Ein Mann namens Otto (2022)

AUCH GRANTLER HABEN NACHBARN

6/10


Tom Hanks (Finalized);Manuel Garcia Rulfo (Finalized);Cameron Britton (Finalized);Juanita Jennings  (Finalized);Mariana Trevino (Finalized)© 2022 CTMG, Inc. All rights reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: MARC FORSTER

BUCH: DAVID MAGEE, NACH DEM ROMAN VON FREDRIK BACKMAN

CAST: TOM HANKS, MARIANA TREVIÑO, MANUEL GARCIA-RULFO, TRUMAN HANKS, RACHEL KELLER, CAMERON BRITTON, JUANITA JENNINGS, PETER LAWSON JONES, MACK BAYDA, MIKE BIRBIGLIA U. A.

LÄNGE: 2 STD 7 MIN


Den Amerikanern, die ungern Filme mit Untertiteln sehen (denn englische Synchronisationen gibt es keine – das würde sich auch kaum rentieren), darf man Geschichten wie diese, die von einem Griesgram handeln, der zum nächstenliebenden Menschen wird, nicht vorenthalten. Dafür gibt’s eine einfache, aber kostspielige Methode: Man inszeniert den Film komplett neu, und zwar auf amerikanischem Boden und in englischer Sprache. Und um wirklich genug Leute ins Kino zu locken, setzt man ganz vorne einen bewährten Publikumsliebling hin, der schließlich wirklich etwas kann und seine Sache auch gut macht. Derart amerikanisierte Versionen diverser originärer Klassiker gibt es eine Menge. Zum Beispiel Michael Hanekes Funny Games. Oder Drei Männer und ein Baby. Auch Ziemlich beste Freunde wurde zwar nicht „geschwedet“ (siehe Abgedreht – Be Kind Rewind), sondern für’s amerikanische Publikum neu aufgelegt. Meist sind diese Sprachkopien nicht viel besser als das ohnehin schon vollendete Original. Aber das Kino dankt, und das sowieso viel kinoaffinere US-Publikum dankt es mit stolzen Besucherzahlen.

Ein Mann namens Ove, nach dem gleichnamigen Roman von Fredrik Backman und von Hannes Holm 2015 auf die Leinwand gebracht, war darauffolgendes Jahr für den Oscar als bester ausländischer Film nominiert. Zweifelsohne hat diese Geschichte rund um Menschlichkeit und Nächstenliebe seinen Platz im europäischen Filmolymp verdient. Rolf Lassgård gibt der anfangs miesgelaunten Figur Tiefe und eine nachvollziehbare Biografie mit auf den Weg. Er lässt sie Sehnsucht, Trauer und Verlustschmerz verspüren. Er lässt sie darauffolgend aufblühen, hoffen und einen Sinn im Leben sehen. Dank fürsorglicher und offenherziger Nachbarn, die sofort erkennen, dass dieser unhöfliche Prinzipienreiter sehr wohl noch ein großes Herz hat – im wahrsten Sinne des Wortes.

In der Neuverfilmung quält sich Tom Hanks als hagerer, ergrauter und knorriger Misanthrop mit der Sinnlosigkeit seines Restlebens herum und will dem ein Ende setzen. Alles beginnt mit dem Kauf von eineinhalb Metern Seil, was gleich zu Diskussionen an der Baumarktkassa führt. Mit dieser Szene führt der Star mit der Qualitätsgarantie eine Figur ein, die sich vielleicht nur äußerlich von jener des Rolf Lassgård unterscheidet. Bei Tom Hanks wissen wir aber auch: Der Mann kann kein schlechter Mensch sein, weil Hanks meist zu den Guten gehört (mit einigen wenigen latenten Ausnahmen, wie in The Circle oder Elvis). Daher bemüht er sich manchmal zu offensichtlich – und das ist auch fürs Publikum nicht zu übersehen – seine Mundwinkel tunlichst der Schwerkraft auszusetzen, denn so missmutig dreinzublicken ist so gar nicht sein Stil. Alles in allem aber gibt er in den Momenten, wenn er sein Umfeld anpöbelt oder einsam daheim aus dem Fenster blickt, wieder mal Lichtblicke seines künstlerischen Schaffens wider. Auch der Rundum-Cast – allen voran Mariana Treviño als die gutherzige Nachbarin Marisol – füllt seine Rollen bis in jede Charakter-Ecke aus. Ja, die Verfilmung von Marc Forster fühlt sich gefällig und geschmeidig an. Ist aber für Kinogeher, die gerne auch Europäisches mit Untertiteln wertschätzen, kein Muss mehr.

Ein Mann namens Otto ist aber nicht besser als die Originalverfilmung. Und prinzipiell auch nicht schlechter. Doch der schwedische Streifen war zuerst da. Forsters Remake ist also weder besser noch schlechter, aber auch nicht anders. Denn eine Geschichte wie diese kann man auch nicht wirklich anders interpretieren. Theaterstücke, vor allem Klassiker, kann man in die Neuzeit verfrachten, man kann sie mit den unterschiedlichsten Requisiten bestücken und ihnen dank der Möglichkeit variabler Bühnengestaltung unterschiedliche Handschriften verleihen. Bei Ein Mann namens Otto wüsste ich nicht, wo man ansetzen könnte. Also spricht Otto die gleiche Sprache wie Ove, das Szenario vermittelt die gleichen Emotionen, die gleiche Atmosphäre, es ist tatsächlich eine amerikanisierte Kopie. Wäre Forsters Arbeit die erste Verfilmung des Romans, er wäre wahrlich beachtenswert gewesen. So aber hatten wir das alles schon, und ja, es ist solide und gut gespielt, aber als Remake, das eigenständig sein will, relativ uninspiriert. Was nicht heißen soll, dass Amerika den Film nicht dankend annehmen wird. Ich hingegen hab‘ ihn bereits gekannt.

Ein Mann namens Otto (2022)

Rache auf Texanisch (2022)

VERGELTUNG AUS ZWEITER HAND

5,5/10


vengeance© 2022 Focus Features, LLC.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: B. J. NOVAK

CAST: B. J. NOVAK, BOYD HOLBROOK, ASHTON KUTCHER, DOVE CAMERON, ISABELLA AMARA, J. SMITH-CAMERON, LIO TIPTON, ISSA RAE, JOHN MAYER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Kein anderes Gefühl treibt den Menschen so sehr um wie die Rache. Fast jeder Thriller, jedes zweite Drama – immer wieder geht es darum, gleiches mit gleichem zu vergelten; das Bibelwort Auge um Auge, Zahn um Zahn so richtig, mit Pauken und Trompeten, auszuleben, ohne Rücksicht auf Konsequenzen und Verluste. Jemanden bezahlen zu lassen für erlittene Schmach – daran kann man sich schon ergötzen, das geht bis ins Herz. Vor allem im Action-Genre werden die Bösen am Ende ordentlich zur Kassa gebeten, nachdem wir sehen durften, was sie Unverzeihliches angerichtet haben. Man kann Rache aber auch aus zweiter Hand üben. Man braucht dabei nur lang genug im Dunstkreis begangener Verbrechen verweilen, um sich über so manches, was schiefläuft, im Klaren zu werden, ohne dass man unmittelbar daran beteiligt war. Beeinflussung nennt sich sowas. Oder Empathie für ein unbekanntes Opfer, das für mehr steht als nur für private Befindlichkeiten.

Um in Medias Res zu gehen, muss Macho und Frauenheld Ben an den Ort des Geschehens reisen – und zwar nach Texas. Es geht auf das Begräbnis einer flüchtigen sexuellen Bekanntschaft namens Abby, die an einer Überdosis starb, die aber ihre ganze Familie wissen hat lassen, dass das Verhältnis mit Ben mehr war als nur ein One-Night-Stand. Sowas wie eine richtige Beziehung. Ben will die trauernde Familie und auch ihren Bruder Ty (Boyd Holbrook) nicht vor den Kopf stoßen. So viel Nächstenliebe muss sein, auch wenn das mit der Partnerschaft nicht ganz so stimmt, aber das muss ja keiner erfahren. Die Fassade wird gewahrt, die Sache wäre erledigt, wäre Ty, nicht gerade die hellste Kerze auf der Torte, fest davon überzeugt, dass Abbys Ableben nicht ganz freiwillig passiert ist. Ben, bekannter Podcaster dort, wo er herkommt, wittert nach einem kreativen Leerlauf endlich wieder die große Chance, einen Knüller zu landen. Mit eine True Crime-Story in Echtzeit, mit ganz viel Lokalkolorit und Suspense. Aus dem neuen Projekt wird sehr schnell mehr, nämlich der Blick hinter die Kulissen selbstgefälliger Moral und der eigenen falschen Definition von Verantwortung.

Anders als in der Kult-Soap Dallas kommt Texas als ein öder Landstrich daher, auf welchem ab und an Ölförderpumpen stehen und sonst nur kleine Nester inmitten karger Wüstenlandschaft. Texas als Santa Nirgendwo, das „Marchfeld“ Amerikas, nur weniger fruchtbar. Dieses Niemandslandes lässt Comedian und Schauspieler B.J. Novak, den meisten wohl bekannt durch seine Rolle in der US-Version von The Office, zum Schauplatz für eine sprachlich sehr eloquente, aber nicht ganz durchschaubare Tragikomödie werden, die manchmal Anleihen am Thriller-Genre nimmt, ohne einer sein zu wollen. Während der Kriminalfall in der Podcast-Krimiserie Only Murders in the Building den dramaturgischen Kern gibt, um welchen sich die Handlungsfäden der einzelnen Figuren ranken, ist in Rache auf Texanisch der mögliche Mord nur Auslöser für einen Lokalaugenschein quer durch eine Gesellschaft, die sich vieles, das längst im Argen liegt, schöngeredet oder unter den Teppich gekehrt hat. Ein Ort, ein Mikrokosmos, der in Verständnis seiner eigenen Moral stagniert. So gesehen ist Rache auf Texanisch ein kritischer Blick auf das neue Amerika – alles verpackt in einen Podcast-Beitrag der vielen Worte und Gleichnisse. Novak, der sich selbst die Hauptrolle gab, suhlt sich in seiner Selbsterkenntnis und mausert sich durch Interviews mit dem Bürgertum zum besseren Menschen. Das führt dazu, das im Film selbst nicht viel weitergeht, dass sehr viel geschwafelt wird und trotz überzeugenden Schauspiels die schwarze Komödie oder was auch immer der Film sein mag nirgendwo wirklich zupackt. Das ist Kino für Redenschwinger und weise Männer in der Midlife-Crisis, die dem Thema Rache und Gerechtigkeit aber zumindest einen anderen Blickwinkel abringen können als nur den, mit der Tür ins Haus zu fallen und alle niederzumachen. So gesehen hat der Film wieder das gewisse Etwas, andererseits ist der Weg dorthin aber zu selbstgefällig.

Rache auf Texanisch (2022)

Weißes Rauschen

VERHEDDERT IN DER ENDLICHKEIT

6,5/10


weissesrauschen_1© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: NOAH BAUMBACH

BUCH: NOAH BAUMBACH, NACH DEM ROMAN VON DON DE LILLO

CAST: ADAM DRIVER, GRETA GERWIG, DON CHEADLE, RAFFEY CASSIDY, SAM NIVOLA, MAY NIVOLA, JODIE TURNER-SMITH, LARS EIDINGER, ANDRÉ BENJAMIN, BARBARA SUKOWA U. A. 

LÄNGE: 2 STD 16 MIN


Der schlimmste Widersacher von Gevatter Tod ist nicht der abstrakte Umstand des ewigen Lebens. Er ist die fehlende Furcht vor ihm. Wer seine Existenz von Geburt bis Ableben sinnvoll nutzt und es dabei noch schafft, völlig angstfrei dem Ende selbiger entgegenzusehen, den kann der Tod nicht tangieren. Nur weil wir nicht wissen, was hinter diesem Mysterium steht, heißt es nicht, dass wir in Panik geraten müssen. Doch andererseits: Panik, wenn sie in Massen auftritt, ist zumindest eine Möglichkeit, die Angst untereinander aufzuteilen. Oder von anderen, die vielleicht weniger davon besitzen, absorbieren zu lassen. Womit wir beim Phänomen der Massendynamik wären, der Gruppensuggestion. Denn wenn einer gen Himmel blickt und den Stern der Weisen erblickt, erblicken es die anderen womöglich auch. Ähnliches Wunder dürfte jenes von Fatima gewesen sein. In Noah Baumbachs Verfilmung von Don DeLillos Roman Weißes Rauschen ist es eher die Faszination Adolf Hitler. Oder das Ende der Welt. Oder beides, denn so weit liegen der Mann aus Braunau und der Untergang der Zivilisation nicht auseinander. Über Adolf Hitler weiß Baumbachs feiste Filmfigur Jack Gladney (Adam Driver, weit, weit entfernt von Kylo Ren) so einiges, und auch über dessen Mechanismen, um die Massen unter seine Knute zu stellen. Er verbindet das Erscheinen des Diktators mit der Möglichkeit des Einzelnen, in der Masse die eigene Existenzkrise verschwinden zu sehen. In der Gemeinschaft gibt es keine Furcht mehr – entweder so. Oder andersrum.

Andersrum kommt es, als ein Öllaster mit einem Zug kollidiert, der chemische Substanzen führt. Alles explodiert, eine Giftwolke entsteht, und die zieht später übers Land. Solange keine extra Winde wehen, lässt sich der Schaden eingrenzen, doch dieses Ideal hält nicht lange vor. Bald herrscht Ratlosigkeit an allen Orten, sogar in den Medien gibt es unterschiedliche Anweisungen, was man nun, als Otto Normalverbraucher, zu tun hat, um heil aus der Sache herauszukommen.

Die To-Do-Liste kann man drehen und wenden, wie man will. In Don DeLillos verschwurbelter Odyssee nach Angstfreiheit kommt hier, aus der kleinen Existenz, keiner lebend raus. Das klingt jetzt etwas nach Jean Paul Sartre, dessen Existenzialismus eine ähnliche Richtung geht – oder so wie der Titel von Sugermans und Hopkins‘ Biografie über Jim Morrisson, der ja, wahrscheinlich ohne es je gewusst zu haben, zum Club 27 zählt. Im Grunde laufen all diese vielen Details und verqueren Geschehnisse auf einen Sollzustand hinaus: Das Ende des eigenen Ichs leichten Herzens hinnehmen zu können.

Auf diesem Weg aber gibt Weißes Rauschen dem Zuseher allzu viele Hausaufgaben. Vor allem sind es solche, die keiner versteht. Zumindest ich nicht. Deshalb mühe ich mich die erste Dreiviertel Stunde durch ein konfuses Alltagsportrait aus exaltiertem Hitler-Experten, tablettensüchtiger Ehefrau und einigen Patchwork-Kindern, von denen einer so allwissend zu sein scheint wie Sheldon Cooper. Worauf wollen Noah Baumbach und Don DeLillo eigentlich hinaus? Nach ungefähr 30 Minuten wäre auch die Möglichkeit gegeben, den Film einfach abzubrechen und sich Sinnvollerem zuzuwenden, denn zu viele leere Filmmeter scheinen abgespult, ohne ihren Zweck zu enthüllen. Anders als in The Meyerowitz Stories oder Marriage Story, die Baumbach selber verfasst hat und auch sein szenisches Gespür widerspiegeln, scheinen Buchadaptionen, vor allem diese hier, nicht die Stärke des Künstlers zu sein. Autorenfilmer ist nicht gleich literarischer Interpret, so viel scheint klar. Nach dieser halben Stunde aber konzentriert sich der Film auf das Katastrophenszenario, und wenn man da den Absprung verpasst hat, wird man auch bis zum Ende dranbleiben müssen. Dann geht es erst so richtig los, und obwohl Weißes Rauschen bereits 1985 geschrieben wurde, lassen sich vor allem in diesem filmischen Mittelteil so einige Seitenhiebe auf den medialen Umgang mit der Corona-Pandemie entdecken sowie auf das Erstarken einer Querdenker- und Besserwisser-Community. Dies geschieht leider nur am Rande, denn Baumbachs Verfilmung will dann doch wieder ganz etwas anderes, oder auf ganz anderem Wege sein diffuses Ziel erreichen, dass allerdings auch, um es als Hauptthema auszurufen, viel zu wenig fokussiert wird.

Weißes Rauschen ist ein verwirrendes Kunstwerk, liebäugelnd mit dem Farbspektrum der Achtziger und einer obsoleten Konsumgesellschaft, die ausgedient hat. Was das wieder mit dem Tod zu tun hat? Genaues lässt sich nicht herausfinden, und dennoch bleibt hier ein gewisses Staunen übrig, das daher rührt, nicht mehr vorhersagen zu können, was denn nun als nächstes geschieht. Ist das, was wir sehen, nun bedeutungsschwer oder so weit irreführend, dass hinter der Fassade einer kaspernden und wertelosen Gesellschaft nur diese Angst vor dem Tod steht, für die Lars Eidinger, der mittlerweile wie Landsmann Daniel Brühl vermehrt in internationalen Produktionen zu sehen ist, den richtigen Stoff hat.

Vielleicht – und das sogar ziemlich sicher – liest sich Weißes Rauschen besser als es sich ansehen lässt. Doch irgendwie hält dieser Reigen den Betrachter fest, als wäre man unfreiwilliger Teil einer Massenhysterie.

Weißes Rauschen

The Last Shift

DER FLOH IM OHR

6,5/10


thelastshift© 2020 Sony Pictures


LAND / JAHR: USA 2020

BUCH / REGIE: ANDREW COHN

CAST: RICHARD JENKINS, SHANE PAUL MCGHIE, ED O’NEILL, DA’VINE JOY RANDOLPH, ALLISON TOLMAN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


In Nightmare Alley von Guillermo del Toro wurde Richard Jenkins eben erst übers Ohr gehauen. Und zwar so richtig. Mit Gefühlen spielt man nämlich nicht, das ist unterste Schublade. Man setzt aber auch niemanden einen Floh ins Ohr, vor allem dann nicht, wenn dieser wieder zurückspringt und Konsequenzen Tür und Tor öffnet, die so nicht beabsichtigt waren. So eine Eigendynamik lässt sich in dem auf Netflix veröffentlichten (aber nicht produzierten) Independentstreifen The Last Shift beobachten. Und ja, mit Richard Jenkins, diesmal alles andere als der reiche Krösus wie in eingangs erwähntem Film, sondern als einer, der nach 38 Jahren des beruflichen Alltags in einer mehr oder weniger heruntergekommenen Fastfood-Filiale die Schirmkappe an den Nagel hängen will. Ab nach Florida, mit der pflegebedürftigen Mama. Zuvor jedoch muss Stanley, so Jenkins‘ naiv-redselige Figur, seinen Nachfolger einschulen. Der wiederum ist ein junger Afroamerikaner, vorbestraft wegen Denkmalschändung und aus dem Gefängnis entlassen. Jevon ist Familienvater und Freigeist, werden will er allerdings Schriftsteller. Er sieht, wie Stanley schuftet. Für nichts und wieder nichts. Weiß dabei einiges zu Arbeitsrecht und Ausbeutung zu sagen. Der alte Burger-Profi erkennt sich langsam als missbrauchtes Rädchen einer Geldmaschine, die den Arbeitswillen nicht schätzt. Ein Floh im Ohr, wie schon gesagt.

Und Jenkins schluckt als astreiner Loser und knapp am Sozialfall vorbeischrammender Fachidiot die bittere Pille. Manch einer wird dann zum Amokläufer wie Michael Douglas in Falling Down. Andere versuchen, sich auf andere Weise schadlos zu halten. In beiden Fällen merken die Gelegenheitsrebellen wohl kaum, dass sie andere unfreiwillig mitziehen – auch wenn der Drang nach sozialer Gerechtigkeit absolut nachvollziehbar scheint. Emmy-Preisträger Andrew Cohn hat die Ironie eines alltäglichen Schicksals zwischen Frittierfett, stinkenden Toiletten und gut gemeinten Ratschlägen wohlmeinender Mitbürger platziert – dabei liegt dem Autor kein aufbrausender Rundumschlag im Sinn wie ihn vielleicht Ken Loach austeilen würde, denn der äugt mit seinen Fallstudien stets den dunklen Abgrund hinab. The Last Shift erspäht diesen zwar, lässt seine vom Schicksal unbeschenkten Gestalten zu ihrem fragwürdigen Glück doch erstmal lieber feststecken. Es geht weder vor, noch zurück, es geht aber auch nicht weiter abwärts. Cohn schöpft Vertrauen in seine verirrten Idealisten. Belehrt sie lieber, und weist sie an, ihr Weltbild auf die jeweils mögliche Weise geradezurücken. Klar ist der Prozess ein düsterer, unbequemer. Bei Andrew Cohn aber auch einer, der mit leisem, subversivem Humor die ungesunden Schräglagen gelebten Sozialrechts ausmisst und mitunter auch die Ursachen bei jenen sucht, die übervorteilt wurden.

The Last Shift

Auf der Couch in Tunis

POSTREVOLUTIONÄRE BELASTUNGSSTÖRUNGEN

3,5/10


AufDerCouchInTunis© 2020 Filmladen


LAND: TUNESIEN, FRANKREICH 2019

REGIE: MANELE LABIDI

CAST: GOLSHIFTEH FARAHANI, MAJD MASTOURA, AÏCHA BEN MILED, HICHEM YACOUBI U. A. 

LÄNGE: 1 STD 29 MIN


Der arabische Frühling ist lange vorbei, einige Länder haben so manches daraus gemacht, andere hadern immer noch mit dem Krieg. In Tunesien ist die Revolution Teil der Geschichte. Ob sich seitdem viel verändert hat? Missstände gibt es immer noch, aber zumindest als Besucher von jenseits des Mittelmeers Urlaub machen, das konnte man wieder. Oder aus Frankreich wieder in die Heimat zurückkehren, so wie Psychoanalytikerin Selma. Was also tun in Tunis? Eine Praxis eröffnen. Ja genau, eine Praxis für Psychoanalyse. Braucht das denn wer? Daraufhin würde Selma antworten: wer braucht sowas denn nicht? – und macht aus ihrem Vorhaben ernst.

Eine Frau, die sich in einem von Männern dominierten Kultur- und Gesellschaftskreis behauptet – das ist der Stoff zeitgemäßer Filme aus dem arabischen Raum. Letztes Jahr zum Beispiel konnte die saudische Ärztin Maryam in Haifaa Al Mansours Film Die perfekte Kandidatin ihre ganze Entschlusskraft bündeln, um für den Stadtrat zu kandidieren. Der etwas handzahme, aber gut gemeinte Film zog natürlich seine Spannung aus dem Konflikt der Frauen mit der Männerwelt, die, konservativ bis ins Mark, soviel Ambition nur belächeln. Doch im Vergleich zu Auf der Couch in Tunis wirkt Die perfekte Kandidatin geradezu rebellisch.

Im Filmdebüt von Manele Labidi sehen wir die bereits eingangs erwähnte intellektuelle Selma, wie sie ihr für lokale Verhältnisse ungewöhnliches Vorhaben Verwandten und Freunden verklickert. Irgendwann bekommt sie tatsächlich eine ganz gute Patientenkartei zusammen, sowohl Frauen als auch Männer geben sich in der am Dach eines Hauses recht exponierten Praxis die Türklinke in die Hand. Klarerweise stehen bald die Behörden auf ihrer Matte. Und so geht das die ganze Zeit dahin, wobei die streng professionelle Analytikerin, gespielt von Golshifteh Farahani (u a. Tyler Rake: Extraction) in intellektueller Eitelkeit durch Zuhören andere dazu bewegt, endlich mal zu sagen, was in ihren Köpfen herumgeistert.

Das ist gut gemeint, und alle, die hier Selmas Reich frequentieren, sind natürlich mehr oder weniger sympathische und reizend gezeichnete Charaktere, doch setzt sich Auf der Couch in Tunis weder ernsthaft mit dortigen gesellschaftlichen Problemen auseinander noch gewinnt Labadi aus ihrer seichten Komödie, die klarerweise persönlichen Bezug hat (den wir nicht kennen), irgendeine Faszination aus diversen halbherzig verzwickten Umständen. Mit anderen Worten: dieser Ausflug ins postrevolutionäre Nordafrika ist leider nur müßiges Geplauder über Befindlichkeiten, und das ohne rechten Fokus. Könnte aber sein, dass dieser Zustand des Heimkommens nach Jahren aber genau so ein Gefühl vermittelt.

Auf der Couch in Tunis

Kajillionaire

MEINE RABENELTERN, IHRE TOCHTER UND ICH

8,5/10


kajillionaire© 2020 Universal Pictures International GmbH Germany

LAND: USA 2020

DREHBUCH & REGIE: MIRANDA JULY

CAST: EVAN RACHEL WOOD, DEBRA WINGER, RICHARD JENKINS, GINA RODRIGUEZ, MARK IVANIR U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Miranda July ist eine Allroundkünstlerin. Filmemachen ist da nur ein Teilbereich ihrer Tätigkeit. Zugegeben, bislang hatte ich noch kein einziges ihrer Werke gesichtet, obwohl ich natürlich wusste, dass die US-Multimediakünstlerin, die sich in ihren Filmen auch bislang immer selbst besetzt, ziemlich abgehobene, verschrobene Tagträumereien entworfen hat. Wäre längst einen Blick wert gewesen, wie ich finde. Nun – Kaijillionaire, ihre neueste und auch erstmals recht prominent besetzte Arbeit gilt hier endlich mal als Einstand – und ist, ohne zu übertreiben, eine Entdeckung. Und zwar deshalb, weil July so sehr gegen Konventionen und Schablonen inszeniert und kreiert, wie es normalerweise nur das asiatische Kino zuwege bringt.

Für ihre Außenseiterballade hat sie mit Evan Rachel Wood (u. a. Dreizehn, Westworld) wohl einen Volltreffer gelandet. Interessant und gleichsam verblüffend auch, nach langer Zeit und erst nach mehreren Blicken Debra Winger hinter der Fassade einer streunenden Tagediebin hinter wallender grauer Mähne zu entdecken. Gemeinsam mit Richard Jenkins sind die drei eine sagen wir mal obdachlose Familie, die sich in einem leerstehenden Büroraum neben einer Seifenfabrik eingenistet hat und dort so lange bleiben darf, solange sie den dort austretenden Schaum wegputzt. Eine irre Idee zum einen, surreale Bilder zum anderen, wenn die weißrosa Wolken den reizlosen Raum wie durch ein entrücktes Wunder scheinbar aufrüschen. Die Familie also, die wohnt hier, und schlägt sich tagtäglich mit Diebstählen herum – auf der Post, im Supermarkt, eigentlich überall. Tochter Old Dolio, benannt nach einem Obdachlosen, macht da mit, weil sie nichts anderes kennt. Sie kennt aber auch keine Kindheit, keine Zärtlichkeiten, keine liebevollen Worte und keine Identität. Old Dolio, die ist das Werkzeug ihrer Eltern, soziophob, gehemmt und depressiv. Ihren Eltern ist das egal, sie setzen auf Profit, das Töchterchen ist eben mit dabei. Bis bei einer Betrugsnummer am Flughafen die aufgeweckte Melanie, die ihnen zufällig über den Weg läuft, alles ändert. Zumindest fast alles für Old Dolio.

Ich habe selten einen Film über Einsamkeit und Sehnsucht nach Nähe gesehen, der gleichzeitig so sensibel, humorvoll und bezaubernd sein kann. Julys seltsame Figuren kaspern durch ein wirtschaftsorientiertes Amerika aus Industrie, Geld und Shoppingvergnügen und übersehen das Wesentliche. Eine liebevolle Kindheit ist in Zeiten wie diesen aus Ich-AG, Bequemlichkeit und Lebenstraum um jeden Preis nichts Selbstverständliches mehr – und war es auch nie. Wie sehr man als Elternschaft allerdings versagen kann, das hebt July geradezu auf ein neues Level. Die Konsequenz: eine zomboid vor sich hin trottende Evan Rachel Wood, mit Haarvorhang und Grunge-Klamotten. Ihr Weg zur eigenen Identität und zu einem Ja für Zärtlichkeit wird zur erfrischend anderen, urbanen Therapie zwischen sensorischer Integration und Erwachsenwerden. Wood flößt dabei ihrer psychologisch tiefgründigen Figur soviel Wahrhaftigkeit ein, als würde man die Schauspielerin erst neu entdecken. Diese Kunst der Tarnung eines Stars funktioniert ganz ohne Maske, die Performance ist dabei preisverdächtig, auch dank all den anderen recht hingebungsvollen Charakteren, die entweder nicht aus ihrer Haut können oder jemand anderen dazu motivieren, sich selbst zu motivieren. Vielleicht mit einem Tanz. Oder im Zeitraffer-Recap des eigenen Aufwachsens.

Die psychosozialen Parameter einer Familie scheuen sich nicht davor, in Kaijillionaire genau beobachtet zu werden – und die Motivation zur Veränderung wächst in dem, der sie am dringendsten nötig hat. Dieses Conclusio lässt sich in dieser konsistenten und enorm erfreulichen Filmkunst gerne entdecken.

Kajillionaire

La Vérité – Leben und lügen lassen

ÜBER-MAMA UND ICH

6,5/10


laverite© 2019 Prokino


LAND: FRANKREICH 2018

REGIE: HIROKAZU KORE-EDA

CAST: CATHERINE DENEUVE, JULIETTE BINOCHE, ETHAN HAWKE, MANON CLAVEL, LUDIVINE SAGNIER, ALAIN LIBOLT U. A.

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Erst kürzlich hat Filmlegende Catherine Deneuve in der eher schwermütigen Tragikomödie Der Flohmarkt von Madame Claire ihren ganzen Besitz verhökert, um sich aufs Ende vorzubereiten. Natürlich trägt die Situation im Film keine autobiographischen Züge. Die Deneuve hat weitergemacht – und einen diesmal seelenverwandteren Film gedreht, in dem sie selbst als Schauspielerin eine Schauspielerin spielt, die auf ihren Ruhm als extrovertierte Künstlerin zurückblickt, die diesen Ruhm allerdings auch als sozialen Störfaktor mit sich herumschleppt, was ihr aber erst so richtig bewusst wird, als Töchterchen Juliette Binoche samt Familie an den Ort der Kindheit zurückkehrt, um auf die eben erst veröffentlichten Memoiren der Grand Dame anzustoßen. Allerdings vermengt sich der reine Wein mit einigen Wermutstropfen, denn die Biographie entspricht laut allen anderen an ihrem Leben Beteiligten wirklich nicht der Wahrheit.

Bei Mutter-Tochter-Geschichten hat die Deneuve ein offenes Ohr. Im Flohmarkt-Film hatte sie sogar ihre eigene leibliche Tochter als Co-Star, nun aber ist es Juliette Binoche, die auch gleich Filmgatte Ethan Hawke mitbringt, der geradezu etwas eingeschüchtert und als kaum dem Französischen mächtiger Amerikaner eine gewisse kaugummikauende Naivität an den Tag legt. Eine verzichtbare Rolle, aber dennoch schön, ihn zu sehen, denn Hawke hat so etwas Grundsympathisches, da kann auch so eine bescheidene Staffage nichts dagegen machen. Über dieses Willkommens-Setting in den Gemächern der exaltierten Künstlerin hinaus haben wir es in Verité ganz klassisch mit einem gesprächsbereiten Künstlerdrama zu tun, in dem es ausschließlich um Schauspielerei, schauspielerische Konkurrenz, Jungstars, dem Abgesang von Ikonen und hochnäsige Attitüden geht. Umso irritierender die Tatsache, dass Hirokazu Kore-eda, Gewinner der Goldenen Palme für seine außergewöhnliche Sozialballade Shoplifters, sich dieses eigentlich relativ nichtssagenden Stoffes angenommen hat. Gab es in Shoplifters noch allerlei an mikrokosmischer Familiensynthese zu betreiben, flanieren all die bekannten Gesichter in La Vérité – Leben und lügen lassen natürlich ausgesprochen geschickt, aber doch nur an der Oberfläche dahin. Eine Bühne ist das Ganze, sowohl die Kulisse des Films im Film als auch der eigentliche Film, in welchem Catherine Deneuve wie ein Brummkreisel um sich rotiert, dabei vieles plötzlich aus anderen Blickwinkeln sieht, weil Juliette Binoche den Kreisel immer wieder anstößt, wenn’s um anstößige Unwahrheiten aus ihrem Buch geht.

Künstlerfamilien haben es nicht leicht. Denn Künstler sind manchmal für andere recht anstrengende Ich-Agenturen, die sich als Mittelpunkt von etwas ganz Großem sehen. Alle anderen aus der Sippe müssen dann sehen, wo sie bleiben, müssen entweder in die Fußstapfen ihrer erzieherischen Vorbilder treten oder sich damit abfinden, als Zaungast danebenzustehen. Darum geht’s in La Vérité, und ja, zwischen Eigenheim und Filmstudio wird viel geredet, sinniert und aus dem Fenster geblickt, manchmal entwickelt Kore-eda tatsächlich auch eine metaphysische Zwischenebene, die sehr vage bleibt, dadurch aber recht reizvoll wirkt und das elitäre Filmvergnügen etwas auflockert. Kore-edas Regiegespür formt selbst aus diesem sehr speziellen Stoff ein sehenswertes Arthouse-Familientreffen, mit Gefühl für Zwischenmenschliches, für leisen Sarkasmus und für geschickt nuancierte Dialoge.

La Vérité – Leben und lügen lassen

Wonder Wheel

DAS JAMMERTAL IST EIN RUMMELPLATZ

8/10

 

WA16_D12_0335.RAF© 2016 Warner Bros. Ent. Alle Rechte vorbehalten.

 

LAND: USA 2017

REGIE & DREHBUCH: WOODY ALLEN

MIT KATE WINSLET, JUNO TEMPLE, JAMES BELUSHI, JUSTIN TIMBERLAKE U. A.

 

Woody Allen geht ins Licht. Oder anders formuliert – er geht in Sachen Lichtregie für seinen neuen Film so ziemlich ins Detail. Um nicht zu sagen – Licht ist in Wonder Wheel, einer bittersüßen, bühnenhaften Rummelplatz-Symphonie, neben einer umwerfenden Kate Winslet der eigentliche Hauptakteur des Werks. Die goldene Stunde, wie Fotografen und Kameraleute gerne jene Position der wolkenbefreiten Sonne nennen, die das orange Spektrum des Lichts reflektiert, war schon in Allen´s letzten Film, Café Society, auffallend wichtig. In Wonder Wheel ist es nicht nur die goldene Stunde, sondern auch das Flackern, Irrlichtern und Pulsieren des blauen, roten und violetten Spektrums. Das kommt zum einen vom sich scheinbar ewig drehenden Wonder Wheel, einem lampengeschmückten Riesenrad auf Coney Island, dass als dauerdominante Metapher eines Glücksrades durch die Fenster bricht und sein Licht über das Schicksal mehrerer Personen hinweg streut. Zum anderen von der blauen Stunde, die sich einstellt, sobald der Heliumstern hinter dem Horizont verschwindet.

Wonder Wheel ist, was vor allem die Bildsprache und die Kamera betrifft, das wohl Bemerkenswerteste seit langem, was Woody Allen auf die Leinwand gebracht hat. Warum? Weil Kameramann Vittorio Storaro das Auge aufs Geschehende hält. Das sagt wahrscheinlich kaum jemandem sofort etwas. Nun, Vittorio Storaro ist, man kann das schon so sagen, eine Legende. Die visuelle Brillanz von Filmen wie Der letzte Tango in Paris oder Apocalypse Now gehen auf sein Konto. Und wenn man genau darauf achtet, entdeckt man beeindruckende Gemeinsamkeiten. Oft sehen wir in Wonder Wheel die Gesichter der Protagonisten in unbeweglichem Close Up. Sie reden und reden, nichts verändert sich, die Kamera verharrt. Nur das Licht setzt das Bild durch wechselnde Farben in ganz unterschiedliche Stimmungen – bis sogar manche Szenen fast ungesättigt wirken. Inmitten ein Gesicht. Im Regenlicht wunderschön. Das leuchtende Spektrum der äußeren Welt gibt auf geradezu psychoanalytische Weise die Gefühlswelten der stets unzufriedenen Figuren aus Woody Allen´s Welt preis.

Und unzufrieden sind sie. In vielen seiner Filme. Sie suchen nach dem großen Los, dass sie doch endlich ziehen mögen. Wollen meist nie das, was sie ohnehin schon haben. Streben nach ihrem eigenen Glück, und nicht nach dem der anderen. Dabei meinen sie, dass nicht sie es sind, die sich im Wege stehen, sondern stets die anderen. Diesen Grundtonus variiert Woody Allen immer aufs Neue. Das Jammern und Lamentieren ist seine Kunstform und seine Sicht auf eine Welt, die verlernt hat, altruistisch zu denken und genügsam zu sein. Genügsam nicht im materiellen Sinne, das niemals. Sondern genügsam zu sein mit dem, was man erreicht hat. Von der Blindheit für das Drumherum ist auch Kate Winslet betroffen. Auch hier haben wir wieder typisch Allen´sche Figuren. Verhinderte Künstler – Schauspieler, Schriftsteller – die sich selbst nicht verwirklicht sehen oder andauernd planen, sich verwirklichen zu wollen, ohne einen eigenen Schritt zu machen. Seine Figuren sind zum Scheitern verurteilte Existenzen, aber nur, weil sie den Status Quo ihres Lebens nicht sehen. Was sie sehen ist ein mögliches anderes Leben, dass so fern wie die flirrende Sonne stets unberührbar bleibt. Und da werden die, die in Gleichgültigkeit versinken, zu Initiatoren destruktiver Mechanismen, die Beachtung einfordern. Wie der ungesehene Junge, der alles, was ihm in die Finger kommt, in Brand steckt.

Und ja, es brennt hier so überall der Hut. Kate Winslet mittendrin im quälenden Fegefeuer der Unzufriedenheit. Neben den satten Bildern ist sie es, die den Film dominiert. Ihr gehört alle Aufmerksamkeit Woody Allens. Und sie ist grandios. Wie eine Doyenne großer Bühnen, wie eine Liz Taylor oder Barbara Stanwyck gebärdet sie sich wild gestikulierend zwischen jugendlicher Verliebtheit, unbeholfener Eifersucht und ignoranter Abscheu. Damit ist ihr dürftiger Auftritt in Zwischen zwei Leben mehr als vergessen. Ich wage ja zu prophezeien, dass Winslet eventuell eine Academy-Nominierung erhält. Denn kraftvoll gespielt ist fast schon ein Hilfsausdruck. Ihr Zynismus, ihr unverfrorener Anspruch auf ein besseres Leben ist von kindischer Sturheit und sorgt für bloßstellend komische Momente. In diesen Szenen hat Woody Allen wieder das erreicht, was er immer vermitteln will: Die Lächerlichkeit menschlichen Verhaltens, die Groteske psychischen Versagens. Und die Therapie, die hilft hier längst nicht mehr.

Wonder Wheel ist ein bis in die kleinsten Nebenrollen famos besetztes Bühnenstück mit geschliffenen Dialogen und ganz viel düsterem Humor. Ein Woody Allen, der seine Muster zwar variiert, es diesmal aber geschafft hat, seine Formen und Formeln anders zu schraffieren. Vor allem was Cast und Schauspiel angeht. Auch Jim Belushi ist sichtlich dankbar für seine Rolle – und würdigt sie mit wuchtigem Engagement.

Wonder Wheel