Crimes of the Future (2022)

DAS ZEITALTER DER AUFSCHNEIDER

7/10


crimesofthefuture© Serendipity Point Films 2021


LAND / JAHR: KANADA, GRIECHENLAND 2022

BUCH / REGIE: DAVID CRONENBERG

CAST: VIGGO MORTENSEN, LÉA SEYDOUX, KRISTEN STEWART, SCOTT SPEEDMAN, DON MCKELLAR, NADIA LITZ, WELKET BUNGUÉ, TANAYA BEATTY U. A.

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet und der letzte Fisch gefangen ist, werden wir feststellen, dass man Geld nicht essen kann – vielleicht aber unseren eigenen synthetischen Müll. In diese Richtung könnten wir uns vielleicht vorwärtsbewegen, wenn wir schon dahingehend die Spur verloren haben, wenn es heißt, Schmerz zu empfinden. In David Cronenbergs neuer Body-Prophezeiung finden wir uns in einer Zukunft wieder, deren Gesellschaft von einem Körperfetischismus unterwandert wurde, der zwischen Aktionskunst und römischen Orgien des Pudels Kern auf den Grund gehen will. Mit anderen Worten: Der Mensch der Zukunft wird zum Aufschneider seiner selbst. Operationen sind das neue Kaffeekränzchen oder gar der neue Sex. Sich ins eigene Fleisch schneiden ist nun längst kein Begriff dafür, sich in irgendeine ausweglose Situation hineingeritten zu haben, sondern für eine völlig neue Wahrnehmung, die einem Rausch gar nicht so fern scheint und wofür es keine Drogen braucht, sondern nur das Empfinden des Körpers, wenn dessen Physis Schaden erleidet und kein Gefühl des Schmerzes mehr alle anderen übertüncht.

Wie sehr muss der Mensch sich selbst abgestumpft haben, um dorthin zu gelangen, wo Cronenberg sie sehen will: In einer Welt, die, außer sich selbst zu sezieren, nichts mehr zuwege bringt. Star dieser grotesken Gesamtsituation ist Saul Tenser (Viggo Mortensen), ein Künstler, der unter eine Krankheit leidet, die man in diesen Zeiten als Beschleunigtes Evolutionssyndrom bezeichnet. Zur Folge hat dies das blitzartige Heranwachsen rätselhafter Organe, deren Funktionen nicht geklärt sind – und die Künstlerkollegin Caprice (Léa Seydoux) vor Publikum aus Tensers Körper schneidet. Schließlich empfindet dieser keinen Schmerz, und wenn doch, dann nur nachts. Hierfür bettet sich der Exzentriker in eine biomechanische, nach ein extraterrestrisches Spinnentier erinnernde Schlafkuhle, die den Schmerz ausgleichen soll. Wenig später trifft der stets Verhüllte auf einen trauernden Vater, der seinen verstorbenen Sohn zur künstlerischen Autopsie freigeben will, um damit der Menschheit ein Geheimnis zu verkünden, das die Welt für immer verändern wird.

David Cronenberg hat seine Berufung darin gefunden, unseren Organismus aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und Geist und Körper auf Konfrontationskurs zu schicken. Sei es nun Jeff Goldblum als Wissenschaftler, der sich die Gene einer Fliege einverleibt, sind es nun virtuelle Welten, die übers Rückenmark gespeist werden wie in eXistenZ oder der Kick als Crash Test Dummie: Immer will Cronenberg unsere Wahrnehmung auf die fleischliche Hülle nicht nur dem Lustprinzip opfern, sondern auch kritisch betrachten – Crimes of the Future ist hier keine Ausnahme. In dieser Dystopie hat Homo Sapiens jeglichen Bezug zu sich selbst verloren, die Sensorik liegt irgendwo jenseits. So, als würde man die eigene fleischliche Hülle nach einer Exkarnation von außen betrachten, als wäre man selbst nicht Teil davon. Diese gestörte Beziehung bringt Cronenberg auch dem Zuseher nahe, der keinerlei Probleme damit haben sollte, dabei zusehen zu müssen, wie Abdomen aufgeschnitten oder Mund und Augen im Zuge eines künstlerischen Akts vernäht werden. Körper ist Bühne und Leinwand, wie schon bei Greenaways Die Bettlekture. Körper ist aber auch etwas, das sich innerhalb der natürlichen Selektion weiterbewegt. Julia Decournau ist in Titane zwar weniger global gerichtete, aber ähnliche Wege gegangen. Ob Techno-Hybrid oder plastikverzehrende Mutanten: die Gedankengänge des Kanadiers sind es wert, beobachtet zu werden. Natürlich darf man nicht erwarten, dass Cronenberg einem entgegenkommt. Seine Filme sind bewusst auf wenige Schauplätze reduziert, seine Settings sind spartanisch und versprühen den Charme eines Heizungskellers, während sich obskure Registraturen in versifften Büroräumen im Anachronismus suhlen und die unruhigen Träume eines Franz Kafka visualisieren, die er vielleicht gehabt haben könnte, hätte er weniger dem System als vielmehr dem kreatürlichen Dasein mehr Zeit gewidmet als nur jene, die er für seine Erzählung Die Verwandlung genutzt hat.

Unvergessen bleibt aus Cronenbergs eXistenZ zum Beispiel jene Szene, in der Jude Law aus den Resten eines diffusen asiatischen Gerichts eine Pistole aus Knochen formt. Ähnliche Apparaturen, deren Funktionen kryptisch bleiben, gibt es auch hier, und mitunter schwingt hier die Fantasie eines H. R. Giger mit, wenn sich Mensch und Maschine vereinen. All diese Erscheinungsformen und Darstellungen existenzieller Verirrung fügen sich in diesem nachdenklichen und melancholischen Film zu einer somatologischen, zwangsläufig blutigen Nabelschau zusammen, die dank ihrer Ästhetik sehr artifiziell wirkt, dadurch auch selten verschreckt oder ihr Publikum mitunter nicht abholen wird. Für mich jedenfalls bleibt Crimes of the Future ein mysteriöses Zaudern vor der nächsten Stufe in der Entwicklung des Menschen, der sich mit seiner Zukunft ins eigene Fleisch geschnitten hat. Diesmal im übertragenen Sinn.

Crimes of the Future (2022)

Nope

AM ENDE DER NAHRUNGSKETTE

8,5/10


nope© 2022 Universal Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: JORDAN PEELE

CAST: DANIEL KALUUYA, KEKE PALMER, STEVEN YEUN, BRANDON PEREA, MICHAEL WINCOTT, WRENN SCHMIDT, KEITH DAVID U. A.

LÄNGE: 2 STD 10 MIN


Das relevante Kino der Gegenwart bekennt sich längst zur Aufgabe, um die Ecke zu denken, gewohnte Blickwinkel abzubauen und woanders neu zu errichten. Formelhaftigkeit zu unterwandern und allzu bequeme Komfortzonen zu verlassen, die uns als Publikum sonst nur ermüden würden. Das Kino der Gegenwart entfesselt sich gern selbst, wenn es schon andere nicht für ihn tun. Stößt spielerisch vor den Kopf und denkt auch nicht mehr in Genre-Schubladen. Um einige der Vertreterinnen und Vertreter zu nennen: Julia Ducournau zum Beispiel – ihr Film Titane nimmt gerne in Kauf, nicht zu gefallen. Eskil Vogts The Innocents ebenso. Der Rumäne Radu Jude oder der diesjährige abermalige Palme-Gewinner Ruben Östlund irritieren und verstören, haben aber das erkennbare Konzept einer konsequent zu Ende gedachten Theorie unter ihren Film geschoben. Da fällt nichts aus dem Rahmen, obwohl das ganze Werk aus dem Rahmen fällt. Zu dieser – wie ich sie gerne nenne – neuen Avantgarde zählt nun auch mit seinem dritten, selbst verfassten, erdachten und produzierten Autorenfilm, der auf niemanden sonst wirklich angewiesen zu sein scheint, Jordan Peele. Mit Get Out hat er Oscar-Geschichte geschrieben und den Grund für die versöhnliche Integrität von Schwarzen in einer Welt der Weißen herausgefunden. In Wir begegnet eine urlaubende Familie sich selbst – was keine entspannte Zerstreuung bringt.

In Nope, Peeles neuestem Streifen, rudert der kultivierte Mensch der Gegenwart mit den Armen im Wasser, um nicht im Entertainment zu versinken. Als Wesen am Ende der Nahrungskette wird diesem bei all seiner medialen Versumpfung, die gutes Geld verspricht, nur langsam bewusst, dass das arglose Saurauslassen ein Ende haben könnte, da die Beute nicht mehr nur alles andere ist, sondern auch der Mensch selbst. Am Ende der Nahrungskette steht – oder fliegt – etwas ganz neues. Vielleicht ein extraterrestrischer Aggressor wie in Independence Day oder Mars Attacks? Oder vielleicht ist das ganze nur eine initiierte Show in einer Welt voller Shows, die aus dem Präsentieren von sich selbst und anderen gar nicht mehr herauskommt.

In dieser Welt, die anmutet wie das Setting eines modernen Westerns, betreibt Daniel Kaluuya als phlegmatischer Kerl namens OJ eine Ranch für Filmpferde. Das muss er wohl, ob er will oder nicht, denn OJs Vater kam bei einem seltsamen Vorfall ums Leben. Da fielen Dinge vom Himmel, Gegenstände und Bruchstücke, Schlüssel und Münzen. Eines dieser größeren Dinger traf den Vater – OJ ist also auf sich allein gestellt und scheint den Laden ohne seine aufgeweckte Schwester (Keke Palmer) nicht schmeißen zu können. Unweit der Farm gibt es auch noch den ehemaligen Kinderstar Ricky, der das Trauma einer missglückten Schimpansen-Sitcom (Planet der Affen lässt grüßen) immer noch verarbeiten muss und mittlerweile seinen eigenen Vergnügungspark unterhält, mit Shows, die das Leben und die Sicht auf die Dinge verändern sollen. (Detail am Rande: den Affen verkörpert Choreograph Terry Notary, der „Urmensch“ aus Östlundts The Square.) Doch was der Mensch gerne verdrängt – Nope, das mag ich nicht und interessiert mich auch nicht ­– fällt bald aus allen statischen Wolken: eine fliegende Untertasse macht bedrohliche Anstalten, alles in sich aufzusaugen, was bei drei den Blick nicht senkt.

Weiß man schon vorher nicht, welche Richtung Nope gerne einschlagen will, hat man später lediglich die intuitive Wahl, auf einem der Züge aufzuspringen, die da losfahren. Peele zollt nicht nur der Filmgeschichte in Bezug auf schwarze Minderheiten ausführlich Respekt, mit einer kleinen Lehrstunde so ganz nebenbei. Er öffnet überdies seinen Geist und assoziiert vieles, was ihn womöglich Zeit seines Lebens nicht minder beeinflusst hat, um Filmemacher zu werden. Die kreative Ausbeute ähnelt einem Mysterientheater, dass sein Vorspiel in kleinen, suggestiven und irreführenden Szenen absolviert, bevor das Seltsame, Monströse eine Schlagkraft erreicht, die in kurioser visueller wie narrativer Ausgestaltung so manchen sattelfesten Reiter vom Pferd holt. Nope ist ein Film, der sich so entwickelt wie Ravels Bolero, adagio beginnend, um am Ende als crescendo auf Konfrontation zu gehen. In dieser Steigerung liegen aber, wenn man genau hinhört, mehrere autarke Schichten übereinander, die jeweils eigene Situationen schildern und in Summe die Diagnose eines gesellschaftlichen Zustands wiedergeben, der sich in einer gewissen Schicksalsergebenheit darüber äußert, dass der Mensch jene Welt, die ihn umgibt, immer weniger verstehen, geschweige denn interpretieren kann. Nope handelt von Kapitalismus, Ignoranz und Provokation und das überraschende Katapultieren in ein Beuteschema, das wir für uns selbst nicht vorgesehen haben.

Nope ist mitunter furchteinflößend und übermannend, andererseits kauzig und tragikomisch, dann wieder knallbunt und wunderschön. Peele findet Bilder, die man nicht so schnell vergisst. Einen Rhythmus, der in Trance versetzt, lässt man sich darauf ein. Und einen Ton, der als akustischer zweiter Film in den Ohren knackt, dröhnt und surrt. Das Hören ist in Nope genauso wichtig wie das Sehen, beides schafft die komplexe Atmosphäre eines Erlebnisses der Dritten Art, das einst Richard Dreyfus in Spielbergs Klassiker Unheimliche Begegnung der Dritten Art so nachhaltig prägen wird. Peele ist ein Meister der Reduktion – die Kunst des Weglassens und Andeutens hat schon Gareth Edwards in Monsters so gut gekonnt. Peele perfektioniert es und lässt in seiner beängstigenden X-Faktor-Bedrohung das Publikum aus allen Wolken fallen. Am Ende lässt sich der Avantgardist aber zu etwas hinreißen, was ich seinen Helden wohl vorenthalten hätte. Vielleicht nimmt er damit seiner Aussage den Wind aus den aufgeblähten Segeln, doch leicht kann es sein, und der Film will in Wahrheit etwas ganz anderes, als ich annehme. Macht aber nichts – Filme, über die man lange rätseln kann, bleiben auch lange im Gedächtnis. Und sind allein dadurch fast schon genial.

Nope

The Cabin in the Woods

RAUS AUS DER SCHUBLADE

7,5/10


cabin-in-the-woods© 2011 Metropolitan Film Export


LAND / JAHR: USA 2011

REGIE: DREW GODDARD

SCRIPT: DREW GODDARD, JOSS WHEDON

CAST: KRISTEN CONNOLLY, CHRIS HEMSWORTH, ANNA HUTCHISON, FRAN KRANZ, JESSE WILLIAMS, RICHARD JENKINS, BRADLEY WHITFORD, AMY ACKER, SIGOURNEY WEAVER U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Wandert man in Österreich über Almen und durch Wälder der Region, laden so einige schmuck-rustikale Hütten zum Mieten ein, natürlich Selbstversorger und mit Kaltwasser aus dem Brunnen. Wer hier temporär einzieht, will es aber sowieso nicht anders. Umgeben von dunklem Grün und saftigen Wiesen und vielleicht auch einem kleinen Bergsee, lässt es sich hier gut zur Ruhe kommen. Und manchmal auch ein Ende finden. Denn je abgelegener so ein Holzhäuschen auch liegt, umso bessere Stücke spielt die Fantasie vorwiegend in den Nachtstunden. Kann sein, dass etwas Monströses durch den finsteren Tann streift. Oder die Kühe auf der Heide einem die Tür einrennen wollen. Wenn’s keine Kühe sind, dann vielleicht Zombies? Bei Joss Whedon sind diese allerdings nicht mit der krachledernen ausgestattet, sondern mit allem, was sich zum Foltern gut eignet.

Klingt nach sattelfestem Splatterhorror zwischen The Hills Have Eyes und Tanz der Teufel? Horrorfans fühlen sich bei so einem Setting gut aufgehoben, doch schon nach der ersten Szene könnte gerade dieses Wiegen in Sicherheit zu gravierenden Verwirrungen führen. Ist das überhaupt der richtige Film? Was machen zwei adrett gekleidete Beamte in einem Kontrollzentrum irgendwo im Nirgendwo, die über Alltägliches quatschen und mit Kaffee sowie morgendlichem Arbeitseifer an ihre Monitore gehen? Wie jetzt Splatterhorror? Was ist mit den Untoten? Kommt schon noch. Kenner des Films The Cabin in the Woods werden sich diesen bereits mehrmals zu Gemüte geführt haben, denn jenen Ort, an welchen Drew Goddard mit Mastermind Joss Whedon (der sich ja mittlerweile selbst durch seine angeblich tyrannische Set-Präsenz bei Justice League ins Aus manövriert hat) unterwegs ist, erreichte man bis dato eigentlich nur durch verfilztes Dickicht. So, als gäbe es ihn gar nicht. Der Pfad musste also erst geschlagen werden.

Und auch im Schwingen der dramaturgischen Machete waren Goddard und Whedon wenig zimperlich, ja geradezu avantgardistisch. So einen Genremix wie The Cabin in the Woods muss man erst hinzaubern. Whedon war aber wohl schon gut im Training – sein Buffyverse war seinerzeit auch nicht nur in einschlägigen Stilgewässern unterwegs, hier wechselte das Spiel zwischen Teeniekomödie, trashiger Fantasy und Gothic-Horror. Zeitgleich mit seinem Einstand als Thor durfte Chris Hemsworth in diesem absurden Kosmos aus okkultem Slasher und eines Science-Fiction-Szenarios, das irgendwie an die paranoiden Ideen eines H. P. Lovecraft erinnert, mit Freundin und Freunden besagte Waldhütte belegen, die noch dazu einen Keller hat, in welchem sämtliche Artefakte ruhen, deren Verschacherung auf dem Flohmarkt wohl noch anstehen würde, gäbe es nicht so neugierige Nasen wie unser Endzwanziger-Grüppchen, das Paranormales ob der Coolness nur belächelt, sich daraus aber gleichzeitig das wohlige Kribbeln für einen Abend im Düsterwald lukriert. Natürlich ist das der falsche Weg, begonnen mit dem Vorlesen obskurer Sprüche, die eingangs erwähnte Tunichtgute auf den Plan rufen.

Ich wusste schon dank freundschaftlicher Fachsimpelei im Vorfeld – hier wird letzten Endes alles anders sein, als man denkt. Durch diese in kindlicher Spielfreude sichtlich aufgeweckte Machart zwischen Entsetzen und baffem Erstaunen ob der ständig wechselnden Parameter ist das Grauen letzten Endes dazu da, der dunklen Seite des phantastischen Films Tribut zu zollen und Fans des Irrealen an die blutigen Wurzeln vieler Übel zu schicken, die Mythen und Legenden erst zu dem gemacht haben, was sie sind.

The Cabin in the Woods

Corsage

DIE KAISERIN EMPFIEHLT SICH

8/10


sisi© 2022 Alamode Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, LUXEMBURG, DEUTSCHLAND, FRANKREICH 2022

BUCH / REGIE: MARIE KREUTZER

CAST: VICKY KRIEPS, FLORIAN TEICHTMEISTER, KATHARINA LORENZ, COLIN MORGAN, JEANNE WERNER, ALMA HASUN, MANUEL RUBEY, AARON FRIESZ, FINNEGAN OLDFIELD U. A.

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


Eine Kaiserin gehört zum Kaiser! Das hat schon Vilma Degischer in Ernst Marischkas schmuckem Monarchie-Triptychon Sissi – Die junge Kaiserin von sich gegeben. Doch wo sie recht hatte, hatte sie recht. Elisabeth von Österreich-Ungarn war der angehimmelte und auf recht bürokratische Weise geliebte Sonnenschein im Abendrot der Kaiserzeit, in welcher der Verputz bereits von den Wänden bröckelt und man vorausschauend bereits das Mobiliar zumindest in den Gängen bereits für den Winter der Republik aufgetürmt hat. So zumindest in Marie Kreutzers Cannes-prämierter Nabelschau auf einen Mythos, der als breit aufgefächerte Legendengestalt gleich einer Pop-Ikone nicht nur auf Souvenirs aller Art für jeden noch so kleinen Haushalt verewigt, sondern von vorne bis hinten biographisch analysiert, verstanden und nochmals neu verstanden wurde. Deren tägliche Agenda durch Aufzeichnungen ihrer Zofen dargelegt und sowohl als straff organisierte Superheldin genauso interpretiert wird wie als in den goldenen Käfig des Hofzeremoniells gesperrte Rebellin, die bis auf das Königreich Ungarn und Töchterchen Valerie so irgendwie überhaupt nichts interessiert hat, was mit gelebtem Imperialismus zu tun hat. Sisi (nicht Sissi, klingt aber besser) gibt’s als Romy Schneider-Hassobjekt genauso wie als Musical, TV-Serie und Animationsparodie Marke Bully Herbig. Sisi ist längst losgelöst von nur einer historischen Figur. Ein Mythos, von dem man kennt, was andere überliefert haben. Platz genug also, sich von allen möglichen Seiten einer im öffentlichen Interesse niemals für Müdigkeit sorgenden Gestalt zu nähern. Die Freiheit liegt dabei im Auge der Künstler und Filmemacher, die natürlich ihren ganz persönlichen Zugang haben, und die sich selbst womöglich nicht auferlegen müssen, gleich alles, was zu diesem Thema aufliegt, gelesen haben zu müssen.

Dabei entstehen Filme wie Pablo Larrains Spencer über Prinzessin Diana, eine „Leidensgenossin“ Elisabeths. Gefangen im monarchistischen Diktat, verkommen zur Fassade, innerlich aber so bockig wie ein Bulle kurz vorm Rodeo. Und es entstehen Filme wie Corsage, viel mehr Psychogramm und subjektive Huldigung als akkurate Biografie. Will heißen: HistorikerInnen werden ob dieses Werks wohl nicht erfreut sein. Vor die Wahrheit hängt Marie Kreutzer, auch verantwortlich fürs Skript, die samtrote Kordel. Wer die Wahrheit sucht, der sollte woanders suchen. Nicht hier, nicht in diesem Gedankenbildnis aus dem Inneren eines schwer greifbaren Gemüts, das zu seinem vierzigsten Geburtstag mit dem Leben schon gerne abschließen will, denn mit Vierzig ist Frau bereits alt und kaum mehr zu repräsentieren. Ein Gramm zu viel auf den Hüften landet als Schlagzeile in der Presse, ein Blick zu viel auf den Reitlehrer lässt die „Neue Post“ Umsatzrekorde erzielen. Elisabeth strauchelt und geistert durchs Kaiserreich, reist hierhin und dorthin, trifft Ludwig II. oder die Spencers in Großbritannien. Reitet, fechtet, turnt. Um gesellschaftlichen Pflichten zu entgehen, fällt sie gerne absichtlich in Ohnmacht. Und lässt sich später gar doubeln. Kreutzer konzentriert sich dabei auf das Nichtwollen und die rebellische Ablehnung eine in ein Korsett gezwängte Alice im Wunderland. Will Kreutzer also absichtlich Österreichs liebste Kaiserin demontieren oder gar mutwillig in ihre Einzelteile zerlegen? Manche sagen ja. Ich meine: nicht unbedingt. Es ist nur das andere, in weitem Abstand den Marischka-Filmen gegenüberliegende Ende. Ein subjektiver Interpretationsversuch von der Maschekseite, dazu gehören beleidigende Gesten, verfilztes Haar und Zigaretten. Die Befehlsgewalt über ihre Entourage und immer wieder Bäder.

Corsage zeigt sich als loses Portrait ohne konkrete Handlung, als würde ein Expressionist das Bild einer VIP malen. Dabei steht Vicky Krieps in klassischen, wiedererkennbaren Posen Modell. Aber auch auf eine Weise, die mit der gewohnten, liebgewonnenen und schmeichelnden Sichtweise bricht. Das Kappen ihrer stolzen Haarpracht ist dann der schmerzliche Wendepunkt für Sisis Fandom. Wird wohl nie so gewesen sein, wie vieles in Kreutzers Film. Auch Franz Josephs abnehmbarer Backenbart. Corsage kokettiert mit der Gegenwart und nimmt, begleitet vom ungemein nuancierten und hypnotischen Score der Sängerin Camille, das längst fällige Aufmüpfige aus späteren Zeiten vorweg. Lässt sich in seinen Assoziationen zum Mythos Sisi so sehr treiben, bis sich dieser in Nichts auflöst oder im Meer versinkt.

Corsage

Prisoners of the Ghostland

PUPPENTHEATER UNTER DEM ATOMPILZ

3/10


prisonersghostland© 2021 RLJE Films


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: SION SONO

CAST: NICOLAS CAGE, SOFIA BOUTELLA, NICK CASSAVETES, BILL MOSELEY, CHARLES GLOVER, JAI WEST U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Der japanische Allrounder Sion Sono war mir bis zum diesjährigen Flash-Filmfestival in Wien so gut wie gar kein Begriff. Habe ich da bis dato irgendwas versäumt? Ein kleiner, eingeschworener Kennerkreis wird vermutlich ein JA in die Runde rufen – alle anderen, die damit nichts anfangen können, werden auch weiterhin die Finger davon lassen. Und das liegt nicht daran, dass zumindest Sonos letzter Film – Prisoners of the Ghostland – einem Publikum in Sachen Geschmack nicht zuzumuten wäre. Das ganz und gar nicht. Sondern viel mehr deswegen, weil diese phantastische Mär, die sich irgendwo zwischen Mad Max und Barbarella befindet, so sehr selbst fasziniert ist von ihrem in Kostümen schwelgenden Ausdruckstanz, dass Nicolas Cage geradezu Minderwertigkeitskomplexe bekommen könnte, weil der eben nicht so gut tanzen kann und als schwerverbrecherischer Antiheld, der in eine Zwischenwelt reisen muss, um eine junge Frau zu retten, salopp gesagt links liegen gelassen wird. Diese Zwischenwelt nennt sich übrigens Ghostland und hat irgend etwas mit einer atomaren Katastrophe und verstrahlten Knacki-Zombies zu tun. Jenseits dieser Dimension herrscht Westernstimmung. Wie bitte?

Es heißt aber nicht, dass Cages Konterfei einfach nur zur Vermarktung eines kostengünstigsten On Demand-Streifens herangezogen wird, obwohl er nur ein Cameo verbucht. Coppolas Neffe ist ganz vorne mit dabei, und neben ihm räkelt sich Sofia Boutella im späten Ripley-Outfit auf natürlichen Untergründen. Das beste: Cage trägt einen Sicherheitsanzug, den er nicht loswerden kann und der ihn moralisch bremsen soll, sollte er der zu rettenden Dame auf irgendeine (nötigende) Weise zu nahe treten. Eine schräge Idee, könnte aus den Sechzigern sein – und könnte tatsächlich auch in Roger Vadims Hippie-SciFi passen, wie so vieles in diesem Film. Doch eine schräge Idee und ganz viele wirklich innovative Outfits erwecken noch lange nicht die kunterbunte Abenteuerlust beim Zuseher. Sonos Film genügt sich insofern selber, da es keinen Wert darauflegt, auch nur irgendwie auf Zug inszeniert zu werden oder dem Szenario eine gewisse Bodenhaftung zu verleihen. Das Ergebnis: konfuser Japan-Prunk im Cowboylook zum postapokalyptischen Fünfuhrtee, zu dem niemand die Mühe wert findet, pünktlich zu erscheinen.

Inhaltlich ist Prisoners of the Ghostland ehrlich gesagt zu vergessen und genauso zu vernachlässigen wie Cage selbst. Der ist selbst oft ahnungslos, was die folgende Handlung betrifft. Und nicht nur er. Alle scheinen ahnungslos, das ganze Ensemble fügt sich in eine Performance-Veranstaltung, die zwar leidenschaftlich arrangiert ist, auf Dauer aber gehörig anstrengt, weil das schmucke Dekor zwar gefällt, doch eigentlich nichts auf der Habenseite hat, was es ausschmücken kann.

Prisoners of the Ghostland

Letztes Jahr in Marienbad

KENNEN WIR UNS?

5/10


last-year-at-marienbad


LAND / JAHR: FRANKREICH, ITALIEN 1961

REGIE: ALAIN RESNAIS

DREHBUCH: ALAIN ROBBE-GRILLET

CAST: DELPHINE SEYRIG, GIORGIO ALBERTAZZI, SACHA PITOËFF U. A.

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


War es in Marienbad? In Friedrichstadt, Karlstadt oder Baden-Salsa? Oder in diesem Salon? Nichts Genaues weiß man nicht. Das Einzige, was so ziemlich als gesichert gilt, ist, dass der Mann mit dem schmalen Gesicht beim mittlerweile als Marienbad bekannten Nim-Spiel stets gewinnt. Das kann man drehen und wenden, wie man will. Und sonst? Sonst ist alles das Ergebnis subjektiver Erinnerungen an ein Damals vor einem Jahr. Oder sind diese Erinnerungen auch nur ein Konstrukt aus Begehren und Wunschtraum?

Die Sechziger, das Um- und Aufbruchsjahrzehnt für Gesellschaft, Soziales und Kultur, hat den Leuten gezeigt, dass vieles auch anders geht. Das die Norm keine Zügeln hat. Dass die Freiheit mannigfaltig sein kann. Da war Querdenken noch ein begrüßenswerter Umstand. Das Umkrempeln der bewährten Ordnung schuf in der Literatur den Nouveau Roman – folglich dauerte es nicht lange und im bereits durch die Nouvelle Vague erneuerten Medium Film etablierte sich der Versuch, die lineare Erzählform außen vor zu lassen, Strukturen aufzudröseln und mit diesen losen Fäden herumzuexperimentieren. Inspiriert von Alfred Hitchcocks filmischen Methoden und von so ziemlich allem, was neu war, entstand unter der Regie von Alain Resnais, der mit Hiroshima, mon amour ’59 die Goldene Palme von Cannes holte und sich nunmehr unorthodoxe Filmprojekte leisten konnte, ein nobles Verwirrspiel erster Güte: Letztes Jahr in Marienbad.

Dabei erstreckt sich die Handlung auf gerade mal fünf Minuten oder würde bei einem linearen Erzählkonzept bis zur zweiten Szene kommen. Ein namenloser Mann trifft auf eine namenlose Frau an einem unbekannten Ort – wir wissen, es ist ein Hotel in barockem Stil. Der Mann scheint die Dame zu kennen, sie wiederum kann sich an nichts erinnern. Also versucht der Mann, die Frau davon zu überzeugen, dass sich beide bereits letztes Jahr schon getroffen hatten. In Marienbad, Friedrichstadt, Karstadt, Baden-Salsa oder in diesem Salon. Dabei wiederholt sich seine artikulierte Beweisführung immer und immer wieder. Klingt jetzt nicht gerade prickelnd. Doch Resnais geht es keinesfalls um romantische Inhalte. Dieses bisschen Erzählsubstrat zerbricht wie ein Spiegel in hunderterlei Scherben. Ziel ist es, diesen Spiegel neu zusammenzusetzen. Bedingung dabei: all die Teile müssen neu arrangiert werden, letzten Endes aber dennoch wieder einen ganzen Spiegel ergeben.

Ein Experiment fürwahr. Doch was vielleicht in den Sechzigern für staunende Gesichter gesorgt hat, offenbart sich in der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts mittlerweile nur noch als recht aufgeräumter, jedoch wenig tangierender Versuch, aus überholten Normen auszubrechen. Aus filmhistorischer Sicht mag Letztes Jahr in Marienbad seinen Platz bis heute gut verteidigt haben. Dass dieser Film allerdings auch heute noch irritierende Verblüffung auslöst, wage ich zu bezweifeln. Resnais Werk mag surreal sein – der redundante Ablauf an ähnlichen Szenen und mächtig ausholenden Kamerafahrten bleibt gediegene, natürlich edel fotografierte Langeweile.

So gesehen gibt es mehrere Sprachblöcke, die sich stets wiederholen. Allein schon ganz am Anfang erzählt eine Stimme aus dem Off gefühlt zigmal dieselbe Beschreibung des Ortes. Die langen Gänge, den schweren Stuck, die vielen Salons. Wie Gedankenblasen dreht sich das Gesagte in zeitlosem Kreis. Inhaltsleere Gesprächsfetzen der anderen Gäste sind zu hören – Floskeln, die keinen Sinn ergeben. Oft stehen diese Damen und Herren – in Abendkleid und schwarzen Anzügen – orientierungslos inmitten des üppigen Interieurs oder halten im geometrisch angeordneten Schlossgarten plötzlich inne, als würde die Zeit stillstehen. Es sind die Abbildungen vager Anhaltspunkte aus dem Gedächtnis der beiden Hauptfiguren, die alles Irrelevante als bedeutungslose, abstrakte Peripherie in das Erinnernde eingliedern. Und immer wieder, immer wieder wiederholt sich diese Abfolge wie ein formelhaftes Mantra. Dazwischen wieder der Mann mit dem schmalen Gesicht, der im Nim-Spiel gewinnt.

Unterlegt ist dieses flüchtige Kaleidoskop, das keinen Anfang, kein Ende und deren Zeiten vollends durcheinandergeraten, mit konterkarierter schwerer Orgelmusik. Letzten Endes ist man um keine Nuance schlauer, letzten Endes erreicht ein Gähnen die letzten Szenen eines scheinbar nicht enden wollenden, intellektuellen Filmversuchs. Nun, es ist ein Ereignis, doch gleichermaßen ein recht geziertes Kind seiner Zeit.

Letztes Jahr in Marienbad

Paula – Mein Leben soll ein Fest sein

AUS DER FORM, AUS DER NORM

7/10

 

paula© 2016 Polyfilm Verleih

 

LAND: DEUTSCHLAND 2016

REGIE: CHRISTIAN SCHWOCHOW

CAST: CARLA JURI, ALBRECHT ABRAHAM SCHUCH, ROXANE DURAN, JOEL BASMAN U. A.

 

Heutzutage echauffiert sich kaum jemand mehr über diverseste Pioniere der Kunst, egal welches Ding sie drehen und auf welche noch so seltsamen Ideen sie kommen. Damals war das anders. Also damals, vor weit mehr als hundert Jahren. Da hieß es: Kunst kommt von Können – und malst du nicht nach der Natur, hast du kein Talent. Und falls du doch Talent hast, bist du verrückt. Nun, Vincent van Gogh als seiner Zeit voraus, der war psychisch doch etwas labil, sah die Welt mit komplett anderen Augen, und hatte obendrein noch technisches Talent, was Farbe und die Abstraktion der Form betraf. Scheel angesehen ist er dafür trotzdem worden. Seine Bilder: zu Lebzeiten nicht mehr als Kritzeleien eines Durchgeknallten. Doch der Anfang von etwas ganz großem. Einer Zeit, in der Kunst zum Ausdruck innerer Befindlichkeiten wurde. Wo Malerei sich so darzustellen begann, wie der Künstler sie sieht, mit all ihrem subjektiven Kontext.

Für diesen Expressionismus war Paula Modersohn-Becker selbst noch zu früh dran. Im deutschen Künstlerdorf Worspwede hatte man die junge Dame permanent angehalten, doch bitte natürlicher zu malen, die Realität abzubilden, und nicht so deformiertes Zeug abzuliefern. Hände wie Löffel, Nasen wie Kartoffeln, verrenkte Haltungen. Das Verständnis dafür: gleich null. Paula ließ sich aber nicht beirren. Schön, wenn jemand seinen Stil finden kann, obendrein noch dazu steht. Das ist die halbe Miete in der Kunst. Nichts nachzuahmen, weder die Natur noch sonstige große Meister. Selbst die eigene Sicht der Dinge kreieren. Um nicht zuletzt als Künstler gerne im Mittelpunkt zu stehen. Regisseur Christian Schwochow, der erst letztes Jahr mit der eigentlich grandiosen Literaturverfilmung von Siegfried Lenz‘ Deutschstunde sein Händchen für urdeutsche, schwere Stoffe unter Beweis stellen konnte, hatte sich ein paar Jahre zuvor eben jener wegweisenden Künstlerin angenommen, die ein viel zu kurzes Leben hatte, in diesem aber sich selbst als moderne Frau und die Kunst des Neuen gefunden hat.

Wie in Deutschstunde erschuf Schwochows Kameramann Frank Lamm eine erdige, naturalistische, kontrastreiche Bilderwelt. Schatten sind hier unergründliche Nischen, Schwarz so richtig Schwarz. Aber auch die Sonne erzeugt schweres, goldenes Licht, das Grün der Landschaft ist gesättigt bis zur Fäulnis. Alles in allem schafft Lamm eine intensive Lebendigkeit, die dem Wesen von Paula entspricht. Quirlig, rastlos, gedankenverloren. Voller eigenen Idealismus, voller Sturheit und der Fähigkeit, sich zu begeistern. Carla Juri verleiht der Querdenkerin und Aussteigerin aus herkömmlichen Sozialmustern ein authentisches Gesicht, schenkt dieser künstlerischen Ikone enorme Sympathie. Lässt sie ganz auf sich selbst konzentrieren. Natürlich, mit dieser Egozentrik fällt Familienplanung extrem schwer, das Miteinander wird zum Nebeneinander. Aber welcher Künstler, der sich präsentiert, hat diese Egozentrik nicht? Diesen Drang, sich und sein Werk aller Welt zu zeigen? Um auch als abgehobenes Unikum wahrgenommen zu werden, das mit den Konventionen bricht, und somit auch seine Werke nicht nur kreiert, sondern diese auch lebt. Schwochow findet gleich von Anfang an seinen Zugang zu dieser Person, Juri ebenso – beide bringen ihre Biographie formschön, erlesen getextet und trotz aller inneren Aufgeregtheit angenehm unaufgeregt auf den Punkt.

Faszinierend ist diese Lebensgeschichte ohnehin allemal, und wieder ist es so, dass ich jetzt, nach Filmen wie diesen, liebend gerne meine Sachen zusammenpacken und ins Museum gehen würde, um diese Bilder auch selbst zu sehen, die auch ich, ein Freund dieser Kunstepoche, für sagenhaft gelungen halte, und die auch in Paula – Mein Leben soll ein Fest sein in ausladender Großzügigkeit vor die Kamera gehalten werden. Eine zeitverlorene Galerie erlebt hier ihre Vernissage, gesteckt voll mit unzähligen bunten Leinwänden und dem Esprit prinzipiellen künstlerischen Schaffens. Dazwischen Paula, die hinter einer Staffelei hervorguckt, um sich in Erinnerung zu rufen als eine große, emanzipierte Künstlerin, die Hand in Hand mit berühmten Frauen wie Colette das Heimchen hinterm Herd aus dem Hause peitscht. Einfach, um sich selbst zu verwirklichen.

Paula – Mein Leben soll ein Fest sein

Van Gogh – An der Schwelle zur Ewigkeit

ICH SEHE, WAS DU NICHT SIEHST

8/10

 

vangogh© 2019 DCM

 

LAND: GROSSBRITANNIEN, FRANKREICH 2019

REGIE: JULIAN SCHNABEL

CAST: WILLEM DAFOE, OSCAR ISAAC, EMANUELLE SEIGNER, MADS MIKKELSEN, RUPERT FRIEND, MATTHIEU AMALRIC U. A.

 

Der Maler Julian Schnabel, der sieht die Welt, wie wir wissen, ohnehin mit eigenen Augen. Wer seine Buchverfilmung Schmetterling & Taucherglocke gesehen hat, wird wissen, was ich meine. Die andere Sicht auf Dinge, die uns umgeben, die sind für den 68jährigen Filmemacher und Vertreter des Neoexpressionismus ein kryptisches Phänomen, das er versucht, zu lüften. Warum die Welt, in der wir leben, so unzählige unterschiedliche Realitäten besitzt und wie diese individuelle Realität am besten festgehalten werden kann – das sind experimentelle Versuche, in die sich Schnabel Hals über Kopf zu stürzen scheint. In seinem Film über den am Locked-In-Syndrom leidenden Jean-Dominique Bauby verweilt die Kamera stets oder immer wieder in der Perspektive des Erkrankten. Die Sicht auf die Existenz, auf das ihn Umgebende, die überrascht uns. Und sie überrascht uns auch in Schnabels aktuellem Film, in einer Biografie, die bei Weitem nicht neu ist: das Leben des Künstlers Vincent van Gogh, mitsamt Strohhut und Staffelei.

Zu diesem posthumen Superstar der Avantgarde mit all seinen Darstellungen diverser französischer Landschaften und natürlich mit Vasen voller Sonnenblumen gibt es bereits allerlei filmische Statements. Kirk Douglas hat den Mann verkörpert, Tim Roth – sogar Martin Scorsese. Und erst 2017 gab es diesen Animationsfilm Loving Vincent, der die Hintergründe seines gewaltsamen Todes (von welchem ich eigentlich gar nichts wusste) in Form bewegter Pinselstriche aufzuarbeiten versucht. Bis dato habe ich diesen Film noch auf meiner Liste, vielleicht, weil mich der dekorative Fokus auf den Bildstil des Künstlers in anstrengender Spielfilmlänge bislang doch etwas abgeschreckt hat. Womöglich werde ich das aber jetzt nachholen, einfach, um das etwas verschlafene  Interesse an der Kunstgeschichte wieder wachzurütteln, und um danach wieder mal ins Museum zu gehen, weil Lust auf Kunst, die entfacht Van Gogh – An der Schwelle zur Ewigkeit zumindest bei mir auf eine Weise, die über das gestaltete Werk an der Wand hinausgeht.

Die vorliegende Annäherung an Van Gogh erwähnt zwar sehr wohl all die einschneidenden Wendepunkte innerhalb der letzten Jahre des Malers, und ist handlungstechnisch klar als das Fragment einer Biografie zu betrachten. Allerdings – Schnabel will eigentlich etwas ganz anderes. Er hat sich den rothaarigen Visionär erwählt, um an einem ganz anderen Ende anzusetzen, um ein Philosophikum aus den Angeln zu heben, das all jenen Ichs gewidmet ist, die ihrer Zeit weit voraus waren. Schnabel wagt einen berauschenden Exkurs über das Wesen des Schöpferischen und geht anhand eines imaginären Interviews mit Vincent van Gogh der Frage nach, was dem obsessiven Akt des Erschaffens eines Werks eigentlich vorausgeht. Ist es eine labile Psyche, sind es Traumata? Ist es die Angst vor etwas? Vielleicht Kummer oder Leid? Van Gogh sagt in einer Szene selbst, das jedwede menschliche Qual das Beste sei, um Kunst zu schaffen. Dass Genesung etwas ist, dass dem Prozess des Kreativen eigentlich nur in die Quere kommen kann. Der ewig Leidende, larmoyante Fremdkörper innerhalb einer den impressionistischen Gefälligkeiten eines Renoir, Monet oder Degas gesinnten Gesellschaft steht Rede und Antwort, manchmal sich selbst, manchmal Künstlerkollegen wie Paul Gauguin, Doktoren und Geistlichen – über Tod, dem Göttlichen und der Wahrnehmung. Willem Dafoe verleiht dem Gehetzten und aus der Zeit Gefallenen eine entrückte wie bedrückende Intensität. Sein Blick verliert sich in der Weite der Landschaft, für Van Gogh die Schwelle zur Ewigkeit. Dafoe gibt sich trotzig, mutig, verschüchtert – und bleibt vor allem einsam und allein mit sich und seiner Fähigkeit, mehr zu sehen als andere. Eine schauspielerische Wucht ist das, diese fahrige Suche nach Nähe, der Julian Schnabel entgegenkommt – und wie selten in einer Künstlerbiografie das Publikum die alles ertragen müssenden Seufzer eines Außenseiters spüren lässt, dessen intime Zwiesprache gestört wird, die aber, so seltsam es klingt, gestört werden will.

Kameramann Benoît Delhomme folgt wie schon zuvor Janusz Kaminski den visuellen Ideen Schnabels auf Schritt und Tritt – das Auge trottet in stetiger Unruhe zwischen traumwandlerischer Ekstase und begreifen wollendem Wachzustand einem Drang hinterher, eins zu werden mit dem Natürlichen, um dann das Erlebte auf Leinwand und Papier zu bannen. Irrlichternd hetzt der Film über Äcker, Felder und durch verwachsene Wälder Richtung Sonne, findet maximal Ruhe in alten Gemäuern, die von früher erzählen oder Blackouts, und in denen sich ein Diskurs über das Wesen kreativer Kräfte in gehaltvollen Gleichnissen Bahn bricht. Van Gogh – An der Schwelle zur Ewigkeit ist eine cineastische Erfahrung, bereichernd, nachvollziehbar und glücklich verloren in den abstrakten Gedanken eines Genies.

Van Gogh – An der Schwelle zur Ewigkeit