Naga (2023)

KAMELE ZUM FÜRCHTEN

6/10


naga© 2023 Netflix Inc.


LAND / JAHR: SAUDI-ARABIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: MESHAL ALJASER

CAST: ADWA BADER, YAZEED ALMAJYUL, MIRIAM ALSHAGRAWI, OUMKALTHOUM SARAH BARD, JABRAN ALJABRAN, ALI ALDUWIAN, KHALID SAAD, KHALID BIN SHADDAD, AMAL ALHARBI U. A.

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Filme gibt’s, die, so glaubt man, gibt’s gar nicht. Zumindest nicht in Saudi-Arabien. Und dennoch: Mit Naga, uraufgeführt bei den Toronto Filmfestspielen in der Sektion Midnight Madness und ebenfalls passend gewesen fürs Slash Filmfestival, wäre dieser Streifen nicht auf Netflix erschienen, wird die Gehorsamspflicht gegenüber dem Patriarchat zwar nicht zwingend mit Kamelfüßen getreten, dafür aber bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und so weit ausgereizt, dass man es fast für unmöglich halten würde, das irgendetwas von dem, was hier passiert, jemals noch ein gutes Ende nehmen könnte. Ob es das schließlich tut, darüber verrate ich natürlich nichts. Schließlich ist Naga ein Psychothriller aus der Wüste, in der sich Zeit und Raum verschieben lassen, und zwar so weit, wie es das eigene Unterbewusstsein, zusammengesetzt aus Schuldgefühl, Pflichtbewusstsein, Trotz und Freiheitsdrang, verlangt. In die saudi-arabische Wüste fährt man, um Spaß zu haben. Und zwar so, wie es der Westen tut. Die Wüste ist in Naga ein gesetzliches Niemandsland, oder sagen wir: eine Grauzone, in der die Kontrollorgane des Staates nur leise fiepen oder sich im Sand verlieren, wenn sich die Verfolgung mit dem Streifenwagen nicht lohnt.

Die junge Sarah hat vor, mit ihrem Freund Saad eines dieser geheimen Events, geschmissen vermutlich von einem Krösus ohne Selbstauflagen, aufzusuchen. Doch bei der Sache gibt es mehrere Haken: Erstens hat Sarah lediglich die Erlaubnis für eine Shoppingtour in Riad – ein Abweichen der vereinbarten Norm führt vermutlich zu drakonischen Strafen. Und zweitens muss sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, wenn Papa sie abholt. Dürfte nicht schwierig werden, denkt sich die rebellische junge Dame, sofern geheim bleibt, dass sie statt Shoppen eben Party feiert. Im letzten Licht des Tages geht die Tour inkognito in die Wüste – um immer mehr und mehr aus dem Ruder zu laufen. Dabei spielen Kamele keine untergeordnete Rolle.

Naga bringt zusammen, was ein mit ordentlich Lokalkolorit ausgestatteter Thriller aus Saudi-Arabien, der sich zur bizarren Groteske mausert, an landestypischen Versatzstücken einsammeln kann: Die gesetzlose Wildheit der kargen Landschaften, die Hoffnungslosigkeit im Nirgendwo, das Zweierleimaß-Messen an Moral und natürlich die zweihöckrige Nemesis, die sich inmitten finsterster Nacht auf Sarah stürzen wird, hässlich bis zur Unkenntlichkeit und bedrohlich wie der Weiße Hai. Um diese wohl beste Horrorszene herum rudert Naga wie wild mit den Armen. Autopannen, Verfolgungsjagden, eingesperrt im Kofferraum und ein Wettlauf mit der Zeit. Wenn Meshal Aljaser seinen Suspense-Reißer auf seine Protagonistin und das vermaledeite Auto reduziert, gelingen Naga einzigartige Szenen. Darüber hinaus weiß er anscheinend nicht so recht, zu welchen Stilmitteln er greifen will, um die bizarre Gesamtsituation aus Pech und Kettenreaktion darzustellen. Das eine Mal bleibt die Kamera distanziert und filmt Geschehnisse aus lächerlich großer Entfernung, das andere Mal wirft sich das Auge des Betrachters ins Getümmel. Das sind jede Menge reizvolle Ansätze, Naga spielt mit den Normen und will experimentieren. Das ist ambitioniert, und auch ungewöhnlich. Letztlich stimmt auch die Wahrnehmung der Zeit nicht mehr, und was real ist und was nicht, bleibt ungeklärt. Und irgendwann fragt man sich: Welches ist die schlimmere Furcht – jene vor dem häuslichen Patriarchat oder jene vor einem wütend gewordenen Kamel, das auf Rache sinnt?

Naga (2023)

Pain Hustlers (2023)

DIE PILLE FÜR DIE MILLE

4/10


Pain Hustlers© 2023 Netflix Inc.


LAND / JAHR: USA, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: DAVID YATES

DREHBUCH: WELLS TOWER

CAST: EMILY BLUNT, CHRIS EVANS, ANDY GARCIA, CHLOE COLEMAN, CATHERINE O’HARA, JAY DUPLASS, AMIT SHAH, BRIAN D’ARCY JAMES, BRITT RENTSCHLER, AUBREY DOLLAR U. A.

LÄNGE: 2 STD 2 MIN


Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut. Christoph Leitl, ehemals Präsident der Wirtschaftskammer, hatte schon recht damit, als er das sagte. Allerdings ist diese Faustregel nur in die eine Richtung lesbar. Geht’s und allen gut, geht’s der Wirtschaft gut klappt schon wieder nicht mehr. Letzterer kann’s nämlich auch blendend ergehen, wenn es uns schlecht geht. Geht es uns schlecht, haben wir ein starkes Bedürfnis, den Status Quo zu ändern. Will heißen: Als Pharmaunternehmen lässt sich mit den Kranken, Dahinvegetierenden und nur langsam Genesenden der große Reibach machen, da lässt es sich gesundstoßen und mehrere goldene Nasen verdienen, wenn der darniederliegende und schmerzgeplagte Konsument bestenfalls eine Abhängigkeit für genau jene Medikamente entwickelt, auf welchem der Konzern seinen Erfolg begründet. Freuet, frohlocket, nieder mit dem Schmerz und nieder mit den Menschen, denn Menschlichkeit lässt sich im Unterbewusstsein der Weltwirtschaft sehnsüchtig vermissen.

Auf Millionen Tote kann als bestes Beispiel das us-amerikanische Sackler-Imperium zurückblicken. Die Fotokünstlerin Nan Goldin, selbst Opfer des Medikamentes Oxytocin, hatte irgendwann ihre Kamera gegen das Demo-Transparent getauscht und so der Opioid-Diktatur in Übersee den Kampf angesagt. Gebracht hat es einiges, nachzusehen ist dies in Laura Poitras düsterer Dokumentation All the Beauty and the Bloodshed. Dass es bei diesem Thema wahrlich nichts zu lachen gibt, liegt klar auf der Hand. Und dennoch probiert die beim letztjährigen Toronto Filmfestival erstaufgeführte Business-Dramödie Pain Hustlers genau das: So cool, garstig und schmissig zu sein wie Martin Scorseses The Wolf of Wall Street, allerdings im Biotop der Pharmaindustrie herumfischend und damit scheinbar eine fatale Problematik dafür missbrauchend, ein schnippisches Rise and Fall-Abenteuer aufzupolieren, in welchem allseits bekannte Stars nicht wirklich zu verstehen scheinen, wofür sie hier aufgedonnert, wortgewandt und selbstherrlich über die blankpolierten Marmorfliesen so mancher Bürohäuser eilen, stets im Stechschritt und den Erfolg in der Tasche.

Pain Hustlers basiert unter anderem auf dem Sachbuch von Evan Hughes und mag natürlich den Zynismus der Businessmen und -women, die von einer Arztpraxis zur anderen tigern, um Halbgöttern in Weiß den Deal abzuschwatzen, entsprechend ins Feld führen. Doch das massive Problem, welches die Opioid-Krise da drüben in Übersee ausgelöst hat, wird zum Platzhalter für eine Karrierekomödie, die sich nicht zwingend mit dem Missbrauch von Medikamenten auseinandersetzen muss – das erkennende Motiv als Background in diesem Film bleibt austauschbar, niemand schert sich hier wirklich um die Belange und den Schaden der Betroffenen, alles das wird zur Hochglanznummer, in der Emily Blunt und Ex-Captain America Chris Evans von einem Pitch zum nächsten jagen, dabei dauergrinsend und erfolgsverwöhnt das winzige Detail tunlichst ignorieren oder gar verdrängen, in dem es darum geht, das Krebsmedikament Lonafen als Schmerzstiller auch für den alltäglichen Gebrauch verhökert zu haben. Gierige Mediziner ziehen da mit, so sehr macht der Profit blind. Skrupel ist was für Weicheier, Gesundheit für Schwächlinge.

Natürlich hat Pain Hustlers das moralische Herz am rechten Fleck. Emily Blunt als alleinerziehende Mutter, die anfangs mit Tabledance ihre Mäuse verdient und später als Impro-Talent Andy Garcias Schmuddelfirma in astronomische Höhen katapultiert, muss natürlich geläutert werden, doch alles erst, nachdem die Behörden entsprechend laut anklopfen. Mit dieser stets in Partystimmung verweilenden, ungemein nervösen Tonart des Films bleibt auch jeder noch so ernstzunehmende, aufrichtige Ansatz ein Opfer all der Nebenwirkungen für einen Film, der einfach nur gut aussehen will und den schnöden Plot eines Karrierekreislaufs zwar ohne Leerlauf, aber mit blendender Laune dafür verwendet, aus unternehmerischem Verbrechertum ein Kavaliersdelikt zu formen, dass seine Fehler mit nicht mehr als einem Ups! eingesteht.

Pain Hustlers (2023)