Wie im echten Leben (2021)

WISCH UPON A STAR

7,5/10


wieimechtenleben© 2022 Filmladen


LAND / JAHR: FRANKREICH 2022

REGIE: EMMANUEL CARRÈRE

BUCH: EMMANUEL CARRÈRE, HÉLÈNE DEVYNCK

CAST: JULIETTE BINOCHE, HÉLÈNE LAMBERT, LÉA CARNE, ÉMILY MADELEINE, PATRICIA PRIEUR, ÉVELYNE PORÉE, DIDIER DUPIN, LOUISE POCIECKA U. A.

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Was zeichnet eigentlich den westlichen Wohlstand aus? Nein, nicht in erster Linie das Geld, denn das haben mittlerweile nur mehr die Privilegierten und Mächtigen. Es ist die Hygiene. So ein Standard will was heißen. Einmal nicht geputzt, versiffen öffentliche Sanitäranlagen im Eiltempo, in Großraumbüros mobilisiert sich der Lurch zwischen den Kabeln und Steckerleisten zur großen Revolte. Im Restaurant kommt man nicht mehr vom Boden weg, denn da klebt das verschüttete Cola von vorgestern. Die großen Schritte Richtung Zukunft können nicht begangen werden, wenn der Dreck die Behaglichkeit außen vorlässt, die das Image des Westens etabliert. Und die, die dafür verantwortlich sind – ein großer Teil der kritischen Infrastruktur nämlich, denn ohne Hygiene geht gar nichts – müssen ein berufliches Leben im Verborgenen fristen, wie Vampire, die man tunlichst nicht dem Sonnenlicht aussetzt. Sie kommen, wenn alle gegangen sind oder kurz, bevor das Tagesgeschäft wo auch immer wieder losgeht. Dabei ist der Begriff Putzfrau oder Putzmann ohnehin obsolet und abwertend. Wie wäre es mit Raumpflegerinnen und Raumpfleger? Schon besser.

Eine zeitgemäßere Bezeichnung des Berufes bedeutet aber nicht, dass die Arbeitsumstände auf adäquate Weise ebenfalls optimiert wurden – ganz und gar nicht. Um diesen Umständen auf den Grund zu gehen und einen Blick hinter die Kulissen frisch gemachter Betten, duftender Toiletten und glänzender Böden zu wagen, gibt sich Bestseller-Autorin und Investigativ-Journalistin Marianne (sehr authentisch: Juliette Binoche) als Jobsuchende aus, die mit Handkuss jene freie Stelle annimmt, für die sie zwar heillos überqualifiziert scheint, die aber Zähigkeit erfordert. Sie wird Teil einer Gruppe von gerade mal über die Runden kommenden Arbeiterinnen, die für einen Hungerlohn tagtäglich bis an ihre Grenzen gehen. Klar – mit dem Schmutz muss man mal auf du und du sein, sonst wird das nichts. Doch die gemeinsame Anstrengung schweißt zusammen. Aus dem Team werden Freundinnen, aus der entbehrungsreichen Schufterei mitunter die Challenge, in Rekordzeit alles fertigzubekommen. Letztendlich bleibt es aber nur eine Frage der Zeit, bis Mariannes wahre Identität ans Licht kommt – und das für eigene Zwecke erlangte Vertrauen auf dem Prüfstand steht.

Will man dem Alltag von RaumpflegerInnen folgen, tun’s meistens Journaldokus wie Am Schauplatz. Für einen Spielfilm, der genauso wenig schönt, der keine Lust hat, irgendwem zu schmeicheln und keine Scheu davor hat, sich bereitwillig dem Leben und Leiden einer um ihre Anerkennung gebrachten Branche zu nähern, ist die Dokumentation durchgetakteter Arbeitstage nur das Fundament für ein explizites Drama um unerbrachte Wertschätzung für sogenannte niedere Arbeiten, die allerdings getan werden müssen, um das System am Laufen zu halten. Autor und Filmemacher Emmanuel Carrère ist wohl der Romancier unter den Sozialfilmern – Ken Loach oder die Brüder Dardenne sind zwar auf ihre ernüchternde und nüchterne Art unnachahmlich und präzise, für das große zwischenmenschliche Drama findet Carrère noch das bisschen mehr an Emotionalität und Eleganz, ohne dabei die Realität aus den Augen zu verlieren. Diesen unsichtbaren Engeln setzt dieser ein kleines, rechtschaffenes und unpathetisches Denkmal jenseits vom Sozialporno eines Ulrich Seidl. Am Ende aber ist die Diskrepanz zwischen den Gesellschaftsschichten unüberbrückbar, so sehr man sich auch eine alles verbindende Harmonie erhofft, welche die Protagonistinnen auf Augenhöhe wieder zueinander führt.

Wie im echten Leben (2021)

7 Gefangene

MIT FAUSTRECHT ZUM TRAUMJOB

8/10


7Gefangene© 2021Aline Arruda/Netflix


LAND / JAHR: BRASILIEN 2021

REGIE: ALEXANDRE MORATTO

CAST: CHRISTIAN MALHEIROS, RODRIGO SANTORO, JOSIAS DUARTE, VITOR JULIAN, LUCAS ORANMIAN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Wie seht ihr das? Arbeiten, um zu leben? Oder leben, um zu arbeiten? Ich wähle ersteres, obwohl der hier verwendete Begriff von Leben in unseren Breiten ganz anders aufzufassen ist als zum Beispiel in Afrika oder Südamerika. Dort ist egal, wie man es angeht, es kommt immer aufs dasselbe raus. Nehmen wir mal Brasilien unter Bolsonaro. Dort ist Arbeit eine Gewalt, die über Leben und Tod entscheidet. Vom Leben selbst, von einem guten Leben wie wir es kennen, ist keine Spur zu sehen. Einen solchen ernüchternden Blick auf die Sklaverei des 21. Jahrhunderts und ihre perfiden Mechanismen gewährt sozialpolitisch interessierten Zusehern die heuer wohl größte Überraschung auf Netflix: 7 Gefangene von Alexandre Moratto, der seine Premiere bei den diesjährigen Filmfestspielen in Venedig feierte.

Der südamerikanische Film schafft es auf Netflix immer wieder, wahre Perlen zwischen dem üblichen Einheitsbrei zu verstecken. Man muss die Augen nur offenhalten, dann gibt’s Erlebnisse jenseits des Mainstreams wie Nobody Knows I’m Here oder Tragic Jungle, die auch jede Menge Lokal- und Zeitkolorit mitbringen. 7 Gefangene, ein schonungsloser Sozialthriller, sieht sich auf Augenhöhe mit den nicht weniger düsteren Dramen City of God oder Tropa de Elite, nur bewegt sich Morattos Film in einem Dunstkreis, der auch in Europa zu finden sein kann, dem menschenrechtlichen Radar aber weitgehend verborgen bleibt. In solche, von Leuteschindern ausstreckten Fänge gerät der kluge und motivierte Mateus, als er mit drei Freunden nach Sao Paolo reist, um dort auf einem Schrottplatz seine Arbeit zu beginnen. Dort lässt sich gutes Geld verdienen – meint er. Bis allen langsam sickert, dass Betriebschef Luca (intensiv und ambivalent dargeboten von Rodrigo Santoro) nichts anders im Sinn hat als seine Gefangenen zur Akkordarbeit zu zwingen, ohne auch nur ein Real dafür springen zu lassen. Aufbegehren bringt alles nichts, denn die, die das Sagen haben, sind obendrein bewaffnet. Was bleibt einem wie Mateus also anderes übrig, als eine ganz andere Taktik anzuwenden, um in einer brutalen Welt wie dieser dennoch erfolgreich zu sein.

Ramin Bahrani, der mit dem ebenfalls auf Netflix erschienenen Der weiße Tiger eine ähnliche, aber parabelhaftere Geschichte erzählt, hat – niemanden wundert’s – 7 Gefangene mitproduziert. Es ist ein Film, der von Anfang an harte gesellschaftliche oder moralische Kontraste vermeidet. In diesem Brasilien, zwischen glänzenden Hochhausfassaden, Korruption und Tequila, herrscht wirtschaftliche Anarchie. The Purge für den Arbeitsmarkt: Menschenhandel, Missbrauch, Gewalt und der Sieg des Gewiefteren, der sich auf den Schultern der anderen aus der Stagnation kämpft und das moralische Bewusstsein auf das Machbare reduziert. Dieses Streben gestaltet sich als Kampf in einer Arena jenseits von Kollektivvertrag und sozialem Arbeitsrecht. Hier sagt an, wer den Dreh raushat. Die eigene Moral funkt hier dazwischen und zeigt sich so lange entrüstet, bis die Sympathie für den Gewinner diesen zur Identifikationsfigur macht, auch wenn die Welt mit unseren Idealen nicht mehr zu retten ist. Alternativen gibt es aber dennoch – und die stellt Moratto, ohne sie zu beurteilen, auf packende und atemlose Weise zur Auswahl.

7 Gefangene