DIE RECHENSCHAFT DER ELTERN
6/10
© 2025 Alexander Griesser / Walker + Worm Film; DCM
LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2025
REGIE / DREHBUCH: FRÉDÈRIC HAMBALEK
CAST: JULIA JENTSCH, FELIX KRAMER, LEANI GEISELER, MEHMET ATEŞÇI, MORITZ TREUENFELS, SISSY HÖFFERER, VICTORIA MAYER U. A.
LÄNGE: 1 STD 26 MIN
Gewalt ist auch keine Lösung – und niemals gut. Sie führt zu Gegengewalt, und ist auch als solche zu bezeichnen, wenn sie nur verbal passiert. So gesehen ist es Marielle gewesen, die angefangen hat und ihre Freundin als Schlampe bezeichnet. Daraufhin setzt es eine Ohrfeige, die nachhaltiger nicht sein kann. Das dreizehnjährige Mädchen kann plötzlich alles sehen und hören, was ihre Eltern tun und sagen. Niemand will das, genauso wenig Marielle, die nicht weiß, wie ihr geschieht. Da es in ihrer Familie anscheinend Usus ist, Probleme relativ zeitnah anzusprechen, werden auch Mama und Papa davon unterrichtet – die sich prompt fremdschämen müssen, weil sie an genau jenem Tag beide Dinge getan haben, auf die sie nicht stolz sind. Wäre an sich kein Problem, Geheimnisse gehören zum Miteinander dazu, es sei denn sie verletzten das Vertrauen zueinander, denn dann ist der Spaß vorbei. Bei Julia Jentsch und Felix Kramer steht dieses Werte-Empfinden an der Kippe, vorallem bei Jentsch, die verbalen Sex in der Rauchpause als etwas erachtet, was man unter den Tisch fallen lassen könnte. Würde Marielle nicht alles wissen. Um schon bald dieses Wissen gegen ihre Eltern anzuwenden. Um sie zu zwingen, das Richtige zu tun.
Was Marielle weiß (und sie weiß vieles) will Satire sein, zieht dabei aber keine klaren, scharfen Konturen. Als Mysterydrama lässt sich Frédéric Hambaleks zweite Regiearbeit wohl am ehesten betrachten, als intellektuelle, subversive Uminterpretation des amerikanischen Geschlechterrollen-Leichtgewichts Was Frauen wollen. Was Eltern tatsächlich wollen, darüber ist Marielle so ziemlich erschüttert. Der Kleinen, die es faustdick hinter den Ohren hat, wird nur allzu spät bewusst, dass sie einen familiären Kleinkrieg angezettelt hat. Eine Krise, die individuelle Bedürfnisse hervorgräbt, die in einer Gemeinschaft nicht gelebt werden können, die aber für den Einzelnen, der ungebunden und frei sein will, anwendbar scheinen. Da krachen Lebensentwürfe und Begehrlichkeiten aufeinander, ähnlich wie in Babygirl mit Nicole Kidman. Der offene Dialog, fußend auf Vertrauen, wird dabei zum No-Go. Hambalek schafft eine unbequeme Stimmung, die sich mit Leichtigkeit nicht ganz so gut auskennt. Ein Wohlfühlfilm ist das Ganze nicht, das Konzept eines Rollentauschs, wenn die Eltern in einer Lage stecken, die normalerweise der Nachwuchs innehat, schafft schmerzliche Umstände, in denen gesagt wird, was einem später sehr wohl leidtun wird.
Was Marielle weiß ist somit eher eine über das Familienverhältnis hinausgehende Experimentierstudie über die Wahl der Worte, über deren Wirkung, die Faustschlägen gleichkommt; über den Anstand und die Kunst, das Richtige zu sagen. Da sich in gesellschaftlichen Zeiten wie diesen der oder die Einzelne vermehrt um sich dreht, und gegenseitige Kompromisse, die das Zusammenleben erst möglich machen, als Einschränkung des Individualismus angesehen werden, führt das reuelose Stillen von Bedürfnissen in Was Marielle weiß zu einer beklemmenden Eigendynamik, deren Ausmaß nicht allen bewusst wird. Jentsch und Kramer sowie die präzise aufspielende Jungschauspielerin Leanie Geiseler wagen den Sprung ins kalte Wasser, in einer Versuchsanordnung, die einiges auf den Kopf stellt, den Kopf aber nicht frei bekommt von Kränkung und Unzufriedenheit. Es bleibt das Gefühl eines verkomplizierten Konflikts, wobei es weniger um die Wahrheit geht als darum, wie man mit der Wahrheit, die man selber weiß und der andere nicht, umgeht. Das Phantastische in Hambaleks Film bleibt angenehm unerklärt und dient als Metapher in einem pragmatischen, wenig wärmenden Film, der letztlich alles in zynischem Licht erscheinen lässt, als wäre die glückliche Familie längst ausgestorben.
