The Zone of Interest (2023)

VOR DEN PFORTEN DER HÖLLE

7,5/10


thezoneofinterest© 2024 LEONINE


LAND / JAHR: USA, VEREINIGTES KÖNIGREICH, POLEN 2023

REGIE: JONATHAN GLAZER

DREHBUCH: JONATHAN GLAZER, FREI NACH DEM ROMAN VON MARTIN AMIS

CAST: CHRISTIAN FRIEDEL, SANDRA HÜLLER, JOHANN KARTHAUS, LUIS NOAH WITTE, NELE AHRENSMEIER, LILLI FALK, IMOGEN KOGGE, STEPHANIE PETROWITZ, ZUZANNA KOBIELA, MARTYNA POZNAŃSKA U. A.

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Des Nazideutschen Paradies liegt vor den Pforten der Hölle. Dieser Umstand alleine spricht schon dafür, dass sich eine derartige Weltsicht so sehr ihren destruktiven Abnormen anbiedert, dass diese wie selbstverständlich hinnimmt, Mauer an Mauer mit Tod und Verderben zu leben und dabei noch den Wohlstand zu genießen, den sich diese Familie, namentlich Höß, auf Kosten der anderen angeeignet hat. Einer wie Jonathan Glazer macht daraus garantiert keinen herkömmlichen Film. Das weiß man spätestens, seit man Under the Skin gesehen hat. Glazer ist ein Künstler der suggestiven, indirekten Bildsprache, der Präzision und der audiovisuellen Synergien. Nicht zu vergessen: er ist ein Mann der Extreme. Extreme aber auf eine Art, die nicht darauf aus ist, entweder einen Drogenrausch auszuleben oder um des Effektes willen den Vorschlaghammer des Radikalen ins Gesicht des Zusehers zu schmettern. Extreme können allein schon dadurch entstehen, dass die Möglichkeit außen vorgelassen wird, Identifikationsfiguren zu finden. In diesem widerlichen, von krankhaften Ideologien durchdrungenen Diesseits, dass sich so anfühlt, als wäre man mit der großmütterlichen Liebe-Familie-Nostalgie längst vertraut und vereint, liegt der Albtraum in einer banalen Normalität, in der augenscheinlich alles seine perfekt Ordnung hat, in der aber, bei genauerem Hinsehen und im Beachten der Details, einiges nicht stimmt und ein Unwohlsein erzeugt, das man hat, wenn man einen Traum träumt, der in den letzten Sekunden seines Bestehens zum Schreckensbildnis mutiert, bevor man schweißgebadet hochschreckt.

Jonathan Glazer schafft in seinem Film im farbenstrahlenden Sommer rund um den Geburtstag des Lagerkommandanten des KZ Auschwitz, Rudolf Höß, penibel aufgeräumte Tableaus, in denen alles seine perfekte Ordnung hat und keines der Requisiten nur zufällig herumsteht. Oft sind es wortlose Beobachtungen eines Herumtreibens glattgebügelter Uniformträger und aufgeföhnter Kaffeetrinkerinnen, prachtvoller Kinderchen in Lederhosen und geblümten Sommerkleidchen. Ein Kitsch ist das, wie aus altbackenen Werbungen. Wie aus den Filmen eines Jaques Tati, der die bürgerliche Ordnung anders als hier im lakonischen Slapstick durch den Fleischwolf dreht. Und dann ist da dieses gewisse Etwas: Die Mauer, der Stacheldraht, der über allem aufragende Schlot, aus dem Feuer und Rauch quillt. Jeder weiß, was das bedeutet, ohne es beim Namen nennen zu müssen. Es ist das Schrecklichste, was Menschen anderen Menschen jemals angetan haben. Und dennoch wird es in The Zone of Interest zur erschütternden Beiläufigkeit, zur geduldeten Hinnahme einer Notwendigkeit, weil die Wahrheit erfunden werden kann.

Filme über die Gräuel des Holocaust gibt es viele, sogar im Genre der Komödie unter der Regie von Roberto Benigni fand der Schrecken seinen Ausdruck. Glazer hingegen entwickelt eine filmische Installation. Ein selbsterklärendes Understatement, bei dem nichts gesagt werden muss, in dem jedes zweite Wort überflüssig, jede Neugier auf die blanke Gewalt zu obszön wäre, um ihr nachzugeben. The Zone of Interest ist eine Anordnung aus assoziativen Bildern und unmissverständlichen Geräuschen – es ist das Grauen im Hintergrund, dass das Harmlose im Vordergrund ins Monströse verzerrt. Glazers Film könnte im Endlosloop auf einer KZ-Mauer projiziert werden, als eindrückliche Ergänzung durch einen Blickwinkel, mit dem sich unsere heutige Generation vielleicht näher fühlt als mit jenem der Leidenden. Wer die Filme des Schweden Roy Andersson kennt, findet in diesem Arrangement aus Alltagsszenen und Aphorismen so manche Ähnlichkeiten wieder, die Absurdität einer Koexistenz aus Horror und Komfortzonen-Arroganz, aus Verdrängung und schluchttiefer Diskrepanz. Diese Widernatürlichkeit bringt Glazer zusammen und möchte wie absurdes Theater erscheinen. In Wahrheit aber ist es die Realität, die uns aufgetischt wird, und die Blindheit vor der eigenen Mitschuld, die uns, so schnell können wir gar nicht schauen, in ein neues Desaster hineinreiten kann.

Hut ab vor Sandra Hüller, die sich mit einer Figur auseinandersetzen muss, die in so abartiger Selbstverständlichkeit den Pelz von Anne Franks Mutter trägt, Hut ab vor Christian Friedel, der in arbeitsmüder Nüchternheit viel mehr Leute vergast sehen möchte als ohnehin. Mit solchen Rollen muss man als Künstler erstmal klarkommen. Mit dieser Widerlichkeit, die sogar auf Pferd und Hund überschwappt, sieht man sich in The Zone of Interest konfrontiert, und man kann gar nicht anders, als sich in die Geborgenheit einer Beschaulichkeit zu flüchten. In eine Blase, in eine Zone des Eigeninteresses, um nicht Schaden zu nehmen, Denn den haben die anderen. Das Grollen aus der Tiefe des Tartaros, das Glazer ertönen lässt, macht uns aber letztlich bewusst, dabei vom Nachtmahr heimgesucht worden zu sein.

The Zone of Interest (2023)

Jodorowsky’s Dune (2013)

ENTWURF DES UNMÖGLICHEN

7/10


jodorowskys-dune© 2013 Sony Pictures Classic


LAND / JAHR: FRANKREICH, USA 2013

REGIE: FRANK PAVICH

DREHBUCH: FRANK PAVICH, STEPHEN SCARLATA & TRAVIS STEPHENS

MIT BEITRÄGEN VON: ALEJANDRO JODOROWSKY, MICHEL SEYDOUX, H. R. GIGER, BRONTIS JODOROWSKY, RICHARD STANLEY, NICOLAS WINDING REFN, GARY KURTZ, CHRIS FOSS, DAN O’BANNON, AMANDA LEAR U. A.

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Was haben Mick Jagger, Salvador Dali und Orson Welles gemeinsam? Abgesehen davon, dass alle drei dem männlichen Geschlecht angehören, nichts, was einem so ins Bewusstsein springt. Der eine ist US-amerikanischer Rockstar voll Glamour, der andere ein Grand Signeur des großen, epischen Kinos des 20. Jahrhunderts, der dritte überhaupt ein Gesamtkunstwerk des exaltierten Surrealismus. All diese Streiflichter typischer Eigenschaften lassen sich bündeln, und zwar im größten Film aller Zeiten, kurz GröFaZ (und nicht SchleFaZ), der jemals das Licht der Leinwand erblicken hätte sollen. Als Vorlage dafür kam nur ein literarisches Werk in Frage – ein Schmöker, der im Grunde die moderne Science-Fiction begründete und viele Nachahmer fand. Und ja, ich muss an dieser Stelle ehrlich zugeben: So sehr ich Star Wars abgöttisch liebe: Geklaut hat George Lucas‘ Sternenepos aus den Siebzigern so einiges aus Frank Herberts Kult-Roman Dune – Der Wüstenplanet. In den Sechzigern verfasst, hat Herbert verstanden, wie er episches Königsdrama mit messianischer Botschaft und diese wiederum mit der Geisteshaltung der 60er verbindet. Das alles findet als Bühne nicht mehr und nicht weniger als einen Wüstenplaneten, in dessen Sand das wertvolle Spice steckt (ja, auch in Star Wars wird damit gehandelt), das erstens das Bewusstsein verändert und zweitens die interstellare Raumfahrt ermöglicht. Ein wichtiger Rohstoff, und um diesen Rohstoff entbrennen Schlachten und Revolten, werden Anführer getötet und andere hieven sich auf den Thron. Ein Game of Thrones, nur Dune war zuerst da, vor allen anderen.

So begeistert von diesem Werk war auch Alejandro Jodorowsky, ein mexikanischer Filmemacher der Avantgarde, der mit psychedelischen und äußerst exzentrischen Werken wie The Holy Mountain zumindest jene Sorte Publikum abholen konnte, die während den Vorstellungen schon einiges eingeworfen hatten. Es sind Filme, die so rätselhaft und exaltiert erscheinen, dass sie als Zeitdokument vermutlich dienlich sind, darüber hinaus aber gerne unfreiwillig komisch wirken. Wie Barbarella, nur noch bizarrer. Jetzt sollte Dune eine Verfilmung bekommen, die alles bisher Dagewesene sprengen mag. Mit einer Bildsprache, die das Bewusstsein verändert, mit einem Starensemble, dass eben Mick Jagger, Orson Welles und Salvador Dali vor die Kamera hätte holen können. Und das Beste: Alle drei haben zugesagt. Warum dieses Jahrhundertwerk dann doch nicht seinen Weg in die Produktion fand? Nun, genau das erörtert der von Frank Pavich 2013 aufgearbeitete Dokumentarfilm Jodorowsky’s Dune, der den Künstler selbst sehr oft und ausgiebig zu Wort kommen lässt.

Der Zeichner Chris Foss hätte knallbunte Raumschiffe ersonnen, Pink Floyd die Musik dazu komponiert – die Credits im Abspann, hätte es diesen gegeben, wären ein Who is Who der Kunstszene gewesen – doch was nicht ist, muss auch später nicht zwingend etwas werden. Dabei ist Jodorowsky’s Dune kein Abgesang auf künstlerische Ambitionen, kein anti-visionäres Requiem. Erquickend an diesem Film ist die diebische Freude und die Leidenschaft, mit der Jodorowsky über die Entstehung seines Nicht-Films berichtet. Pavich betrachtet dieses Scheitern längst nicht, und auch niemals im Film, als ein desillusioniertes Scheitern. Von einer Niederlage ganz zu schweigen. Sein Film feiert die Idee und die Vision, die Freude am Fabulieren weit über die Grenzen des Machbaren hinaus. Er beflügelt die Fantasy und zementiert ihren Status als etwas ein, dass so frei sein kann wie ein ungebändigter Sandwurm, der sich durch eine imaginäre Landschaft fräst. So frei und freudvoll ist auch das Schildern des ganzen Making Of-Fragments.

Die wahren Abenteuer sind im Kopf, das singt schon André Heller. Die wahren Abenteuer sind auch im Kopf eines Don Quixote, der gegen Windmühlen kämpft. Jodorowsky ist auch so einer. Ein Don Quixote des Films, der mit seinen Bestrebungen und seinem Eifer völlig nebenbei und eigentlich unbeabsichtigt Grundsteine gelegt hat für Filme wie Alien, Star Wars oder letztendlich auch für die Vision von Denis Villeneuve, der es am Ende des langen Tages des Schaffens wohl hinbekommen hat, die wichtigste Science-Fiction-Trilogie des bisherigen neuen Jahrtausends in den Sand zu zeichnen statt in den Sand zu setzen. Schaut man vor allem bei Dune: Part Two genauer hin, sieht man Reminiszenzen an Jodorowskys Herangehensweise, erkennt man die Optik des Schweizer Künstlers Giger, der für den Mexikaner auch allerlei Bauten entworfen hätte. Kleines Bonmot am Rande: Jodorowsky selbst hat sich, anders als David Lynch, der seine Dune-Version als einen traurigen Tiefpunkt seiner Karriere betrachtet und nichts mehr damit zu tun haben will, ins Kino bequemt, um sein Herzensprojekt, das nun jemand anderer gedreht hat, über sich ergehen zu lassen. Spätestens da, und niemals zuvor, kommt ein durch und durch natürliches Quantum an Neid und ein kleines bisschen Wehmut ans Tageslicht, dass sich insofern ausdrückt, dass Jodorowsky Villeneuves Dune einfach nicht mochte. Natürlich nicht. Es hätte sein Film sein sollen. Und irgendwie existiert er ja auch – als erstes Filmparadoxon, als ein sich selbst verschlingendes schwarzes Loch, als erster Nicht-Film, der sich in einem Wunsch ans Universum manifestiert. Jodorowsky’s Dune ist Quantenphysik für Cineasten über einen Film, der gleichzeitig tot und lebendig sein kann.

Jodorowsky’s Dune (2013)

Under the Skin (2013)

DIE FRAU, DIE VOM HIMMEL FIEL

8,5/10


under-the-skin© 2013 Senator Home Entertainment


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2013

REGIE: JONATHAN GLAZER

DREHBUCH: JONATHAN GLAZER, WALTER CAMPBELL, NACH DEM ROMAN „DIE WELTENWANDERIN“ VON MICHEL FABER

CAST: SCARLETT JOHANSSON, JOE SZULA, KRYŠTOF HÁDEK, ADAM PEARSON, PAUL BRANNIGAN, MICHAEL MORELAND, GERRY GOODFELLOW, DAVE ACTON U. A.

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Der neue Film des Briten stürmt gerade eben die Nominierungslisten der Oscar-Academy: The Zone of Interest. Mit diesem verstörenden Perspektivwechsel auf den vergnüglichen Alltag einer nationalsozialistischen Vorzeigefamilie, die am Rande des Konzentrationslagers Auschwitz ihre Zelte aufgeschlagen hat, mag Jonathan Glazer in seinem erst vierten Spielfilm dem Subgenre des Holocaust-Films neue Aspekte hinzufügen. Nicht all die Opfer würden diesmal für Betroffenheit sorgen, sondern die mit dem Blut an den Händen. Dabei mag am meisten verstören, dass die Identifikationsfiguren diesmal gänzlich fehlen, die glückliche Familie in Braun aber wie der teufel in der Wüste sämtliche Schienen legen möge, um hineinzufinden in einen Alltag, der uns auf unheimliche Weise vertraut vorkommen mag.

Diesem Sichtwechsel, dieses Umstülpen einer narrativen Ordnung, lässt Glazer auch in seinem zehn Jahre zurückliegenden letzten Film alle möglichen Freiheiten, um sich auszutoben. Under the Skin ist Science-Fiction, wie man sie noch nicht gesehen hat. Wie man sie womöglich auch niemals wieder sehen wird. Und die eine diebische Freude daran hat, nichts erklären zu müssen. Im hoch budgetierten Studiofilm wäre so etwas undenkbar, viel zu unorthodox und um Gottes Willen kein bisschen massentauglich. Gut so, denn in dieser Unabhängigkeit eines Künstlers liegen jene Motoren, die die kreative Evolution im Film weitertreiben und nicht auf der Stelle treten lassen, wie es derzeit im Comicfilm zum Problem wurde. Under the Skin ignoriert Schablonen, Versatzstücke und gängiges Vokabular. Es scheint, als erfinde es eine neue, erzählerische Sprache, wie klingonisch oder elbisch – dafür aber in Bildern und einer gegen die Wuchsrichtung gebürsteten Anordnung. Mittendrin in dieser wortkargen Versuchsanordnung einer urbanen Alien-Ballade findet sich jemand, der längst im großen Studiofilm Furore gemacht hat: Scarlett Johansson. Ein Skript wie dieses ausschlagen? Gerade in solchen mutigen Werken liegt die eigentliche Freude am Schauspielern, wenn einem erlaubt scheint, den ganzen Star-Glimmer abzulegen, um die Mutprobe eines ungefälligen Kunststückes zu wagen, das Under the Skin klarerweise darstellt.

Wie schon David Bowie als vom Himmel gefallener humanoider Alien, der dem Mammon und sonstigen menschlichen Versuchungen erliegt, ist Scarlett Johansson ein ähnlich extraterrestrischer Besucher (oder Besucherin, ganz genau weiß man das nicht), der in Gestalt einer attraktiven Frau allerlei Männer anbaggert, diese nachhause abschleppt, seinem Willen unterwirft und in eine schwarze, ölige Flüssigkeit taucht. Dieses Innere der Wohnung ist ein Ort der undurchdringlichen Schwärze, während der Boden zwar nicht für das Alien, für den Menschen aber zu Treibsand wird. In diesem surrealen Nirgendwo möchte man selbst tunlichst nicht vorbeisehen müssen, es ist wie das Tor in eine andere Welt, die gefühlskalt und erbarmungslos als eine übergeordnete Entität dem Dasein des Mannes den Albtraum seiner Vergänglichkeit bereitet. Irgendwann jedoch findet Johanssons aparte Figur Gefallen an dieser Welt, an den Wesen, vor allem an einem unter Neurofibromatose erkrankten jungen Mann (Adam Pearson, A Different Man), der so anders aussieht als alle anderen. Der so anders empfindet, sich anders verhält, der selbst wie ein Alien fremd und ausgestoßen bleibt. Diese Gemeinsamkeit bringt Johansson zum Umdenken. Und in höchste Gefahr.

Was Jonathan Glazer aus dieser allen Gewohnheiten entkoppelten Geschichte macht, grenzt an Horizonterweiterung. Die Kunst der Reduktion, des Nicht-Erklären-Wollens, des Assoziierens und Nachempfindens weniger karger, uns bekannter Verhaltensmuster macht Under the Skin zu einer geheimnisvollen Begegnung mit einer dritten Art, schafft aber gleichermaßen die Studie einer Menschwerdung, angereichert mit humanistischen Überlegungen und die Hinterfragung von Akzeptanz und Würde. Glazers Film ist einer, in dem man sich fallen lassen muss, bei dem es sich lohnt, nichts ergänzen oder analysieren zu wollen. Den man auditiv und visuell erfahren kann, so, als würde man seinen von der Sonne bestrahlten und erhitzten Kopf in kühles Wasser tauchen. Dieser Sinneseindruck, der dabei entsteht, lässt sich mit Under the Skin vergleichen. Was man dann sieht, ist nichts, womit man rechnen wird. Und dann ist da diese seltsame Verstörung zwischen den Bildern, die keine Metaebenen preisgeben, und diese Poesie des Schmerzes, den eine Lebensform empfindet, die sich dem Mysteriösen eines Abenteuers stellt und die Frage aufwirft: Was ist der Mensch, und was ist er nicht?

Under the Skin (2013)

Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt (2023)

SKLAVENTREIBEN IN BUKAREST

5,5/10


erwartenichtzuviel© 2023 Mubi


LAND / JAHR: RUMÄNIEN, KROATIEN, FRANKREICH, LUXEMBURG 2023

REGIE / DREHBUCH: RADU JUDE

CAST: ILINCA MANOLACHE, NINA HOSS, KATIA PASCARIU, SOFIA NICOLAESCU, UWE BOLL, LÁSZLÓ MISKE, OVIDIU PÎRSAN, DORINA LAZAR, ALEX M. DASCALU U. A.

LÄNGE: 2 STD 43 MIN


Immer wieder ruft die Europäische Union bei ihr an, Beethovens Ode an die Freude tönt als elektronische Quietschtonleiter aus dem Smartphone von Angela, die als völlig übermüdete Produktionsassistentin und eierlegende Wollmilchsau eines österreichischen „Schlampenvereins“ von Pontius zu Pilatus fährt, um ihre Tagesagenda zu erledigen. Um kurz vor sieben aus dem Bett zu steigen, klingt zwar nicht nach gottlos früh, doch Angela kommt wie Landvermesser K. aus Kafkas Das Schloss nicht zur Ruhe. Obszöne Akkordarbeit bringt sie dazu, in ähnlich obszöner Weise auf Social-Media alles und jeden in den Dreck zu ziehen, vorwiegend in vulgärem Gossenton und von Fellatio bis zum Cunnilingus sexuelle Verdorbenheit nicht nur den neuen britischen König angedeihen lässt, sondern auch diverse Mütter, Väter und sowieso der ganze Rest. Als rumänischer Borat mit Gesichtsfilter macht sie ihrer wütenden Ohnmacht freien Lauf. Hätte sie dieses Ventil nicht, wäre sie womöglich längst Amok gelaufen.

Stattdessen beweist sie zumindest so viel Zähigkeit und Durchhaltevermögen, um die Opfer diverser Arbeitsunfälle abzuklappern und diese für einen Werbefilm als Testimonials für mehr Sicherheit am Arbeitsplatz zu gewinnen. Dass dabei unbezahlte Überstunden, Übermüdung, mangelnde Infrastruktur und Missstände in der Arbeitssicherheit im eigentlichen dafür schuld sind, dass manche von denen nicht mehr aufrecht stehen können, ist ein Umstand, den der westeuropäische Konzern unter den Teppich kehren will. Schnell wird klar: Radu Jude kritisiert in seinem neuen, massiv überlangen Streifen Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt jene Mitgliedstaaten der EU, die genug Einfluss, Macht und Geld besitzen, um den ehemaligen Ostblock nach Strich und Faden auf den Kopf zu scheißen.

Das Outsourcing in Billigländer ist leistbar und ungefährlich, für jene, die anschaffen, denn Kontrolle gibt es keine, Beschwerdestellen ebenso wenig und die Lust an der Ausbeutung einfach zu groß, um sich ihr nicht hinzugeben. Das ist harter Stoff, wenn Radu Jude auch gewillt gewesen wäre, nicht nur Ilinca Manolache als Mädchen für Alles beim Autofahren zuzusehen, während sie Kaugummi kaut und die Welt beschimpft. Der Tag im Leben dieser Angela, die eine Seelenverwandte aus den Achtzigern zu haben scheint, die ebenfalls Angela heisst und auf naiver Retro-Schiene in ihrem Taxi herumkurvt, um konservative Sexisten zu kutschieren, ist fast schon als Roadmovie zu verfolgen, während die Kamera unbeirrt und in grobkörnigem Schwarzweiß dem rechten Profil der Ausgepowerten folgt. Viel passiert nicht dabei, selbst die Schimpftiraden sind lediglich ein trivialer Ausdruck für allerlei Missstände, die es überall auf der Welt genauso gibt, die nicht unbedingt typisch rumänisch sind, sondern alle Länder betreffen, die vom Kapitalkolonialismus unterwandert und kaputtgemacht worden sind. Sudabeh Mortezai lässt in ihrem Film Europa Ähnliches an die Oberfläche sickern. Konventioneller zwar, doch weniger ausufernd.

Früher war alles besser, so scheint uns Radu Jude sagen zu wollen, früher war Bukarest noch das Märchen einer Taxi Driver-Romanze, frei von Feminismus und sonstigem woken Zeugs, überladen mit billigem Schlagerscore und irritierend nostalgisch. Dass Radu seine Sequenzen dann plötzlich ausbremst, als wäre der Vorführapparat defekt, gäbe es noch analoge Filmspulen, mag verwundern und sich auch im Kontext zum restlichen Film zumindest für mich nicht erklären. Die abrupte Schnitttechnik ist Radus Stil, das disharmonische Timing seiner Szenen ganz bewusst angewandt. Wenn dieser dann der gefährlichsten Straße Rumäniens seinen Respekt zollt und sein Publikum aus dem Flow reißt, ist auch das eine bewusste Disharmonie, die allerdings nirgendwo offensichtlich hinführen soll. Am Ende lässt Jude die Kamera in einer gefühlt ewigen Plansequenz laufen, Dialoge der Schauspieler aus dem Off sind das bisschen Salz in der Suppe, während alles andere handzahm bleibt, wenig Biss hat, einfach nicht ans Eingemachte gehen will, wie bei seinem Vorgänger Bad Luck Banging or Loony Porn. Als garstige Satire auf die Scheinheiligkeit rumänischer Biedermänner- und frauen kann die wild fabulierende und nicht weniger avantgardistische Groteske überzeugen – der Sarkasmus zur Arbeitslage der Nation hingegen kokettiert kaum mit Kuriositäten und bringt lediglich Widersprüche aufs Tapet, die im Kapitalismus nicht nur in Rumänien gang und gäbe sind.

Warum so kleinlaut, Radu Jude? Dass sich Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt mehr zum Experiment als zum treffsicheren Statement mausert, tut der Faszination für völlig unorthodoxes Anarcho-Kino, das keinem Regelwerk mehr folgt, keinen Abbruch. Trotz der satten Laufzeit von über 160 Minuten sind Radus Tagesbetrachtungen zwar schwachbrüstig, aber niemals langweilig. Vielleicht, weil das Überrumpeln von Sehgewohnheiten in diesem Werk letztlich alles ist. Der Rest nur Allerwelts-Ambition.

Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt (2023)

Naga (2023)

KAMELE ZUM FÜRCHTEN

6/10


naga© 2023 Netflix Inc.


LAND / JAHR: SAUDI-ARABIEN 2023

REGIE / DREHBUCH: MESHAL ALJASER

CAST: ADWA BADER, YAZEED ALMAJYUL, MIRIAM ALSHAGRAWI, OUMKALTHOUM SARAH BARD, JABRAN ALJABRAN, ALI ALDUWIAN, KHALID SAAD, KHALID BIN SHADDAD, AMAL ALHARBI U. A.

LÄNGE: 1 STD 53 MIN


Filme gibt’s, die, so glaubt man, gibt’s gar nicht. Zumindest nicht in Saudi-Arabien. Und dennoch: Mit Naga, uraufgeführt bei den Toronto Filmfestspielen in der Sektion Midnight Madness und ebenfalls passend gewesen fürs Slash Filmfestival, wäre dieser Streifen nicht auf Netflix erschienen, wird die Gehorsamspflicht gegenüber dem Patriarchat zwar nicht zwingend mit Kamelfüßen getreten, dafür aber bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und so weit ausgereizt, dass man es fast für unmöglich halten würde, das irgendetwas von dem, was hier passiert, jemals noch ein gutes Ende nehmen könnte. Ob es das schließlich tut, darüber verrate ich natürlich nichts. Schließlich ist Naga ein Psychothriller aus der Wüste, in der sich Zeit und Raum verschieben lassen, und zwar so weit, wie es das eigene Unterbewusstsein, zusammengesetzt aus Schuldgefühl, Pflichtbewusstsein, Trotz und Freiheitsdrang, verlangt. In die saudi-arabische Wüste fährt man, um Spaß zu haben. Und zwar so, wie es der Westen tut. Die Wüste ist in Naga ein gesetzliches Niemandsland, oder sagen wir: eine Grauzone, in der die Kontrollorgane des Staates nur leise fiepen oder sich im Sand verlieren, wenn sich die Verfolgung mit dem Streifenwagen nicht lohnt.

Die junge Sarah hat vor, mit ihrem Freund Saad eines dieser geheimen Events, geschmissen vermutlich von einem Krösus ohne Selbstauflagen, aufzusuchen. Doch bei der Sache gibt es mehrere Haken: Erstens hat Sarah lediglich die Erlaubnis für eine Shoppingtour in Riad – ein Abweichen der vereinbarten Norm führt vermutlich zu drakonischen Strafen. Und zweitens muss sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, wenn Papa sie abholt. Dürfte nicht schwierig werden, denkt sich die rebellische junge Dame, sofern geheim bleibt, dass sie statt Shoppen eben Party feiert. Im letzten Licht des Tages geht die Tour inkognito in die Wüste – um immer mehr und mehr aus dem Ruder zu laufen. Dabei spielen Kamele keine untergeordnete Rolle.

Naga bringt zusammen, was ein mit ordentlich Lokalkolorit ausgestatteter Thriller aus Saudi-Arabien, der sich zur bizarren Groteske mausert, an landestypischen Versatzstücken einsammeln kann: Die gesetzlose Wildheit der kargen Landschaften, die Hoffnungslosigkeit im Nirgendwo, das Zweierleimaß-Messen an Moral und natürlich die zweihöckrige Nemesis, die sich inmitten finsterster Nacht auf Sarah stürzen wird, hässlich bis zur Unkenntlichkeit und bedrohlich wie der Weiße Hai. Um diese wohl beste Horrorszene herum rudert Naga wie wild mit den Armen. Autopannen, Verfolgungsjagden, eingesperrt im Kofferraum und ein Wettlauf mit der Zeit. Wenn Meshal Aljaser seinen Suspense-Reißer auf seine Protagonistin und das vermaledeite Auto reduziert, gelingen Naga einzigartige Szenen. Darüber hinaus weiß er anscheinend nicht so recht, zu welchen Stilmitteln er greifen will, um die bizarre Gesamtsituation aus Pech und Kettenreaktion darzustellen. Das eine Mal bleibt die Kamera distanziert und filmt Geschehnisse aus lächerlich großer Entfernung, das andere Mal wirft sich das Auge des Betrachters ins Getümmel. Das sind jede Menge reizvolle Ansätze, Naga spielt mit den Normen und will experimentieren. Das ist ambitioniert, und auch ungewöhnlich. Letztlich stimmt auch die Wahrnehmung der Zeit nicht mehr, und was real ist und was nicht, bleibt ungeklärt. Und irgendwann fragt man sich: Welches ist die schlimmere Furcht – jene vor dem häuslichen Patriarchat oder jene vor einem wütend gewordenen Kamel, das auf Rache sinnt?

Naga (2023)

LOLA (2022)

DAS VERSCHWINDEN DES DAVID BOWIE

7,5/10


LOLA© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: IRLAND, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2022

REGIE: ANDREW LEGGE

DREHBUCH: ANDREW LEGGE, ANGELI MACFARLANE

CAST: STEFANIE MARTINI, EMMA APPLETON, RORY FLECK-BYRNE, HUGH O’CONOR, AYVIANNA SNOW, AARON MONAGHAN, NICK DUNNING U. A.

LÄNGE: 1 STD 19 MIN


Gerade sieht es so aus, als würde sich die Geschichte wiederholen. Überall auf dem Planeten erstarren die rechten Lager, in Spanien wird bereits Kunst und Kultur zensiert, Europas Möchtegern-Faschisten werfen mit Begriffen wie Remigration um sich und nutzen die beschränkte Weltsicht der Bevölkerung, um diese mit Schlüsselwörtern zu ködern. Sind sie mal an der Macht, ist es zu spät. Die Anzeichen will keiner so recht bemerken, also währet den Anfängen, kann man an dieser Stelle nur sagen, wenn Freiheit und Menschenrechte die eigenen Werte anführen.

Wie immer bleibt zu wundern, wie sehr man sich täuschen kann. Und was alles möglich ist. Um Freiheit geht es im Ringen ums Dasein immer, und wären die Parameter nicht so gesetzt gewesen, wie sie letztlich zum Einsatz kamen, hätten wir eine Welt, die sich einer wie Phillip K. Dick bereits in seinem als Serie verfilmten Roman Das Orakel vom Berge zwischen Drogen und Paranoia ausgemalt hat: Die Machtübernahme der Nationalsozialisten rund um den Erdball, insbesondere der Vereinigten Staaten. Eine Horrorvorstellung, die beklemmender nicht sein könnte. Ist die USA einmal unter der Fuchtel faschistoider Regenten, wäre Europa dies ebenso. Das Gefühl, jene Orte, an denen noch Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit praktische Anwendung finden, immer mehr zusammenschrumpfen zu sehen, wird durch das irisch-britische Was-wäre-wenn-Szenario LOLA noch extra unterstützt. Als ob dies dringend nötig wäre, um die Hände vors Gesicht zu schlagen. Andererseits ist Andrew Legges Found Footage-Juwel eine deutliche Warnung davor, die entsprechenden Signale zu übersehen. Und die Aufforderung, sich selbst mal zu fragen, ob eine totalitäre Welt aus Strafen, Zensur und Unterdrückung wirklich das ist, was es zu wählen gilt.

Einen Film wie LOLA, den haben leider Gottes ohnehin nur Zuseher auf dem Radar, die bereits aufgeschlossen und tolerant genug sind für alles, was sie umgibt. Die innovative Zugänge zu brisanten Themen ebenso schätzen wie Nonkonformismus. Und die mit Philipp K. Dick, Science-Fiction und alternativen Realitäten so einiges anfangen können. Als Zeitreisefilm geht LOLA nur bedingt durch – viel mehr gewährt das nach der Mutter der beiden Schwestern Martha und Thomasina Hanbury benannte Orakel einen Blick in die mediale Zukunft der Welt. Mit diesem obskuren Konstrukt, das beide für den guten Zweck einzusetzen gedenken, lässt sich während des Zweiten Weltkriegs im Jahre 1941, als die deutsche Luftwaffe England heimsucht, etliche Leben retten. Als Engel von Portobello gehen die Schwestern in die alternative Geschichte ein. Und die Geschichte selbst erfährt ihre Veränderung, weicht ab von dem, so wie wir es kennen. Und führt dazu, dass das britische Militär Wind davon bekommt.

Klar lässt sich so ein Ding wie LOLA dazu nutzen, dem Feind immer einen Schritt voraus zu sein. All die Offiziere, Generäle und sonstigen Rangträger hätten wohl gut daran getan, sich zuallererst den Ausgang des Krieges vorhersagen zu lassen. Dann hätten sie gewusst, dass sich der Widerstand gelohnt haben, dass die Welt nicht dem Faschismus anheimfallen und eine liberale Ordnung Einzug halten wird. Doch der Wille, den Krieg gewinnbringend im Fokus zu behalten, führt letztlich zum Gegenteil. Was dann passiert, schnürt einem die Kehle zu. Wenn über den Dächern Londons  Hakenkreuzfahnen wehen und Hitler durch die Straßen der Stadt fährt. Wenn plötzlich David Bowie nicht mehr existiert, kein Bob Dylan oder Stanley Kubrick die Musik- und Filmwelt der kommenden Dekaden bereichern, stattdessen aber faschistoide Popmusik wummert, die so klingt, als wäre sie doch irgendwie von Bowie oder Elton John, es aber nicht ist, und wenn man genauer hinhört, in ihren Lyrics das Grauen heraufbeschwört, ist der Orwell‘sche Albtraum komplett.

Andrew Legge nutzt dabei die bereits etwas abgenutzte Stilmittel des Found Footage und schafft etwas vollkommen Neues. Das genreübergreifende, experimentelle Stückwerk aus Super 8-Tonfilmfragmenten, Standbildern und Archivmaterial, das eine alternative Wahrheit täuschend echt nachahmt, ist längst nicht nur eine Mockumentary, die das Spiel mit dem Determinismus variiert, sondern dazu noch eine glaubhaft dargebotene Dreiecksgeschichte mit einbezieht – und das, obwohl LOLA nur knappe 80 Minuten dauert. Trotz dieser Laufzeit entfaltet sich ein geradezu episches Drama voller Wendungen und lässt als prophetischer Thriller das Prinzip Verantwortung als Schlüssel zum Guten erkennen.

LOLA (2022)

Der Schatten von Caravaggio (2022)

HUREN UND HEILIGE

6,5/10


caravaggio© 2023 Filmladen Filmverleih / Luisa Carcavale


LAND / JAHR: ITALIEN / FRANKREICH 2022

REGIE: MICHELE PLACIDO

DREHBUCH: SANDRO PETRAGLIA, MICHELE PLACIDO, FIDEL SIGNORILE

CAST: RICCARDO SCAMARCIO, LOUIS GARREL, ISABELLE HUPPERT, MICAELA RAMAZZOTTI, LOLITA CHAMMAH, MICHELE PLACIDO, VINICIO MARCHIONI, GIANFRANCO GALLO, MONI OVADIA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Kunstgeschichte im Kino zu genießen kann zur immersiven Erfahrung werden. Was Filmemacher dabei gerne versuchen, ist, den Stil des zu beschreibenden Virtuosen in die Optik ihres Werkes einzubringen. Meister dieser Vorgehensweise ist zweifelsohne Peter Greenaway – Szenen seines exzentrischen Kunstfilms A Zed and Two Noughts muten an, als hätte Jan Vermeer höchstpersönlich seine Sicht auf die Welt auf die Leinwand gepinselt. Indirektes Licht aus unsichtbaren Fenstern oder nicht näher definierten Lichtquellen beleuchten historisches Interieur und im niederländischen Barock zu verortende Personen, stehend auf Schwarzweiß gemusterten Schachbrettböden. Für so viel Akkuratesse braucht es einen fast schon obsessiven Willen zur manieristischen Nachahmung. Des Weiteren beeindruckt sein Rembrandt-Krimi Nightwatching mit Set-Tableaus, die so manches Werk des Avantgardisten eins zu eins nachstellen.

Ein ähnliches Gemälde-Lookalike wagt Michele Placido, vorrangig bekannt als Hauptdarsteller der 80er-Fernsehserie Allein gegen die Mafia, in seiner teils wüsten und hemdsärmeligen Genius-Biographie Der Schatten von Caravaggio. Der Entstehung des Gemäldes Tod Mariä, welches als Teil der ständigen Sammlung im Pariser Louvre zu bewundern ist, schenkt Placido enorm viel Aufmerksamkeit – im Grunde beherrscht diese Erarbeitung des Meisterwerks den ganzen Film, denn die in rotem Leinen gehüllte Tote mag zwar titelgebend die Mutter Jesu Christi sein, als Modell gestanden soll dem Meister eine längst bekannte Prostituierte sein, die irgendwann später den Weg in den Tiber wählt und deren Leichnam von Caravaggio und seiner Entourage geborgen werden wird.

Diesen Versuch, oder besser gesagt, dieses aus der Sicht der Kirche zweifelsohne ketzerische Wagnis, die Ärmsten der Armen und sozial Ausgestoßenen in den Rang von Heiligen zu erheben, ihnen also einer Apotheose auszusetzen, die jedwede Hierarchie zusammenbrechen lässt, gleicht einer gesellschaftspolitischen Revolution. Caravaggio, eigentlich Michelangelo Merisi, ist als bärbeißiger Berserker seiner Zeit weit voraus. Das lässt sich allein schon am Stil seiner Bilder erkennen, die den viel späteren Expressionismus vorwegnehmen, die, so wie Rembrandt, einem kanonischen Ideal entsagen und Gesichter von der Straße, vom Bettler über den Säufer bis zum leichten Mädchen, für die Ewigkeit auf die Leinwand brachten. So wie Merisis Leben von Gewalt, Konflikten und letztlich des eigenen unnatürlichen Todes geprägt war, so spiegeln sich diese Umtriebe in seinen Bildern wider. Dort fließt das Blut, dort stürzt Saulus vom Pferd, dort kreischt das Haupt der Medusa ihren letzten Unmut ob ihrer Niederlage in die Gesichter der Betrachtenden. Caravaggio ist düster und ungefällig – die Kirche hat sein Kreuz mit ihm zu tragen. Und nicht nur die: Des Mordes beschuldigt, muss der Maler in Neapel im Hause Colonna Asyl suchen.

In gemäldehafter Optik erkämpft sich Riccardo Scamarcio (zuletzt gesehen in Kenneth Branaghs A Haunting in Venice) seine durch die kirchliche Obrigkeit andauernd bedrängte Freiheit – eitler Gegenpol ist Louis Garrel als Inquisitor des Papstes, der dem Künstler wie ein Schatten folgt, um diesen der Kirche auszuliefern. Bestehend aus diversen Rückblenden, die Caravaggios Werdegang beschreiben und seine Motivation für seine Arbeit erklären, legt Michele Placido letztlich ein unzimperliches Puzzle zusammen, das in betörend-schwülstiger Optik vor brutalen Spitzen und angedeuteten Orgien nicht Halt macht. Mitunter ist seine Aufarbeitung der Geschehnisse durch den scheinbar recht willkürlichen Wechsel zwischen den Zeitebenen sowie all der Schauplätze eine recht zerfahrene Angelegenheit. Wie ein Skizzenblatt im Wind geistert sein biographischer Thriller umher, schwer einzufangen, aber doch wert, ihm nachzujagen. Diese impulsive Fahrigkeit sorgt im späten Mittelteil für Ermüdung. Kann sein, dass der Film so einige Längen hat, die nochmal und nochmal Caravaggios Mentalität thematisieren wollen – dazwischen so einige kunstgeschichtliche Aha-Erlebnisse, die Kenner seines Oeuvres zum erhellten Flüsterer im dunklen Kinosaal werden lassen.

Eine exorbitant gelungenes Künstlerepos ist Der Schatten von Caravaggio nicht geworden, dafür aber macht dieser Blick auf die schmutzig-düstere Seite des Frühbarock Lust, so bald wie möglich wieder ins Museum zu gehen. An seinen Bildern haftet von nun an und zumindest für eine Zeit lang ordentlich Background, bevor die gefüllten Lücken in Sachen Themenbildung wieder aufgehen.

Der Schatten von Caravaggio (2022)

La Chimera (2023)

ITALIEN MIT DER WÜNSCHELRUTE

6,5/10


lachimera© 2023 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: ITALIEN, FRANKREICH, SCHWEIZ 2023

REGIE / DREHBUCH: ALICE ROHRWACHER

CAST: JOSH O’CONNOR, CAROL DUARTE, ISABELLA ROSSELLINI, ALBA ROHRWACHER, VINCENZO NEMOLATO U. A.

LÄNGE: 2 STD 10 MIN 


Alice Rohrwacher hat Feuer. Jedenfalls merkt man das, wenn man ihr zuhört. Auch wenn die italienische Autorenfilmerin zwar nicht persönlich zum Filmfestival der Viennale zugegen sein konnte, so hat sie es sich immerhin nicht nehmen lassen, via Zoom (ja, es hat funktioniert) und von der großen Leinwand über ein vollbesetztes Gartenbaukino hinweg aus ihrem Film zu erzählen. Da gab es nichts Diktiertes, und auch keine Message Control. Autarkes Filmemachen braucht sowas nicht, denn es hat eine Vision. Und zwar nicht eine Vision über Profit und den lukrativen Weltmarkt, sondern über den Stoff an sich, für den kaum ein Einsatz zu groß sein kann. Wie zum Beispiel für Filme wie La Chimera.

Dort, wo der Mainstreamfilm längst anfangen müsste, über seine kreativen Ziele zu reflektieren und sich in repetitiven Schablonen verliert, die so abgestumpft sind, damit sie tunlichst für jedes Zielpublikum taugen, bringen Filmemacher mit Herzblut ihre zum größten Teil selbst verfassten, nicht für alle gefälligen Geschichten auf die Leinwand. Und das, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen. Genau dafür sind Filmfestivals wie die Viennale ins Leben gerufen worden – um, erleichtert aufatmend, den Pulsschlag des Kinos zu spüren. Das Mainstreamkino kippt vielleicht irgendwann aus den ausgetretenen Latschen, in absehbarer Zeit. Jenes von Alice Rohrwacher längst noch nicht. Dabei hatte ich die Dame anhand ihrer Werke erst 2018 kennen und schätzen gelernt. Ihr bezaubernder, trauriger und ungewöhnlicher Film Glücklich wie Lazzaro hat wiedermal den anderen Blick erlaubt. Auf Möglichkeiten, wie man Kino noch erfahren kann. Im Retro-Look, aber narrativ doch ganz anders, erzählt dieser Film die bittersüße Ballade eines herzensguten Menschen, der sich an den sozialen Bedürfnissen der anderen letztendlich aufreiben wird.

Ihr brandneuer Spielfilm taucht tief in die römische Geschichte ein, was aber nicht heißen soll, La Chimera ist Historienkino mit Sandalen und Toga. Rohrwacher kreiert ihren laut Indiewire „besten Indiana Jones Film des Jahres“ als eben das: als ganz eigene Interpretation eines Schatzsucher-Abenteuers, eng verbunden mit italienischer Identität und der sinnbildlichen Auseinandersetzung mit einem nahezu janusköpfigen Gemüt einer scheinbar ewigen Nation zwischen Vermächtnis, Gegenwart und draufgängerischer Zukunft. Interessanterweise ist die Hauptfigur, anders als Lazzaro, kein Italiener, sondern ein Brite. Josh O’Connor (u. a. Emma, Ein Festtag) dürfte sich laut Rohrwacher anhand eines Briefes an die Filmemacherin gewandt haben, womöglich mit der dringenden Bitte, diese Rolle spiele zu dürfen. Trotz ihrer Vorstellung, den Vagabunden Arthur als weitaus älter erscheinen zu lassen, hat O`Connor diese Rolle schließlich erhalten. Und er macht sich gut als aus dem Gefängnis entlassenes, ruhe- und heimatloses Medium, das die Fähigkeit besitzt, etruskische Gräber aufzuspüren – Hohlräume unter der Erde, versiegelt seit dem Damals, und vollgefüllt mit wertvollen Grabbbeigaben. Natürlich tut er das nicht nur für sich selbst – eine kleine Bande Grabräuber nutzt seine Fertigkeiten, um ans große Geld zu kommen. Verhökert werden die Artefakte an einen mysteriösen Mr. X, genannt Spartaco. Doch das ist nicht die einzige Bestimmung, die Arthur durch eine ungewisse, sich stetig verändernde Zukunft treibt: Er ist auf der Suche nach seiner großen Liebe Benjamina, die eines Tages plötzlich verschwand. Vielleicht findet sich die Antwort in einem der Gräber, vielleicht in seinen Träumen. Die Irrfahrt des Arthur gerät zur Legendenbildung, zum Stoff für eine Ballade, die von Barden besungen wird, die ebenfalls aus der Zeit gefallen zu sein scheinen und dem ganzen märchenhaften Abenteuer zur poetischen, freien Interpretation einer antiken Sage werden lassen: Orpheus und Eurydike.

Hätte Rohrbacher diese Analogie nicht erwähnt, mir wäre eher Theseus und Ariadnes Faden in den Sinn gekommen. Denn dieser Faden aus dem Kleid von Benjamina spinnt sich durch die ganze Geschichte. Es brilliert die großartige Isabella Rossellini als fellineske Vertreterin eines vergangenen Italiens, es kokettiert Carol Duarte mit dem melancholischen Indiana Jones, der zwischen Realität und Vision umherwandelt und nirgendwo Ruhe findet. La Chimera ist die Geschichte eines Getriebenen, den das Gestern und Heute Italiens herausfordern. Rohrwachers Bilder sind voll zarter Poesie, weit weg vom Neorealismus eines Visconti oder der resoluten Mentalität einer Sophia Loren. Dieses Italien, mit all seinen Schätzen und seiner Geschichte, schwimmt dahin wie die vage Nacherzählung eines Epos, die frei formulierte Charakterisierung einer sehnsüchtigen Heldengestalt.

Doch so überraschend einnehmend Rohrwachers Lazzaro damals gewesen war: Die Intensität dieses Films erreicht La Chimera nicht. Kann ein Film zu spielerisch sein? Dass sich die Stilistin zu sehr in ihren Interpretationen verliert und vielleicht gar zu viel will? Hier lässt sich beides fast vermuten. Das kauzige Abenteuer mit dem Spirit idealistischer Outlaws gerät unruhig, vielleicht manchmal auch fahrig. Hat den Enthusiasmus Rohrwachers als brummenden Motor hinter sich, irrt aber manchmal genauso umher wie sein Protagonist. Keine Frage, La Chimera ist ein sehenswertes Stück leichtfüßiges Kunstkino, fabulierend, bunt und analog. Mehr Konzentration auf Arthurs Odyssee, auch in Bezug darauf, was ihn mit seiner verlorenen Geliebten eigentlich verbunden hat, hätte diesen magischen Realismus in die richtige Balance gebracht.

La Chimera (2023)

Human Flowers of Flesh (2022)

IM UND AM UND UMS MEER HERUM

6,5/10


humanflowersofflesh© 2022 Grandfilm


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, FRANKREICH 2022

REGIE / DREHBUCH: HELENA WITTMANN

CAST: ANGELIKI PAPOULIA, VLADIMIR VULEVIĆ, MAURO SOARES, GUSTAVO DE MATTOS, FERHAT MOUHALI, STEFFEN DANEK, DENIS LAVANT U. A.

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Darauf muss man sich einlassen, darin muss man eintauchen wollen, denn fast ist es so, als ob einen selbst während der Sichtung dieses Films die Gewissheit ereilt, nicht schwimmen zu können. Haltlos geht man unter, denn Halt bietet das Kunstwerk hier keinen. Worum sich die Schiffreise genau dreht, was Ida (Angeliki Papoulia) eigentlich will und in welchem Verhältnis sie zu den fünf auf ihrem Schiff befindlichen Männern steht, die von überall aus der Welt herangereist sind: Helena Wittmann wird uns darüber wohl niemals aufklären. Wie also einen Film sehen, der ganz bewusst ins Meer hinaustreibt, als wäre die Strömung der einzige rote Faden in dieser kryptischen Geschichte, die nicht mal eine sein will. Viel lieber starrt Wittmann aufs Meer hinaus, auf die Gezeitenzone hin, wenn sich Schaumkronen bilden, darunter verschiedenfarbiges Blau bis hin zu Aquamarin oder gar Hellgrün. Das Wasser hat in Human Flowers of Flesh eine hypnotische Wirkung und scheinbar minutenlang wendet sich die Kamera nicht davon ab. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als in dieses unbezwingbare Element so lange hineinzusehen wie in Nietzsches Abgrund, der sich folglich im Betrachter selbst verliert.

Schließlich muss auch mal klar sein, worauf man sich einlassen will. Doch wie erkennen, ob ein Film wie dieser, der allen gängigen Erzählweisen entgegenläuft und all die Lehrbücher, in denen geschrieben steht, wie sich Filme dramaturgisch aufbauen müssen, über Bord wirft, die ganze aufgebrachte Geduld überhaupt lohnt. Human Flowers of Flesh ist am Ende des Sommers ein Werk, das mit seinen ersten Sequenzen zumindest nochmal an die mediterrane Küste einlädt – zu Sonne, Zikadenzirpen und eben an das wunderbar (be)rauschende Meer. Doch schnell kann’s gehen und nach der langsamen Einführung ins Geschehen, auf welche wiederum kein Geschehen in klassischem Sinne folgt, möge die Einsicht dämmern, einer künstlerischen, aber unerhört langweiligen Reise beizuwohnen, deren zentrale Figur, nämlich Ida, im ganzen Film nicht mehr spricht als vielleicht, wenn’s hochkommt, drei Sätze. Wortlos bleiben auch die meisten hier, all die fünf Männer, die man anfangs schwer auseinanderhalten kann, weil sie sich eben durch nichts, was sie tun, voneinander unterscheiden. Später steht der eine am Steuerrad, während der andere die Halterung fürs Tau putzt. Wieder ein anderer starrt so wie wir stoisch aufs Meer, während ihm später im Beisein des Publikums die Augen zufallen vor lauter Monotonie an Bord eines Seglers, der nicht mal einen Namen trägt – zumindest wir erfahren ihn nicht.

Angeblich soll die Reise bis nach Algerien gehen, mit Zwischenstopp auf Korsika. Erfahren lässt sich dies nur, wenn man ganz genau aufpasst, alles andere bleibt ein Geheimnis. Irgendwie hat die Reise auch mit der Fremdenlegion zu tun, mit Sidi Bel Abbès, dem Zentrum für jene, die bei glühender Hitze und besungen von Freddy Quinn durch ihre zwangsläufig heißgeliebte Wüste stolpern. Die Ferne, die Weite – beides Metaphern in Helena Wittmanns Biotop der Eindrücke. Je länger die Reise andauert, umso mehr verliert sie sich in Tagträumen, thalassophobischen Reizbildern, gluckernden Klanginstallationen und dem mikroskopischen Treiben von Plankton. Dann wieder der lange Blick auf ruhelose Seelen, die blicken. Die sich nichts zu sagen haben, die Briefe schreiben mit Gedichten anderer.

So ungehörig abstrakt und jenseits jeglicher Normen sind unter anderem auch die Werke des Thailänders Apichatpong Weerasethakul. Doch dieser hat für seine metaphysischen Tableaus immerhin noch eine lose, aber durchaus zusammenhängende Geschichte, deren Elemente verändert und kryptisch, aber dennoch wiederkehren. Human Flowers of Flesh verzichtet fast gänzlich auf ein Narrativ und lockt ausschließlich Assoziationen aus des Zusehers Reserve. Leicht kann es passieren, dass man sich Wittmanns Idee vom Reisen übers Meer nicht hingeben will, doch dann passieren seltsame Dinge – genau so, als würde man sich wegdenken, auf einer Fahrt der Sonne entgegen, wo Zeit und Raum keine Rolle mehr spielen, und der Mensch durchs Reisen viel näher an seinen Ursprung gelangt als auf andere Art.

Human Flowers of Flesh (2022)

Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten (2022)

LAND DER BEGRENZTEN MÖGLICHKEITEN

7,5/10


bardo© 2022 Limbo Films, S. De R.L. de C.V. Courtesy of Netflix


LAND / JAHR: MEXIKO 2022

REGIE: ALEJANDRO GONZÁLES IÑÁRRITU

DREHBUCH: NICOLÁS GIACOBONE, ALEJANDRO GONZÁLES IÑÁRRITU

CAST: DANIEL GIMÉNEZ CACHO, GRISELDA SICILIANI, XIMENA LAMADRID, ÍKER SÁNCHEZ SOLANO, LUIS COUTURIER, ANDRÉS ALMEIDA, FRANCISCO RUBIO U. A.

LÄNGE: 2 STD 39 MIN


Die Welt ist am Arsch. Mit diesen Worten will das Baby wieder zurück in den Schoß seiner Mutter. Mateo wird nie seinen ersten Geburtstag erleben – der Tod des Neugeborenen wird als Trauerkloß dem Protagonisten Silverio andauernd vor die Füße rollen. Mit surrealen Szenen wie diese, wenn die meterlange Nabelschnur die Mutter nicht gehen lässt und wenn das Neugeborene zurück in die Vagina dringt, beginnt eine fremdartige, groteske und impressive Reise in eine autobiographisch gefärbte Vergangenheit des mexikanischen Oscar-Preisträgers Alejandro Gonzáles Iñárritu. Spätestens seit seinem Abenteuerdrama The Revenant – Der Rückkehrer und seiner nicht weniger surrealen Ego-Komödie Birdman kennt ihn jeder, der auch nur ein bisschen Ahnung vom Kino hat. Iñárritu ist Autorenfilmer durch und durch. Biutiful ist meines Erachtens sein bestes Werk. Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten reicht nahe an ihn heran, bleibt aber viel mehr auf Distanz und genießt es geradezu, seinem Publikum mancherorts fremd zu bleiben. Bardo befragt das Gewissen von Iñárritus Alter Ego, stochert in seinem Unterbewusstsein, lässt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft jenseits allen chronologischen Verständnisses insofern verschmelzen, dass die Figur des Silverio die Gabe besitzt, in die Zukunft zu visionieren und mit den Erinnerungen an seine fiktiven Werke in die Vergangenheit einzutauchen.

Die wirkliche Meisterleistung von Bardo ist die Magie, die entsteht, wenn Realität und Vorstellungskraft einander aufheben. Wenn beide Bewusstseinsformen ihre Plätze tauschen, und erst lange Zeit später allerlei daraus entstehende Rätsel ihre Antwort finden, egal, ob richtig oder falsch. Iñárritu lässt niemanden in seinem Krypto-Kaleidoskop dumm sterben. Wenn, dann immer mit Erleuchtung. Und das ist das Schöne an seinem Film.

Mehr oder weniger steht der Regiemeister selbst im Mittelpunkt. Seine Figur ist, wie bereits erwähnt, ein seit rund 20 Jahren in den Vereinigten Staaten lebender Dokumentarfilmer und Journalist, der allerlei extravagante Werke vollbracht hat, die sich mit der Geschichte seines Heimatlandes Mexiko auseinandergesetzt haben. Sei es die Eroberung Spaniens durch Hernan Cortez oder der Amerikanisch-mexikanische Krieg im 19. Jahrhundert. Silverios Arbeiten sind aufbereitet wie Spielfilme, in denen der Macher selbst als Erzähler und Befrager durch die Epochen dringt, um sich zu vergewissern, ob die Gegenwart aus der Vergangenheit auch wirklich gelernt hat. Vielen stößt das sauer auf, gerade in Mexiko. In Amerika wird er gefeiert und hofiert und sollte demnächst einen bedeutenden Journalistenpreis entgegennehmen. Zuvor allerdings begibt er sich an den Ort seines damaligen Aufbruchs, nach Mexiko City. Wird auch dort gefeiert und zu einer Talkshow geladen, die ihm allerdings Angst macht. Denn was wird das Volk wohl wissen wollen? Würden sie ihm den Verrat seines Landes vorwerfen? Würden sie ihn als Nestbeschmutzer verurteilen? Und wie sieht seine eigene Familie das Euvre seines Schaffens? Sein Lebenswerk? Fragen über Fragen, die sich Silverio selbst stellt. Die sich aus seiner Sicht manifestieren, die ihn quer durch seine Erfolgsstory, aber auch durch seine dunkelsten Stunden geleiten.

Das kann man langweilig finden, und ich würde es verstehen. Oder man lässt sich drauf ein, lässt sich reinfallen in einen von Darius Khondji wild komponierten Bildersturm aus verzerrten Weitwinkeltableaus, die stets das Gefühl vermitteln, in einer Traumwelt zu sein. Die irreale und die reale Welt entsprechend zu markieren, damit es dem Zuseher vielleicht leichter fällt, die Orientierung zu bewahren – darauf gibt Iñárritu gar nichts. Das Gesamtbild setzt sich am Ende ohnedies zusammen. Den Wagemut also, und die Bereitschaft, den Zuseher zu fordern, auch wenn dieser vielleicht genervt das Handtuch wirft – sind künstlerische Verhaltensweisen, die dem Medium Film seinen Puls geben.

Was man von Bardo erwarten, wie man es einschätzen kann? Vergleichbar ist der Film mit Paolo Sorrentinos La Grande Belleza – Die große Schönheit. Und tatsächlich haben beide Filmemacher in den subjektiven Beobachtungen ihrer Heimat ähnliche Methoden erarbeitet, um Respekt, Würde, Sehnsucht und Kritik walten zu lassen. So kraftvoll und durchblutet wie La Brande Belleza ist eben auch dieses, mit 2 Stunden und vierzig Minuten deutlich überlange Werk – und auch von daher kein gefälliges Erlebnis, sondern etwas, das sich lustvoll erarbeiten lässt. Dass neugierig macht auf jede nächste Szene, auf jeden nächsten Einfall. Und wieder ist der Traum, statt wie angenommen, doch noch die Wirklichkeit. Lösen sich kryptische Bilder in Erkenntnis auf. Das ist jedes Mal wie Luftholen, bevor man erneut abtaucht.

Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten (2022)