicht nur aus Zugzwang. Der knochenharte Horror steckt hier im vorsätzlichen Tun und im plötzlichen Verrat an Werten und Gewissen.

Angesichts dieser Tragödie bleiben Filmreihen wie The Purge zynisches Entertainment. Wenn so etwas tatsächlich passiert, lässt sich das kaum verfilmen. Umso dringender Ruandas Motivation, das Trauma sofort aufzuarbeiten. Filme wie Hotel Ruanda, Sometimes in April oder Trees of Peace tragen mitunter dazu bei, sich proaktiv neuen Ufern zuzuwenden – weil niemand wegsehen oder so tun will, als wäre er nicht dabei gewesen.

In Trees of Peace ist das Grauen – so wie in Stefan Ruzowitzkys Die Fälscher – vorwiegend indirekt wahrzunehmen. Doch das macht der Intensität keinen Abbruch. Das Flehen, Schreien und Metzeln ist nicht zu überhören, wenngleich dosiert genug, damit einem nicht übel wird. Den vier Frauen, die sich in einem gerade mal 2x2m großen Kellerloch fast 3 Monate lang versteckt halten, fordert die Angst ums Überleben so gut wie alles ab. Es sitzen sich eine schwangere Hutu namens Annick, welcher der Keller des Hauses gehört, ein Tutsi-Mädchen, eine Tutsi-Nonne und eine Amerikanerin gegenüber. Sie harren und warten und bangen. Ab und an kommt Annicks Ehemann vorbei und bringt Nahrung. Der Zugang zum Keller lässt sich nur von außen öffnen, die vier Frauen sind vorübergehend lebendig begraben, haben nur ein kleines Fenster, vor welchen sich ab und an fürchterliche Dramen abspielen. Und jede der hier Anwesenden trägt zusätzlich noch seinen eigenen erlebten Schrecken aus Kindheit und Alltag mit sich herum, der in diesem Genozid die Chance sieht, die Resilienz jeder einzelnen der Eingesperrten auf die Probe zu stellen.  

Autorenfilmerin Alanna Brown hat hier zwar keinen Film auf wahren Begebenheiten inszeniert, bezieht sich aber auf ähnliche Berichte vieler Überlebender, die Dank eines ähnlich guten Verstecks wie diesem der Hinrichtung entgehen konnten. Mir fällt hier unweigerlich Anne Frank und ihre Familie ein, die dieses Glück leider nicht hatten und denunziert wurden. Leicht hätte es diesen vier Frauen ebenso ergehen können, doch Browns Film will Hoffnung schöpfen und nicht nehmen. Eine noble Sache, da kann ich nichts dagegen sagen – andererseits aber erhält das durchaus gewagt angelegte Survival-Kammerspiel trotz all der vermittelten, schwer erträglichen Gewalt einen frommen, geradezu phrasenhaften Idealismus, der manchmal recht dick aufträgt. Im Gegensatz dazu nimmt sich Alanna Brown mit ihrem Konzept der konsequenten Isolation, die sie kaum durchbricht, einige inszenatorische Möglichkeiten. Sie hätte wohl vorgehabt, ihre vier Protagonistinnen wahrhaftig an ihre Grenzen gehen zu lassen – stattdessen bleiben die Konflikte nicht auserzählt, die Dialoge beschwichtigend, das Gute im Menschen auf Abruf verfügbar.

Die Geschichte, um die es hier geht, bleibt in seiner Unfassbarkeit, ganz so wie der Holocaust, ein niemals wegtherapierbares schwarzes Loch. Am Ereignishorizont lässt es sich gerade mal innehalten. Trees of Peace bleibt dort in seiner Zeitkapsel auf Warteposition, ist gut gemeint und sicher auch aufrichtig – überbrücken kann Brown die spielfilmlange Laufzeit lediglich mit wiederkehrenden Motiven und wenig erhellenden Erkenntnissen.

Trees of Peace

Abteil Nr. 6

ZWEI FREMDE IM ZUG

8/10


ebteilnr6©2021 Sami Kuokkanen / Aamu Film Company


LAND / JAHR: FINNLAND, ESTLAND, DEUTSCHLAND, RUSSLAND 2021

BUCH / REGIE: JUHO KUOSMANEN

CAST: SEIDI HAARLA, YURIY BORISOV, DINARA DRUKAROVA, LIDIA KOSTINA, JULIJA AUG, TOMI ATALO, POLINA AUG U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Eine „symmetrische“ Reaktion will der Kreml darauf geben, wenn Finnland tatsächlich der NATO beitreten sollte. Wie jetzt – will Russland den Beitritt ebenfalls beantragen? Wohl eher weniger. Das Säbelschwingen und – rasseln Putins lässt keinen Staat kalt, und sei er auch noch so mit Understatement gesegnet wie Finnland. Dass der Alleinherrscher plötzlich auf die Idee kommt, Finnland als urrussischen Boden anzusehen – es ist alles möglich, nichts mehr auszuschließen. Und dennoch: In Zeiten der Distanz ist man gut damit beraten, den Blick vom Eisernen Thron zu nehmen und ein bisschen zu senken. Ins Spektrum rückt das gemeine Volk, das mehr oder weniger ohnmächtig angesichts der politischen Willkür versucht, über die Runden zu kommen. Und da kann es passieren, dass trotz der politischen Eiszeit unter dessen wärmeren Fittichen sowas wie Annäherungen passieren, die ganz klein und im Verborgenen beginnen. Vielleicht bei einer Zugfahrt in den hohen, wirklich hohen Norden, nämlich nach Murmansk.

In einem Abteil sitzen die finnische Archäologiestudentin Laura und der russische Bauarbeiter Ljoha. Beide haben nichts gemeinsam, und Laura versucht vergeblich, den scheinbar sexuell gefärbten Avancen ihres angetrunkenen Gegenübers zu entgehen. Ein Konsens muss her, denn die Zugfahrt ist keine von A nach B während eines halben Tages, sondern besagte Reise mit der Murmanbahn zieht sich über mehrere Nächte. Die Transsibirische für Anfänger könnte man es nennen. Und dennoch: eine Nächtigung im Zug ist meistens genug, um sich verfilzt und unausgeschlafen zu fühlen. Noch dazu in Gegenwart einer Person, der man nicht trauen kann. Nur: der erste Eindruck täuscht meistens. Auch bei Ljoha. Der junge Mann scheint dann doch schwer in Ordnung, und irgendwie kommen Laura und er ins Gespräch, erzählen von ihren Zielen und was sie umtreibt. Beide stellen fest, dass sie vieles verbindet, darunter auch eine gewisse Verlorenheit – aber auch die Vergangenheit, die Urgeschichte dieser Weltregion. Und vielleicht gar etwas mehr als nur Sympathie füreinander.

Voyage Voyage – den Klassiker von Desireless – greift Juho Kuosmanen (Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki) immer wieder auf, vertont der Song doch ganz schön das Gefühl des Abnabelns, ins Unbekannte-Reisens, Neu-Findens. Abteil Nr. 6, absolut zu Recht auf der Shortlist für den Auslandsoscar 2022 gewesen und für Palme sowie Golden Globe nominiert, beschäftigt sich genau damit. Dem Film gelingt es, das Überbrücken schwieriger Umstände zu illustrieren, die notwendig sind, um gemeinsam zu den Wurzeln einer grenzenlosen Geschichte zu gelangen. Metapher dafür sind die Petroglyphen am Kanosero-See auf der Halbinsel Kola, wofür Laura die ganze Reise auf sich nimmt. Es ist kein Geheimnis, dass letzten Endes beide dorthin unterwegs sein werden, und zwar zu einer Jahreszeit, die es scheinbar unmöglich macht, an diesen Ort zu gelangen. Projizieren lässt sich dieses soziale Gefüge sehr gut auf die aktuelle Schräglage zwischen beiden Ländern, und der Impuls, der von Abteil Nr. 6 ausgeht, ist ein notwendiger, herbeigesehnter, vor allem positiver.

So richtig fasziniert Abteil Nr. 6, abgesehen von dem famosen wie preisverdächtigen Schauspielpaar Seidi Haarla und Yuriy Borisov, aufgrund seines aufmerksamen, sich an allerhand Details erfreuendem Blick, der sein Publikum in völlig entlegene Ecken des russischen Nordens führt. Kousmanens Film ist enorm authentisch, angreifbar und offenherzig. An der Stimmung einer Reise durch Tag und Nacht, voller bezaubernder, aber auch entbehrlicher Begegnungen, lässt das Rail- und Buddymovie all jene teilhaben, die Russland nicht mit Haut und Haaren auf die Schwarze Liste setzen wollen und durchaus im Stande sind, zu differenzieren. Beeindruckend, schrullig und auf kreative Weise liebenswert ist dieses Land, und irgendwie fließen gerade dort  – wie überall auf der Welt – Kulturen, Lebensweisen und Weltbilder stetig ineinander.

Abteil Nr. 6

Small Engine Repair

WOZU HAT MAN FREUNDE?

7,5/10


smallenginerepair© 2021 Vertical Entertainment


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: JOHN POLLONO, NACH SEINEM THEATERSTÜCK

CAST: JOHN POLLONO, JON BERNTHAL, SHEA WIGHAM, SPENCER HOUSE, JORDANA SPIRO, CIARA BRAVO, JOSH HELMAN U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Nicht alle Bühnenstücke eignen sich zur Verfilmung fürs Kino. Dieses hier schon. Womit also kein Grund besteht, Small Engine Repair unter dem Radar fliegen zu lassen. Das Theaterstück von John Pollono, der in vorliegendem Film auch Regie geführt und die Hauptrolle übernommen hat, entwickelt sich so unerwartet, dass man lange Zeit eigentlich nicht weiß, womit man es zu tun hat. Mit einem gediegenen Melodram rund um Freunde und die Zeit, die an diesem sozialen Gefüge nagt? Oder mit einem sich langsam anbahnenden Thriller, dessen Ursprung lange im Verborgenen liegt und in so manchen Dialogzeilen, ohne dass es so recht bewusst wird, bereits vorweggenommen werden kann. Zu viel über Small Engine Repair zu verraten, kann leicht passieren und wäre auch zu schade. Dieser kleine, hemdsärmelige Film kommt durch die Hintertür an den Schauplatz einer schmucken Werkstatt und füllt die mit dem Duft von Schmieröl und halbdurch gebratenen Steaks durchzogenen vier Wände mit topaktueller Relevanz.

Für dieses besondere Werk konnte Pollono zwei durchaus namhafte Schauspieler verpflichten: Jon Bernthal, der bärig-sympathische Kumpeltyp auch fürs Grobe und vielleicht nicht ganz so Legale – und Shea Wigham, betont abgemagert und blass, stets mit Mütze und nerdigem Knowhow. Beide geben jahrelange Freunde von Frank Romanowksi (John Pollono), der Schwierigkeiten hat, seine Impulse unter Kontrolle zu behalten. Da kann es schon mal passieren, dass die Hand ausrutscht – und sich nicht mehr stoppen lässt. Gewalt ist sein Problem, und das führt dazu, dass der Freundeskreis zerbricht – bis Jahre später all die damals Vergraulten zu einem Grill- und Männerabend in Franks Werkstatt gerufen werden, um Vergangenes auszusprechen und sich wieder zu versöhnen. Das tun sie dann auch, es wird umarmt, gescherzt, Anekdoten aus den letzten Jahren preisgegeben, Bier getrunken und sogar Gras geraucht, das ein Kerl vorbeibringt, der seltsam distanziert, ja gar arrogant wirkt, der sich aber dazu überreden lässt, bei dieser kleinen Party auch sonst so mitzumischen. Mit diesem Kerl hat Frank aber etwas vor. Und genau dafür braucht er seine Freunde.

Es gibt Garagenbands, und es gibt Garagenfilme. Dieser ist einer davon. Ein Film für kleine Bühnen. Doch mehr braucht man oft nicht. Pollono statuiert mit seinem unter Anspannung sozialisierenden Männerdrama ein Exempel für Verantwortung und Achtsamkeit. Wie weit, lässt er auch fragen, geht das Einstehen für den anderen, wenn der andere ein Freund ist, der den Rückhalt entsprechend verdient? Es wird Abend, dann wird es Nacht rund um diese Werkstatt, das Neonlicht taucht den Verschlag in ein graugrünes Versuchslabor aus Wut, Sorge und Vergeltungsdrang. Irgendetwas ist hier im Argen, und wie Pollono dieses Arge aus dem bemüht versöhnlichen Beisammensein herauskitzelt, bleibt unvorhersehbar und nicht minder verblüffend. Die Wendung mag brillant sein, kann aber auch für andere vielleicht ein bisschen zu aufgesetzt wirken, zu gewollt globale Probleme erörternd, die auf diese Art hier vielleicht gar nichts zu suchen hätten, weil es die derbe Schulterklopfromantik gestandener Typen konterkariert. Doch genau das ist das Irre an dieser so schmerzvollen wie improvisierten Geschichte, die so plötzlich über einen lauen Herbstabend hereinbricht wie ein frühes Wintergewitter.

Small Engine Repair

Rim of the World

INDEPENDENCE DAY FÜRS SOMMERCAMP

5,5/10


rimoftheworld© 2019 Netflix


LAND / JAHR: USA 2019

REGIE: MCG

CAST: JACK GORE, MIYA CECH, BENJAMIN FLORES JR., ALESSIO SCALZOTTO, ANDREW BACHELOR, ANNABETH GISH U. A.

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Die Achtziger ließen mit den Fünf Freunden, TKKG oder den 3 Fragezeichen eine Welle eingeschworener Cliquen aus Mut, akzeptiertem Anderssein und Zusammenhalt in die lernfreien Nachmittage von Volksschülern und Unterstuflern schwappen. Das Kino ist auf dieser Welle ebenfalls mitgeritten, zu sehen in Die Goonies oder Stand by Me. Das mit Hitchcock als Testimonial veredelte Detektivtrio hatte da am meisten den Drall zum Phantastischen, obwohl nach den immer gleichen, bewährten und zeitlosen Lösungsparadigmen für scheinbar paranormale Phänomene Justus Jonas, Peter Shaw und Bob Andrews am Ende des Tages stets feststellen mussten, dass alles in diesem Universum logisch erklärbar bleibt. Ein bisschen mehr über den Tellerrand des wissenschaftlich Erfassten zu blicken, hätte der Reihe nicht geschadet. Aber gut, dafür gibt’s eben Stranger Things – oder den auf Netflix erschienenen Independence Day für Halbwüchsige: Rim of the World.

Auch hier sind vorab drei, später dann vier Freunde fest davon überzeugt, die Welt retten zu können. Der Weg dorthin führt aber über eine sozialkompetente Ebene, die sich im Sommercamp des Stanislaus National Forest in Kalifornien nur schwer erarbeiten lässt. Keine bzw. keiner der späteren Junghelden ist schließlich wirklich freiwillig hier. Die einen zur Not, die anderen, weil es ihnen dann vielleicht besser geht, wenn sie unter Leute kommen. Da wähnt man sich als Zuseher noch in einer recht unmotivierten Teenieklamotte mit schräg aufgelegten Gruppenleitern, die sich bis zur Peinlichkeitsgrenze verstockten Präpubertären auf erniedrigende Weise anbiedern. Doch dieser Fremdschämfaktor vergeht recht rasch, denn es passiert, was bereits in Independence Day passiert ist: Die Welt sieht sich einer Alien-Invasion gegenüber, und ja, natürlich bevorzugen diese den nordamerikanischen Kontinent. Sie kommen mit Raumschiffen und ballern unsere Zivilisation in Grund und Boden – zum Glück können die nunmehr vier grundverschiedenen Charaktere, die sich logischerweise zusammenraufen müssen, untertauchen, aber nicht, ohne vorher eine Raumkapsel vor den Latz geknallt zu bekommen, die nicht nur eine Astronautin, sondern auch ein recht lästiges Alien mit sich führt. Erstere wird nicht überleben, übergibt den Kids aber einen Schlüssel, den sie unbedingt von A nach B bringen müssen. Wohl klar, was die Next Generation tun wird, auch wenn es immer wieder danach aussieht, als wäre das eine Mission Impossible.

Mit dieser Franchise hat Regisseur McG allerdings nichts zu tun, wohl eher mit den Charlies Angels, dem Team aus Lucy Liu, Drew Barrymore und Cameron Diaz. Filme, die genauso wenig prägnant in Erinnerung bleiben wie seine spätere Komödie Das gibt Ärger oder 3 Days to Kill. McG inszeniert Filme, die wie Fastfood schmecken – weder Fisch noch Fleisch, aber ganz ok. Nährwert gibt’s darin keinen. Den finden wir bei Rim of the World auch nicht. Wenn man aber will, dann immerhin den Willen zur Reminiszenz eines eingangs erwähnten Hypes, der schon Jahrzehnte zurückliegt und wieder in Mode kommt. Dabei bekommen die vier Kids natürlich ihr Portiönchen an biographischer Wegzehrung mit auf den Weg, aber gerade nur so viel, damit nicht der Eindruck entsteht, sich ernsthaft damit beschäftigen zu wollen. McGs Invasions-Abenteuer braucht zur Gestaltung seiner Filmfassade nur ein bisschen davon – bei der Ausgestaltung des Monsters hätte es jedoch ein bisschen mehr sein können. Darüber mal hinweggesehen: Rim of the World ist solide Teenie-Fantasy mit dem Know-how, den kindlichen Trotz aufmüpfiger Pennäler für sich zu nutzen. Damit, so scheint es, lässt sich jedes Alpha-Alien einschüchtern.

Rim of the World

Pleasure

ALICE IM PORNOLAND

5/10


pleasure© 2022 Plattform Produktion


LAND / JAHR: SCHWEDEN, NIEDERLANDE, FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: NINJA THYBERG

CAST: SOFIA KAPPEL, REVIKA REUSTLE, EVELYN CLAIRE, CHRIS COCK, DANA DEARMOND, KENDRA SPADE, MARK SPIEGLER U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Viele machen es, und kaum einer spricht darüber: Pornos schauen. Denn die Libido lässt sich schwer einsperren. Und Sex, wann immer Mann will, kann Mann schließlich nicht einfordern. Das war vielleicht in früheren Zeiten so, als Frauen den ehelichen Pflichten nachkommen mussten, was wiederum noch nicht so lange her ist. Die beste Alternative: Pornos eben. Mann weiß, wie Mann sich helfen muss – also gibt’s dafür eine Industrie, die Kohle scheffelt bis zum Abwinken. Ein Patriarchat ist das Ganze, viel mehr noch als das Model-Business. Zwischen beiden kann es durchaus zu Überlappungen kommen – je nachdem, wofür das eine oder andere Model gebucht werden will. Denn die Freiheit, zu entscheiden, was man wo und mit wem für Geld macht, ist in dieser Branche oberstes Gebot. Eine Art Persilschein, den die schwedische Regisseurin Ninja Thyberg für ihr Publikum klar verständlich an den Bildrand heften möchte.

Doch wer sind diese Kandidatinnen, die glauben, frei entscheiden zu können, was sie zeigen oder tun möchten? Junge Mädchen wie Linnéa, die sich den Künstlernamen Bella Cherry gibt und von weit her aus Schweden nach Amerika reist, ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, um die Standfestigkeit amerikanischer Penisse zu überprüfen und dabei träumt, mit inszeniertem Sex ganz groß rauszukommen. Jede wie sie will, könnte ich meinen, es ist ja schließlich eine Sache der Freiheit – und natürlich lässt sich als 19jähriges Mädchen mit null Erfahrung in diesem Metier die ganze Sache realistisch sehen. Linnéa geht’s vermutlich so wie vielen anderen jungen Frauen mit gefälligem Äußeren, die als Model oder Schauspielerinnen Karriere machen wollen. Das Prinzessinnenoutfit liegt bereits parat, man muss nur die Treppen hoch und dabei nicht den Schuh verlieren, den der Prinz vielleicht vorbeibringt, doch so genau lässt sich das nicht prognostizieren. Heidi Klum hat daraus eine ambivalente Reality-Show gemacht, in der Mädchen vorgeführt und abgewählt werden, wenn sie nicht tough genug sind, Dinge zu tun, die unter ihrer Würde sind. Linnéa versucht es trotzdem. Weiß natürlich nicht, worauf sie sich einlässt, weiß aber, dass nur die harten Sachen wirklich zum Ziel führen. Und sei es, dass es Freundschaften kostet, die eigentlich mehr wert sein sollten als jeder Facial Cumshot.

Obwohl sich alles um Sex dreht, prickelt in Thybergs Film überhaupt nichts. Sex ist hier Technik und Schauspiel, als fixe Zeiteinheit zwischen Vertragsunterzeichnung und Vaginalspülung. Gut, dieser Umstand hinter den Kulissen feuchter Träume war zu erwarten. Dass hier manch ein Boy den besten Freund nicht hochkriegt, ebenso. Die Girls haben genauso wenig Freude dran. Schauspielerin Sofia Kappel lässt als Bella nicht nur einmal klar heraushängen, dass Wohlfühlen irgendwas anderes ist, nur nicht das. Nun, die Vorstellung von etwas und die dazugehörige Realität sind natürlich zwei Paar Schuhe. Das ist in jeder anderen Showbranche genauso. In diesem Business ist die Frau allerdings noch viel mehr ein Spielzeug im Gegensatz zum projektbeteiligten Akteur, denn der ist immer noch Vertreter eines dominanten Geschlechts, welches die Macht hat, die Weiblichkeit zu unterdrücken. Das liegt bei jedem Take unangenehm in der Luft, obwohl Pleasure weit davon entfernt ist, Männer als Monster hinzustellen. Nach Thyberg sind dies allesamt Profis, mit Respekt vor ihren Darstellerinnen und mit geradezu seelsorgenden Empathie. Thyberg bleibt da ebenfalls respektvoll und lässt den indirekt abgebildeten Sex auch nie zum Selbstzweck verkommen.

Dadurch, dass Pleasure aber im Grunde aber kaum Partei bezieht und auch sonst nichts Neues vom Adult-Set berichtet, bleibt das Karrieredrama überraschend flach. Es ist ein abturnendes Lustwandeln zwischen den Pornosparten, natürlich probiert Bella vieles aus, und manches wie Hardcore geht gar nicht. Dem Voyeur wird dabei die Tür vor der Nase zugeknallt, und jenen, die die xte Staffel von Germanys Next Top Model längst satthaben, könnten sich wundern, zumindest ansatzweise wieder dort gelandet zu sein. Nicht auszudenken, was der Österreicher Ulrich Seidl aus dem Stoff gemacht hätte. Doch da hält schon sein ungeschönter Blick Models für mehrere Jahrzehnte vor. Pleasure ist vom Tabu zu sehr abgelenkt, greift den eigentlichen Konflikt, den der ganze Film eigentlich zum Thema haben sollte, erst viel zu spät auf und weiß nicht, ob es dokumentieren oder dramatisieren soll. Ein eigentümlicher Hybrid also, so lustlos wie der Akt vor der Kamera.

Pleasure