Nightsiren (2022)

WIE MAN SICH HEXEN MACHT

7/10


nightsiren© 2023 Busch Media Group


LAND / JAHR: TSCHECHIEN, SLOWAKEI 2022

REGIE: TEREZA NVOTOVÁ

BUCH: BARBORA NÁMEROVÁ, TEREZA NVOTOVÁ

CAST: NATÁLIA GERMANI, EVA MORES, JULIANA OLHOVÁ, IVA BITTOVÁ, JANA OLHOVÁ, MAREK GEISBERG U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


In Robert Eggers The Witch hat die strenggläubige Familie von Anya Taylor-Joy so lange darauf beharrt, dass ihre Tochter einen Pakt mit finsteren Mächten eingegangen sein muss, bis es wirklich dazu kam. Klarer Fall von selbsterfüllender Prophezeiung. Und gerade in diesem Film wird klar, dass die wahre Hölle immer die anderen sind – frei nach Sartre. Die slowakische Filmemacherin Tereza Nvotová will sich dieser Umkehrrechnung ebenfalls annehmen – und erzählt diesmal nicht aus der Finsternis des siebzehnten Jahrhunderts, sondern stellt sich gegenwärtigen Verhältnissen. Zum Teil sind diese auch autobiographisch; zumindest, was das Verhalten der Gemeinde angeht und wohl weniger das Metaphysische zwischen den Bäumen.

Der Mikrokosmos einer Dorfgesellschaft ist stets mit Vorsicht zu genießen. Ein jeder kennt jeden, es wird getuschelt und getratscht. Geheimnisse gibt es längst nicht mehr, und tritt wirklich Pikantes zutage, wissen es alle. Schnell wird der Verdacht zur Gewissheit, die Gewissheit zur irrationalen Angst, die irrationale Angst zum Wahn. Genau so landeten damals vermeintliche Hexen auf dem Scheiterhaufen oder wurden ins Wasser getaucht, damit die anderen herausfinden konnten, ob die Beschuldigte vielleicht nicht doch ehrlich damit war, unschuldig zu sein.

Die Menschheit hat sich, wie wir wissen, in ihrem Verhalten seit damals kaum gewandelt. Gut, die Gesetze sind andere, das Gewand ist nicht selbstgenäht, sondern stammt vom Großkonzern und die Hygiene ist besser. Doch alles andere tritt auf der Stelle. Nightsiren kommt diesem enttäuschend unbelehrbaren Status Quo langsam auf die Schliche. In ihrem Film treibt sie niemanden zur Eile an, die Story schreibt das Tempo vor – und geht so: Eine junge Frau kehrt nach Jahrzehnten der Abgängigkeit in ihr Heimatdorf zurück – oder besser gesagt: zur Waldhütte ihrer verstorbenen Mutter. Die ist längst abgebrannt, da gibt’s nichts mehr zu holen. Gegenüber, ein paar Meter weiter, dämmert das Haus einer angeblichen Hexe dem Verfall entgegen, dort quartiert sich Charlotte erstmal ein. Nicht nur der Brief des Bürgermeisters, der die Hinterlassenschaften ihrer Mutter regeln will, treibt sie hierher – es ist auch die Hoffnung, dass ihre kleine Schwester überlebt haben könnte, nachdem sie diese vor Jahrzehnten versehentlich von einer Waldklippe stieß. Charlottes ganze Familie ist nebenbei sowieso in Verruf geraten, mit Waldhexe Otylia einen Pakt eingegangen zu sein. Entsprechend zögerlich reagieren die Einwohner auf die Heimkehr der verschollenen Tochter. Natürlich wecken Charlottes Nachforschungen schlafende Hunde, ein Mädchen namens Mira gesellt sich zu ihr, und die permanent notgeilen Männer des Dorfes stellen bald schon eine Bedrohung dar. Im Schatten hexischer Magie befinden sich alle, doch es braucht eine Zeit, bis dieses Unheil von den anderen beim Namen genannt wird.

Nightsiren vermeidet – und das ist wunderbar erfrischend – jegliches Klischee aus diversen anderen Hexenfilmen, die die Mythologie auf hässliche Fratzen und unreflektierte Bösartigkeit reduzieren. Tereza Nvotová gibt dem Thema einen hellen Anstrich und kokettiert viel mehr mit den Imperativen weiblicher sexueller Freiheiten, die vom Patriarchat längst nicht mehr unterdrückt werden dürfen. Ihr Mysterydrama ist ein zutiefst feministischer Film, der fast schon der Versuchung erliegt, alles Männliche als Unterjochung darzustellen, wäre da nicht zumindest einer, der von den geschlechtstypischen Verhaltensweisen Abstand nimmt. Ob das den Ausgleich schafft, bleibt lange fraglich. Und rückt dann später in den Hintergrund, wenn Nightsiren beginnt, Reales mit Imagination, Lehrbuchphysik mit Metaphysik und Gewalt mit Magie zu vermischen. Die Hexe bei Nvotová ist ein Sinnbild für das Ausleben unterdrückter Weiblichkeit – dafür braucht es lediglich Andeutungen und keinen feisten Budenzauber. Weniger ist hier mehr, und das wenige schafft es aber dennoch, alles durcheinanderzubringen, sodass man als Zuseher letzten Endes gar nicht mehr weiß, was tatsächlich stattfindet, stattgefunden hat oder stattfinden wird. So einiges bleibt offen, vieles geheimnisvoll und vage. Was dem Film aber nicht zum Nachteil gereicht.

Als moderner Frauenfilm, der sich mit dem Phantastischen am nächtlichen Waldboden wälzt, lässt Nightsiren die Zeit wie im Flug vergehen und fasziniert, weil es eben nicht unbedingt faszinieren will. Ein Film, der durch seine entspannte Erzählweise Spannung erzeugt, die ganz von allein entsteht.

Nightsiren (2022)

Luanas Schwur (2021)

EINE FREIHEIT FÜR DIE ANDERE

8/10


luanasschwur© 2021 – Elsani & Neary Media GmbH / DOP: Jörg Widme


LAND / JAHR: ALBANIEN, DEUTSCHLAND 2021

REGIE: BUJAR ALIMANI

BUCH: KATJA KITTENDORF

CAST: RINA KRASNIQI, SHKURTE SYLEJMANI, GRESA PALLASKA, NIK XHELILAJ, ALBAN UKAJ, KASEM HOXHA, ASTRIT KABASHI U. A.

LÄNGE: 2 STD 1 MIN


Will man heutzutage noch authentisch reisen und unterwegs nicht alle Nase lang gefällige Touristenspots passieren, dann löhne sich ein Aufenthalt in Albanien. Ein Land, das erst 1990, nach Ende der kommunistischen Diktatur unter Enver Hoxha, seine Grenzen geöffnet hat. Vorher war alles anders – und deutlich schlechter. Wen wundert’s, Diktatur ist Unterjochung, Quälerei und Verbot auf ganzer Linie. Als atheistisches Regime mussten alle Kreuze, Ikonen und sonstige Devotionalien verschwinden. Kirchen wurden geschlossen und Geistliche ihrer Ämter enthoben. Doch auch ohne einen wie Hoxha wäre die Gesellschaft Albaniens, zumindest die weibliche, bedient genug geblieben. Aufgrund des sogenannten Kanun, eines Sammelsuriums an Rechtsvorstellungen und Regeln, das fein säuberlich auf das Patriarchat zugeschnitten und lange Zeit auch nur mündlich überliefert wurde. Für Frauen waren da keinerlei Freiheiten vorgesehen. Die Ehe von Töchtern wurde (und wird?) über den Köpfen derer entschieden, die es eigentlich anging. Männer trafen sich zum Rauchen und Schnapstrinken, besiegelten beim Verzehr von Schafsköpfen den Heiratsdeal und scherten sich einen Dreck, ob diese Art Fremdbestimmung Menschenleben in die Verzweiflung stürzten. Doch wo Tradition, da kein Hinterfragen. In diesem autoritären und völlig vorgestrigen, ja geradezu mittelalterlichen Dunstkreis wächst das Mädchen Luana auf. Die zeigt sich in den frühen 60erjahren wissbegierig und bereits am anderen Geschlecht interessiert. Dabei macht ihr Agim schöne Augen – nur Agim stammt aus einer Familie, die mit jener von Luana nichts am Hut hat. Eine Heirat mit Agim ist undenkbar. Also verschachert ihr Vater seine Älteste an den Sohnemann des guten Freundes Luk Fiku – der ist aber ein arroganter Windhund und im Grunde ein Chauvinist unter der Sonne, dass es ärger nicht geht. Anfangs scheint sich Luana ihrem Schicksal zu fügen – denn Flamur ist zumindest ein Feschak mit Dreitagebart und kokettem Grinsen. Innen drin aber schauts finster aus, und so kommt es, dass Luanas Vater diesen erwischt, als er Anstalten macht, seine zukünftige Braut zu vergewaltigen. Das geht natürlich gar nicht, die Ehe ist somit annulliert, doch das wutentbrannte Ekel von Mann schießt den Brautvater über den Haufen. Diese Tragödie ändert natürlich alles. Und Luana muss tun, was sie tun muss, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Auch für sich, aber auch für ihre Familie.

Schon mal einen Film aus Albanien gesehen? Makedonien ja, aber Albanien? Mit den vertrauten Stilmitteln eines Coming of Age-Melodrams lässt es sich ohne Schwierigkeiten in die nicht allzu ferne Vergangenheit eines isolierten Landes eintauchen, in welchem Menschen wie Luana trotz antiquierter Erziehungsparameter genau die gleichen Bedürfnisse haben wie überall sonst auf der Welt. Doch wo die Macht des Mannes dominiert, pervertiert die natürliche Ordnung und gerät der Humanismus unter die Räder. Anfangs noch scheint es, als würde Luanas Schwur den klassischen Motiven eines Folklore-Dramas folgen – mit Landschaftsbildern, rustikalen Bauernhöfen und strengem familiären Regiment zwischen Feldern und Gebirge. Gemeinsam mit Skriptautorin Katja Kittendorf (u. a. Gott, du kannst ein Arsch sein) gelingt dem albanischen Filmemacher Bujar Alimani aber weit mehr als das – und wächst zur Halbzeit des Films über sich selbst und über die Erwartungen seines Publikums hinaus. Was dann passiert, wäre nicht unbedingt zu erwarten gewesen – rückblickend aber die einzig logische Konsequenz. Aller Freiheiten beraubt, würde Luana den traditionellen Weg des Kanun gehen, gäbe es nicht die Möglichkeit einer Revolte durch die Hintertür – ohne dabei das Patriarchat zu kompromittieren. Alle Freiheiten kann es nicht geben – so opfert sie schließlich eine, um die andere zu erhalten und über sich selbst zu bestimmen. Luanas Schwur ist ein bitterer, teils düsterer aber stets leidenschaftlicher Film über Geschlechterrollen und radikale Kompromisse im Licht unreflektierter Traditionen. Rina Krasniqi, die sehr an eine junge Glenn Close erinnert, vollbringt in ihrem Wandel von der ausgelieferten Frau zum resoluten Anführer eine erstaunliche Performance. Und es bleibt ihr angesichts der erzählerischen Dichte und der Komplexität des Mit- und Gegeneinanders einer versteinerten Gesellschaft auch nichts anderes übrig, als keinerlei Schwäche, weder im Spiel noch in ihrer Figur, zu zeigen. Niemals und nirgendwo.

Luanas Schwur (2021)

Blond

I DON’T WANNA BE LOVED BY YOU

7/10


blond© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: ANDREW DOMINIK

BUCH: ANDREW DOMINIK, BASIEREND AUF DEM ROMAN VON JOYCE CAROL OATES

CAST: ANA DE ARMAS, ADRIEN BRODY, BOBBY CANNAVALE, XAVIER SAMUEL, JULIANNE NICHOLSON, EVAN WILLIAMS, RYAN VINCENT, LILY FISHER U. A. 

LÄNGE: 2 STD 46 MIN


Was haben Prinzessin Diana Spencer und Marilyn Monroe gemeinsam? Die berührende Farewell-Ballade A Candle in the Wind von Elton John. Zuerst hieß der Text: Goodbye Norma Jeane, dann hat sich der Künstler gedacht: Norma Jeane kann mittlerweile gut darauf verzichten, machen wir Goodbye Englands Rose daraus. Was haben Diana Spencer und Marilyn Monroe nicht gemeinsam? Den Regisseur, der sich bemüßigt und auch kompetent genug dazu gefühlt hat, zumindest Ausschnitte aus deren Leben zu verfilmen, um gleich noch dazu ein komplettes Psychogramm draufzupacken. Der eine: Pablo Larraín. Mit Spencer ist diesem ein brillantes Portrait gelungen, die impressionistische Skizze einer möglichen Befindlichkeit zu einem gewissen Zeitpunkt im Leben der Königin aller Herzen. Der andere: Andrew Dominik (u. a. Killing them Softly). Seine Schussfahrt in den Untergang einer wider ihres Willens gehypten Person frönt einem soziopathischen Destruktivismus, der eigentlich alles, mit Ausnahme vielleicht von Henry Miller, unter Aufbringung einer enormen Anziehungskraft in ein schwarzes Loch reißt, aus dem es keine Rückkehr gibt. Schon gar nicht für Norma Jeane Baker. Die landet mit den Füßen voran, als Steißgeburt einer verteufelten Männerwelt, im dunklen Nichts der Hoffnungslosigkeit. Obwohl – nicht ganz. Die Hoffnung war zwar immer ein bisschen da, starb aber zuletzt dann doch, in der gottgleichen Gestalt eines unbekannten, aber tränenreichen Vaters, der frappante Ähnlichkeiten mit Clark Gable hat und der blonden Schönheit immer mal wieder einen Brief hinterlässt, der ein baldiges persönliches Aufeinandertreffen verspricht. Eine Hoffnung, an die sich Norma Jeane Baker klammern kann. Das andere, woran sie sich klammert: Die Kunstfigur Marilyn, schmollmundig, Küsse verteilend, kokett performend als Sexsymbol, den Rock über dem Lüftungsschacht lüpfend, ganz so wie es Billy Wilder wollte. Laut Joyce Carol Oates, die mit ihrem Roman Blonde für den Pulitzer-Preis nominiert war, dürfte die Maske „Monroe“ nicht mehr als ein Strohhalm in einer Welt voller Treibsand gewesen sein, in welchem Frau sonst versinken müsste. Oder: Das Leben eines Filmstars als geringeres Übel. Denn sonst bleibt ja nichts. Gar nichts. Weder eine liebende Mutter noch ein Vater noch eigene Kinder. Und schon überhaupt gar niemanden sonst, der sich ernsthaft um diese psychisch äußerst labile Person, die bis dato als wohl einer der größten Stars der Filmgeschichte gilt, gesorgt hätte.

In diesem finsteren Pfuhl an sexuellem Missbrauch, Gewalt und geifernder Fleischeslust wird das Objekt der Begierde zum hin- und hergereichten Pinocchio. Ausgenutzt, getreten, begattet. Was hätte Pablo Larraín wohl aus diesen biographischen Ansätzen, die womöglich mit viel Dichtung klarkommen müssen, herausgeholt? Wie wäre sein Ansatz gewesen? Vielleicht empathischer, auf improvisierte Weise vertrauter. Er hätte sie wohl weniger als Punching Ball für ein reißerisches Trauerspiel verwendet als Andrew Dominik es getan hat. Für ihn (und vielleicht auch für Oates, denn ich kenne das Buch leider nicht) ist Marilyn Monroe das öffentliche Opfer purer #MeToo-Gräuel. Denn so, wie Ana de Armas auf der Höhe ihrer Imitationskunst weint und schreit und wimmert, sich am Boden krümmt und nach ihrem Vater fleht, muss es das größte Opfer sein, dass Hollywood je eingefordert hat. Ein weiblicher Hiob quält sich auf einem fast dreistündigen Kreuzweg die Via Dolorosa entlang, und niemand trägt das Kreuz auch nur lang genug, damit sich der zur Schau gestellte Star wieder hätte fangen können. Andrew Dominik kostet seinen Biopic-Horror so dermaßen aus, als hätte er einen Lustgewinn daran, Marilyn Monroe leiden zu lassen. Möchte man sowas denn sehen? Will man sich von Ana de Armas ankotzen lassen? Will man in Marilyns Alpträume eintauchen, die plötzlich an Paranormal Activity erinnern? Sind die amerikanischen Männer der Ära Kennedy wirklich so eine Bande von Scheusalen mit übergroßen Mündern, die den Star verschlingen wollen? Wo man mit feiner Klinge das Vakuum wertlosen Ruhms wohl sezieren hätte können, wuchtet Blonde einen Sucker Punch nach dem anderen ins engelsgleiche Konterfei von de Armas, welches den ganzen Film dominiert. Gut, so fasziniert war Larraín ebenfalls von Natalie Portman als Jackie oder Kristen Stewart als Diana, aber er hätte ihnen nicht so wehgetan. 

Mit jedem Schlag ins Gesicht bröckelt der Film zu einer prätentiösen Galerie an recht oberflächlichen World Press Photos auseinander, die alle in die Times passen würden. Noch eins, sagt Dominik. Und dann bitte noch eins. Und noch eins von der Seite. Der Regisseur, so scheint es, kann seine Dämonisierung des Patriarchats gar nicht mal so ernst meinen, denn er tut damit ähnliches. Er nutzt eine Figur der Filmgeschichte, um sie so sehr niederzutreten, dass sie gar nicht anders kann als die Hoffnung zu verlieren. Dann aber wieder muss ich zugeben: Dominiks ambivalenter Film ist meisterhaft darin, in einigen wirklich überwältigenden Szenen eine Kunstfigur zu demontieren und den Grat zwischen Schein und Sein punktgenau zu treffen. Dazwischen finden sich in lockerer Chronologie akkurat nachgestellte Szenen aus Klassikern, die wir nie wieder so unbekümmert genießen werden können und Elemente, die an Roman Polanskis Psychothriller Ekel oder Last Night in Soho erinnern. Blond ist eine deftige Erfahrung, die man so eigentlich gar nicht machen wollte, die auch beschämt und bei welcher man sich selbst vielleicht als gaffenden Zaungast ertappt. 

Vielleicht hätte sich Norma Jeane Baker mit diesem Film verstanden gefühlt. Die Offenbarung ihres Innersten, einschließlich ihres Geburtskanals, hätte sie wohl aber wieder zum Weinen gebracht. Wie wäre es mit etwas Trost? Hinsichtlich dessen hätte ihr Elton Johns Lied wohl besser gefallen.

Blond

Die Tanzenden

EINE FLOG ÜBERS KUCKUCKSNEST

5,5/10


dietanzenden© 2021 Amazon Prime Video


LAND / JAHR: FRANKREICH 2021

REGIE: MÉLANIE LAURENT

CAST: LOU DE LAÂGE, MÉLANIE LAURENT, EMMANUELLE BERCOT, BENJAMIN VOISIN, CÉDRIC KHAN, MARTINE CHEVALLIER U. A.

LÄNGE: 2 STD 2 MIN


In der Comicverfilmung The Umbrella Academy beherrscht einer des mit ungewöhnlichen Fähigkeiten ausgestatteten Ensembles an Weltrettern die Gabe, mit den Toten zu kommunizieren. Haley Joel Osment konnte das in The Sixth Sense ebenfalls mit Bravour. Ende des neunzehnten Jahrhunderts wäre das allerdings ein Fall für die Klapsmühle gewesen. Im französischen Roman Le bal des folles von Victoria Mas hadert eine junge, unverheiratete Dame ebenfalls mit so einem paranormalen Benefit. Eugénie kann die Toten hören und mitunter auch sehen. Sie spürt ihre Anwesenheit und behält den Umstand natürlich lange für sich. Bis es einmal so weit kommt, und Eugénie ihre Fähigkeiten dafür nutzt, ein lange verloren geglaubtes Erbstück der Familie wiederzufinden. Den Hinweis hat sie von ihrem toten Opa.

Mehr hat Eugénie nicht gebraucht – ihrem Vater platzt bei so viel Mysterium der Kragen und so steckt dieser die Tochter kurzerhand in eine Heilanstalt für psychisch erkrankte Frauen, von denen maximal eine Handvoll der Internierten wirklich pathologische Gründe für ihr Dasein hat. Das weiß auch Krankenschwester Geneviève (Mélanie Laurent), die trotz anfänglich gewahrter Distanz Eugénie immer näherkommt, sich bald von ihrer tatsächlichen Gabe überzeugen kann und darauffolgend ihre Flucht plant.

Mélanie Laurent, international bekannt geworden mit Quentin Tarantinos Inglourious Basterds, ist mit Herzblut nicht nur als Schauspielerin beim Film, sondern längst auch schon als Regisseurin. Ihr Roadmovie Galveston mit Ben Foster zum Beispiel ist dabei zwar kein Meisterwerk, aber immerhin eine achtbare Arbeit geworden, die gesellschaftlichen Außenseitern als melancholisch-traurige Ballade begegnet. Auch ihre Literaturverfilmung unter dem Titel Die Tanzenden widmet sich geheimnisvollen Randfiguren, die im Normalfall und in Zeiten wie diesen keinerlei Rückhalt hätten. In einem Filmdrama mit Metaebene darf vor allem die Rolle der Frau und ihre Streben nach Selbstbestimmung nicht ohne dramaturgisch konstruierte Unterstützung einfach so verhallen. Den Widerstand gegen die soziale Ordnung beschreibt Laurent, in dem sie weit ausholt und in langsamem Rhythmus einen womöglich auch nicht gerade seitenarme Buchvorlage beschreibt, die über weite Passagen hinweg eher durch seine konventionelle Erzählweise ermüdet als fasziniert. Einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Behäbigkeit des Historiendramas leistet Schauspielerin Lou de Laâge, welche die paranormal begabte Eugénie verkörpert, die emotionale Gewichtigkeit ihrer Rolle aber nur selten stemmen kann. Verzweiflung, Panik, Angst: alles nur scheinbar. Nähe zum Publikum findet die Französin keine. Da kann Laurent selbst als Co-Star wohl auf authentischere Weise ihrer Rolle entsprechen.

Leicht ist die feministische Vorlage sicher nicht. Vielleicht gar eine Nummer zu groß. Das Zeitkolorit, Kostüme und genug Spielraum zur Beobachtung damaliger Umstände in einer Nervenklinik faszinieren aber dennoch. Fast scheint es, als wäre Eugénie ein Pendant zu Nicholsons MacMurphy in Einer flog übers Kuckucksnest – als nonkonformer Rebell, der sich gegen den erduldeten Starrsinn eines Systems auflehnt. In Die Tanzenden geht’s pittoresker zu – dafür bleibt die Metapher eines ausgemachten Endgegners zu wenig präzise, wenn nicht gar eher klischeehaft umrissen.

Die Tanzenden

The Princess

DIE BRAUT, DIE SICH NICHT TRAUT

5,5/10


theprincess© 2022 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: LE-VAN KIET

CAST: JOEY KING, DOMINIC COOPER, OLGA KURYLENKO, VERONICA NGO, ALEX REID, ED STOPPARD U. A. 

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


„Bella gerant alii, tu felix Austria nube.“  – Wir in Österreich besinnen uns auf eine jahrhundertelange Tradition, die Kriegen zwar auch nicht permanent aus dem Weg gegangen war, die sich aber dadurch auszeichnete, ihre adeligen weiblichen Nachkommen ungefragt auf den Heiratsmarkt zu werfen. Prägendstes Beispiel: Maria Theresias Tochter Marie Antoinette, die Dame mit dem Kuchen und dem Schicksal unter der Guillotine. Doch wenn schon Politik, dann lieber anbiedern. Wurde man als Frau ins Königshaus hineingeboren, war die Zukunft vorbestimmt, die dem Allgemeinwohl und dem Königshaus gewidmet war. Klingt alles nach Zwang und Nötigung, und es wäre nicht verwunderlich gewesen, wäre die eine oder andere heiratsfähige Tochter nicht ganz so schicksalsergeben in den blaublütigen Stammbaum irgendeines fremden Hauses eingegangen. Hätte die eine oder andere gar ein bisschen sowas wie Rebellion an den Tag gelegt oder ordinär gestikulierend die Eltern links liegen gelassen. Allein daran zu denken wäre schon ein Affront gewesen – eigentlich Hochverrat. Womit unsere Heldin hier im actionlastigen Streifen The Princess (nicht zu verwechseln mit der Lady Di-Doku selben Namens, die gerade im Kino läuft) anscheinend keinerlei Probleme hat.

Als selbstbewusste, kampfsporterprobte Dame denkt sie nicht daran, sich vom despotischen König Julius (Dominic Cooper) den Ehering überstreifen zu lassen. Allerdings mobilisiert sie ihren Widerstand spät, vor den Augen der Hochzeitsgäste und zur peinlichen Blamage des Möchtegerngatten. Der lässt das nicht auf sich sitzen und verzichtet darauf, nochmal um Audienz zu bitten. Er überfällt kurzerhand die Burg der Prinzessin, nimmt die Königsfamilie gefangen und sperrt die unwillige Braut in ein Turmzimmer ganz hoch oben. Rapunzel lässt grüßen. Doch hier haben wir es weder mit meterlangem Haar zu tun noch mit fiesen Hexen. Statt sich zu frisieren, lässt sich Joey King lieber von den Schwertern der feindlichen Brigaden kitzeln, die ihr alsbald im Weg stehen, denn das Mädel denkt nicht daran, dem mittelalterlichen Status der Frau Genüge zu tun. Man möchte meinen, Frauen könnten gegen toxisch-männliche Waffengewalt nichts ausrichten. In diesem Film haben all die brüllenden und verzottelten Bartträger falsch gedacht. Das Überraschungsmoment, wenn Frauen den Männern Saures geben, mäht sich durch die Burg wie ein Flächenbrand und köchelt ganze 95 Minuten mal so mal so vor sich hin.

In The Princess will Joey King (u. a. The Kissing Booth, The Lie) nur eines: den eigenen Hofstaat befreien. Also: zurücklehnen, Hirn ausschalten und vergnügt dabei zusehen, wie der weibliche Thronerbe seine Schwerter schwingt. Da geht’s mal lange Zeit den Turm hinunter. Dann in so gut wie jede Kemenate, in der hochgerüstete Harnischträger oder martialische Berserker die wendige junge Dame in ihre Gewalt bringen wollen. Klein und wendig kann hierbei von Vorteil sein. Wie sich Joey King im abgerissenen Hochzeitskleid um die Hünen schwingt und ihnen dabei im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf verdreht, erinnert an Guy Ritchies kecke King Arthur-Interpretation, nur ohne Slow Motion und all dem optischen, allerdings gelungenen Firlefanz. Hier inszeniert der vietnamesische Filmemacher Le-Van Kiet projektillose Action der alten Schule, in geschmeidiger Optik und passgenauen Stunts. Ein bisschen wie The Raid als Gutenachtgeschichte, nur weitaus weniger brutal, auch weitaus weniger virtuos und viel weniger ernst. Die ins Groteske verzerrte, gern tumb dargestellte Männlichkeit unterliegt der geschmeidigen Raffinesse einer akkurat kämpfenden Amazone in rascher Folge. Einzig Olga Kurylenko erpeitscht sich ihren Respekt – sie ist schließlich auch eine Frau, und auch sie plant voraus, während der Mann in seiner Brachialität den Moment gewinnen will.

The Princess ist ein nettes, allerdings sehr simples Stück Actionkino fürs Wohnzimmer. Gut choreographiert, ein bisschen banal und sowieso vorhersehbar. Eine Frau, die das Patriarchat niederringt und den eigenen regierenden Vater so sehr in den Schatten stellt, bis dieser zum Kammerdiener verkommt, ist natürlich so zeitgemäß wie willkommen. Doch Frauen, die dem Schicksal ein Schnippchen schlagen, gabs früher auch schon. Man denke nur an Prinzessin Fanthagirò, die italienische Fantasysaga der frühen Neunziger. Viel anders ist The Princess auch nicht, im Vergleich dazu direkt regressiv, was das ironisch-gesellschaftskritische Understatement angeht, das Alessandra Martinez in dem mehrteiligen Abenteuer stets anklingen ließ. Mehr Dialogwitz und nicht nur hemdsärmeliges Gekloppe hätte den etwas anderen Märchenfilm etwas cleverer, vielleicht sogar satirisch erscheinen lassen.

The Princess

Last Night in Soho

EIN HORROR WIE DAMALS

7/10


lastnightinsoho© 2021 Universal Pictures International Germany

LAND / JAHR: USA, GROSSBRITANNIEN 2021

BUCH / REGIE: EDGAR WRIGHT

CAST: THOMASIN MCKENZIE, ANYA TAYLOR JOY, MATT SMITH, DIANA RIGG, TERENCE STAMP, RITA TUSHINGHAM U. A.

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Zum ersten mal ist mir Thomasin McKenzie in Debra Graniks Aussteigerdrama Leave No Trace aufgefallen – und von da an gab’s kein Zurück mehr: Die junge Dame zählt mittlerweile zu den herausragenden Naturtalenten im Kino. Jetzt verbündet sie sich in Edgar Wrights neuestem Streich mit einer nicht weniger begabten Größe: Anya Taylor-Joy, den meisten wohl bekannt aus der Netflix-Miniserie Das Damengambit. Mit Esprit, Ausstrahlung und einem Sinn für Extravaganz meistert die junge Dame jedes Genre. Sie und McKenzie ergänzen sich auf einnehmende Weise, und dieses Double Impacts ist sich Wright jedenfalls so sehr bewusst, dass er um die beiden herum einen Film schneidert, der nicht nur die Puppets on a String tanzen lässt, sondern auf so leidenschaftliche Art Retro ist, dass man glatt vermuten könnte, ob Last Night in Soho nicht ein verschollen geglaubtes Machwerk aus der Hochzeit des Psychothrillers sein kann. Ist es natürlich nicht, aber Wright tut so als ob. Und es gelingt ihm.

Dabei verbeugt er sich bis zu den Schuhspitzen vor einem Meister, der nach Hitchcock wohl am besten verstanden hat, die bedrohliche Metaphysik der Wahrnehmung auf versponnene junge Damen (und auch Herren) niedersausen zu lassen: Roman Polanski. Da gab es eine Zeit, da war eines seiner perfiden Horrorszenarien besser als das andere. Ekel mit Catherine Deneuve zum Beispiel – die Studie einer labilen Persönlichkeit, die dem Wahnsinn verfällt. Der Mieter mit Polanski himself, der von seiner Wohnung in den Selbstmord getrieben wird. Mia Farrow in Rosemaries Baby hat‘s da gleich mit dem Teufel zu tun – oder doch nicht? Thomasin McKenzie als Eloise, die Unschuld vom Land, bildet das bisherige Ende einer Reihe denkwürdiger Auftritte. Von Mode und der Musik aus den Sechzigern fasziniert, reist sie nach London, um eine Fachschule zu besuchen. Dabei bezieht sie ein Zimmer im berühmt-berüchtigten Viertel Soho. Dieses Zimmer jedoch schleust sie des Nächtens in eine andere Zeit, nämlich in die Sechziger, um den Spuren der aparten Sandy zu folgen, die sich in einem Tanzlokal als Sängerin bewirbt. Das fängt alles ganz gut und schön an, und Eloise träumt sich gerne in die andere Welt, in der sie mitunter auch die Rolle der swingenden Blondine übernimmt. Doch irgendwann kippt das Ganze, und plötzlich ist die gute alte Zeit aus eleganten Kleidern, rhythmischer Musik und hochgesteckten Frisuren nicht mehr so das Gelbe vom Ei. Und all die Schwärmerei nimmt unangenehme Ausmaße an.

Mit Musik geht bei Wright immer alles besser. Das hat er schon in Baby Driver bewiesen. In Last Night in Soho (der Titel bezieht sich auf einen Song der Band Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich) sind nicht nur blinkende Neonreklamen, regennasse Straßen und darauf brummende Oldtimer die Kulisse für einen Paranoia-Thriller wie diesen, sondern eben auch der 60er Sampler, der mit sowohl unbekannten als auch ganz bekannten Stücken wie Petula Clarks Downtown eine immense Stimmung erzeugt, und zwar auch in Szenen, in denen Schreckliches mit lieblichem Sound konterkariert wird. Alles in diesem nostalgischen Grusel ist Kulisse, und das muss auch so sein: Wright will die Demaskierung einer verklärten Ära, in denen Frauen im Püppchen-Outfit den lüsternen Avancen eines uniformierten schlipstragenden Patriarchats willenlos ausgeliefert waren. #Metoo war da weit entfernt. Was für ein Jagdrevier wäre das für Carey Mulligans Figur aus Promising Young Woman gewesen? Doch die führt erst Jahrzehnte später unverändert unverhohlene Geilspechte an der Nase herum, während McKenzie erst lernen muss, was es hieß, als Frau Erfolg haben zu wollen.

Last Night in Soho orientiert sich auch an Werken von Nicolas Roeg oder sogar Quentin Tarantino, der mit Once upon a Time…in Hollywood die idealisierten Siebziger vorgeführt und dabei den Mut hatte, verklärtes Zeitkolorit intelligent zu untergraben. Wright tut das auch. Doch genug ist ihm das nicht. Mit ganz viel überzeichnet-schaurigem Hokuspokus bekleckert er seinen feministischen Thriller, der letzten Endes zwar nicht die Strategien kluger Wendungen neu konzipiert, seine beiden Stars aber in bevorzugt rotem Licht und mit viel Liebe fürs Zitat über einen Laufsteg des Grauens irren lässt.

Last Night in Soho

Niemals Selten Manchmal Immer

TEENAGER WERDEN MÜTTER

7/10


niemalsseltenmanchmalimmer© 2020 Universal Pictures International Germany


LAND: USA 2020

BUCH & REGIE: ELIZA HITTMAN

CAST: SIDNEY FLANIGAN, TALIA RYDER, THÈODORE PELLERIN, SHARON VAN ETTEN, AMY TRIBBEY, RYAN EGGOLD U. A. 

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Nicht nur österreichische Filmemacher haben die Tristesse fürs Kino neu erfunden. Das ist auch den Amis gelungen, vorzüglich im Independent-Bereich, denn mit Tristesse lässt sich logischerweise kaum ein Gewinn lukrieren. War schon das zaghaft beobachtende Bürodrama The Assistant trist, so kann Regisseurin Eliza Hittman noch eins drauflegen. Doch anders gefragt: lässt sich ein Stoff wie dieser denn überhaupt anders verfilmen? Vielleicht wäre das Miranda July gelungen, die mit Kajillionaire auch nicht wirklich rosige Themen in dennoch etwas Rosiges gepackt hat – ein Meisterwerk, meines Erachtens. Niemals Selten Manchmal Immer ist auch nicht schlecht. Wenngleich nichts Erbauliches. Aber vielleicht etwas, das die Zähigkeit und Stärke eines jungen Mädchens zeigt, das um alles in der Welt nicht will, dass ihr junges und bereits mehr als entbehrliches Leben aus der Spur gerät.

Die siebzehnjährige Autumn fristet ihr jugendliches Dasein irgendwo in Pennsylvania zwischen Schule und Supermarkt. Daheim vegetiert ein depressiver Vater vor sich hin, die Mutter tut halt was sie kann (was nicht näher erläutert wird). Zum Glück hat Autumn eine Cousine, gleichzeitig auch eine gute Freundin, die ebenfalls im Supermarkt arbeitet. Wo Frau aber auch hinblickt – das männliche Verhalten stößt sauer auf. Überall lustgeile Psychos. Einer von denen wird’s auch gewesen sein, der Autumn ein Kind angedreht hat – welches sie besser gestern als morgen loswerden will. Also fährt sie nach New York, die Cousine kommt mit. Beide geistern durch einen wenig reizvollen, überfüllten und kalten Big Apple, auf der Suche nach einer Möglichkeit, die Schwangerschaft zu unterbrechen. Das dauert Tage, dabei schlagen sich die beiden die Nächte um die Ohren, denn Geld fürs Hotel gibt’s keins. Beide werden müder und erschöpfter, halten aber durch.

Musikerin Sidney Flanigan gibt als bereits völlig desillusionierter Teen ihr Schauspieldebüt, in einem enorm nüchternen Film von Eliza Hittman, die – womöglich resultierend aus eigener Erfahrung – nicht sehr viel von Männern hält. Die sind wie schon erwähnt eine stete, unberechenbare Bedrohung. Maximal der Bursche Jasper agiert da versöhnlicher, obwohl auch er nur das eine im Sinn hat. Berührungen werden zu Übergriffen, und egal wo Frau sich aufhält: am besten nichts wie raus aus dieser maskulinen Machtwelt. Wir erfahren nie, was Autumn erlebt hat – nur das eine: es wird wohl keine Lappalie gewesen sein. In der wohl intensivsten Szene des Films muss das Mädchen sämtliche persönliche Fragen beantworten, bevor es zur Abtreibung gehen kann, und zwar mit Niemals, Selten, Manchmal und Immer. Während dieser Befragung kommt so manches schemenhaft als Tageslicht, und es wird klar, das vieles im Argen liegt. Könnte das Kind vom eigenen Vater sein? Oder wars doch der frauenverachtende Mitschüler, der unentwegt anzügliche Gesten macht? Wichtig ist nur: Autum will nicht, dass ihr das Leben passiert. Für diesen Umstand nimmt sie Entbehrungen in Kauf, die eben nichts anderes als eine triste Welt zeichnen – die aber besser werden könnte, wenn ein junger Mensch wie dieser, der das Leben noch vor sich hat, sich dazu durchringt, für sich selbst das Richtige zu tun.

Ist Abtreibung also zu befürworten? Ist es Mord? Da maßt sich Hittman nicht an, dies beantworten zu wollen oder gar zu müssen, da sie den Context dieser ganzen Situation bewusst diffus lässt und mit dem Einspruch möglicher Nötigung das Recht auf eigene Lebensplanung unterstützt.

Niemals Selten Manchmal Immer

Gott existiert, ihr Name ist Petrunya

MIT DER KIRCHE UMS KREUZ

7/10


petrunya© 2019 Pyramid Films


LAND: MAZEDONIEN, BELGIEN, KROATIEN, FRANKREICH, SLOWENIEN 2019

REGIE: TEONA STRUGAR MITEVSKA

CAST: ZORICA NUSHEVA, LABINA MITEVSKA, SIMEON MONI DAMEVSKI, SUAD BEGOVSKI, STEFAN VUJISIC U. A. 

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Die Kirche, so viel ist klar, ist eine von Männern dominierte Institution. Sei es bei den Katholiken oder der osteuropäischen Orthodoxie. So lange in diesen Religionen Egalität kein Thema ist, so lange lässt sich insbesondere in strenggläubigen Ländern, die diese Religionen leben, enorme Defizite feststellen, was die Rolle von Mann und Frau in der Gesellschaft angeht. In Mazedonien ist letztere nicht viel mehr wert als vor hundert oder noch mehr Jahren. Gut, manche Frauen nehmen das hin, kennen es auch nicht anders. Warum also ändern, was ohnehin irgendwie funktioniert. Frau will ja schließlich nicht unbedingt die Macht des zumindest physisch Stärkeren spüren. Da stellt sich schon die Frage: wovor hat eigentlich Mann denn so eine Angst?

Zum Beispiel hat er die beim traditionellen Eistauchen zum Dreikönigstag. Die Angst vor dem kalten Wasser des Flusses, in dem alljährlich und als Teil einer unumstößlich festen Tradition ein Holzkreuz in die Fluten geworfen wird, damit einer der jungen, muskulösen, präpotenten Männer dem Kruzifix nachschwimmen und dieses bergen kann. Ganz zufällig allerdings mischt sich unsere Titelheldin Petrunya in das Geschehen. Die junge Frau, eine studierte Historikerin, ist arbeitslos, latent depressiv, steckt zurzeit in einer Phase des Stillstands. Da entscheidet sie ganz impulsiv, das Kreuz vor allen anderen Männern aus dem Wasser zu fischen. Was prinzipiell ihr gutes Recht wäre, denn nirgendwo steht, dass Frauen das nicht dürfen. Die sehr schnell aufgebrachten Machos, die toben und wüten und wollen Petrunya zwingen, den symbolischen Herrgott ihnen zu überlassen. Die aber flüchtet in die Obhut der örtlichen Polizei, um vom Mob sprichwörtlich nicht zerfleischt zu werden. Aus der emanzipatorischen Schnapsidee ohne viel Hintergedanken keimt ein fixes Vorhaben in Petrunya: dem Patriarchat zeigen, dass Gott vielleicht auch eine Frau sein könnte.

Das Kino Mazedoniens ist keines, das mit Pauken und Trompeten von sich aufmerksam macht. Es ist eines, das sich nur gelegentlich zu Wort meldet. Aber wenn es das tut, dann hat es auch etwas zu sagen. Das war schon bei Milčo Mančevskis oscarnominierten Epos Vor dem Regen so. Aber das ist lange her, 1994. Mit Gott existiert, ihr Name ist Petrunya gibt´s von dort endlich wieder ein deutliches, relevantes und wenig duckmäuserisches Lebenszeichen. Die Geschichte funktioniert als Religionssthriller genauso wie als Gesellschaftssatire, als Psychogramm einer obsoleten Gesinnung oder als beklemmendes Justiz- und Mediendrama. Zentrum des grotesken Geschehens ist eine unbeugsame Titelfigur, völlig hemmungslos, ungeniert und grundnatürlich dargeboten von Zorica Nusheva. Ihr Trotz ist genauso spürbar wie ihre Furcht vor dem Hass, der Traditionen herunterbetet, die lange schon nicht hinterfragt wurden. Ein Kammerspiel streckenweise, ein Kräftemessen an unterschiedlichen Fronten. Kirche, Staat, Justiz und das gemeine Volk, alle werden vorgeführt, wollen vorgeführt werden, weil sie rezitieren, worüber sie nicht nachdenken. Teona Strugar Mitevkas Film zeigt ein Mazedonien als verknöchertes, vorgestriges Land, das noch so viel aufzuholen hat, und wo nur wenige den Mut haben, Veränderungen beizuführen. Letztendlich geht es Petrunya nur ums Prinzip, um ein ganz klares, grundlegendes Recht. Wie sie sich dieses Recht erkämpft, ist aufreibend, gewitzt, geht voll auf Konfrontation und strahlt nur so vor klugen Pointen, die das starre Gestern dumm dastehen lassen.

Gott existiert, ihr Name ist Petrunya

Die perfekte Kandidatin

ES MUSS NICHT IMMER NIQAB SEIN

6/10

 

dieperfektekandidatin© 2019 Neue Visionen

 

LAND: SAUDI-ARABIEN, DEUTSCHLAND 2019

REGIE: HAIFAA AL MANSOUR

CAST: MILA ALZAHRANI, DAE AL HILALI, NOURAH AL AWAD, KHALID ABDULRHIM, SHAFI AL HARTHY U. A. 

 

Was tut sich eigentlich so in Saudi-Arabien? Neben glutheißem Asphalt glühen dortzulande schon längst die Smartphones – Social Media scheint wie überall auch auf der Welt der absolute Trend zu sein. Um das zu billigen, muss sich das Land bereits weit von einem reaktionären Mittelalter entfernt haben. Wie kommt der Islam mit diesem boomenden Fortschritt klar – und was sagt er dazu, dass seit einiger Zeit schon Frauen hinter dem Steuer eines Autos sitzen dürfen? Hat er überhaupt etwas damit zu tun? Und haben Frauen mehr mehr Rede- und sonstige Freiheiten als wir in Europa uns das immer noch vorstellen? Haifaa Al Mansour sagt: Ja. Ja das hätten sie, zumindest prinzipiell mal, würden doch mehr von ihren Rechten Gebrauch machen, ohne das ein obsoletes Gesellschaftsmuster vorgibt, alle Rechte vorzugeben. Das kann es nämlich nicht mehr, wie es Die perfekte Kandidatin begreiflich macht. Was Haifaa al Mansour (u. a. Das Mädchen Wadjda, Mary Shelley) aber erzählt, das ist nicht die beglückende Erfolgsgeschichte irgendeiner Frau aus der Mittelschicht – sondern von Maryam, Ärztin an einem kleinen Krankenhaus irgendwo in einer Kleinstadt in Saudi-Arabien (gedreht wurde der Film in dessen Hauptstadt Riad). Sie hat zwar in jungen Jahren ihre Mutter verloren, dennoch lebt sie mit zwei weiteren Geschwistern und ihrem recht liberal eingestellten Vater in einem ordentlichen Anwesen und kann sich sonst auch nicht beklagen, dass ihr irgendetwas dringend fehlt. Oh ja doch, ein Problem gibt es, doch das betrifft das ganze Krankenhaus – es ist die nicht asphaltierte Zufahrt für den Krankentransport. Das ärgert Maryam zutiefst. Mehr noch als das übertriebene männliche Getue eines älteren Herrn, der sich von einer Frau partout nicht behandeln lassen will. Hier wird Mansours Blick kritischer, aber nicht kritisch genug. Denn ihr Film ist eine sanfte Komödie, die gar nicht so sehr irritieren will. Die das Öl fürs gesellschaftspolitische Feuer lieber zum Kochen verwenden lässt und das beobachtete Frauenbild für Saudi-Arabien von devot bis aufsässig sehr breit fächert.

Die junge Maryam gerät per Zufall in die Situation, für den Gemeinderat als weibliche Kandidatin aufgestellt zu werden. Das war mal überhaupt nicht der Plan, aber warum nicht? Frau könnte sich ja dadurch betreffend Krankenhauszufahrt mehr Gehör verschaffen. Gewinnen ist gar nicht ihre Intention. Nur keine falsche Bescheidenheit, sagen die anderen, die Schwestern und Freundinnen. Der Papa gewährt seinen Töchtern sowieso alle Freiheiten, er geht derweil musizieren. Traditionelle saudi-arabische Musik – das klingt wunderbar, und von diesen Vibrations bekommt man im Laufe des Films einiges ab. Fast ist es so, als hätten wir einen Film von Tony Gatlif am Start, der diesmal den fernen Orient vertont haben will. Mansour schlendert stets gemächlich von den Schauplätzen in der Wüste wieder zurück zu ihrer Heldin, die bald schon ihren Niqab ablegt, die immer offener auftritt, sich tatsächlich auch in einen Raum voll fremder Männer begibt, was sonst nicht die feine arabische Art wäre. Klar ist: Frauen werden immer noch belächelt, ernst nimmt sie kaum jemand. Manch anderer aber schon, und die könnten einen neuen Trend bestimmen, hätten sie so viel Mut wie Maryam.

Den Mut, den musste Haifaa Al Mansour nie finden – ihr Film ist nicht darauf aus, kraftvoll mit dem Fuß zu stampfen. Die Polit- und Gesellschaftskomödie ist von einer gefälligen Balance, die niemanden kompromittieren dürfte. Man könnte das auch kluge Vorsicht nennen, oder respektvoller Umgang mit noch so altertümlichen Ansichten und verknöcherten Weltbildern. Der Islam ist hier ein gänzlich moderater, spiritueller Teil eines Alltags, wirkt niemals wie etwas, dass einer Reform bedarf. Die Ansichten des Patriarchats schon, doch hier werden ganz augenzwinkernd maximal ein paar Seitenhiebe verteilt, die eher um- als verstimmen. Die ein gewisses Schmunzeln provozieren, vor allem bei einem Publikum, das dem saudischen „Battle of the Sexes“ ohnehin aufgeschlossener gegenübersteht. Mansour setzt Fingerspitzen ein, und bleibt dadurch vielleicht zu harmlos. Eine ähnliche kompromissvolle Inszenierung ob eines heiklen Themas lässt sich in dem österreichischen Film Womit haben wir das verdient? verorten. Auch hier wollte Eva Spreitzhofer längst keine Meinung skandieren, sondern behutsam, aber zögerlich kuriose Anomalien nicht nur der muslimischen Kultur sich selbst überlassen. Die perfekte Kandidatin überlegt Ähnliches – bleibt dabei sehr gemächlich, locker und, weil viele Umstände berücksichtigt werden wollen, auch recht ausgebremst.

Die perfekte Kandidatin

Asche ist reines Weiß

DIE WAFFE EINER FRAU

7,5/10

 

aschereinesweiss© 2018 Neue Visionen

 

LAND: CHINA 2018

REGIE: JIA ZHANG-KE

CAST: ZHAO TAO, LIAO FAN, XU ZHENG, DIAO YINAN, FENG XIAOGANG U. A.

 

Vermehrt hat man nun von der Besonderheit des südkoreanischen Kinos gehört. Zu Recht natürlich – Parasite war ja in aller Munde, und das Werk ist auch wirklich sehenswert. Die Verknüpfung poetischer Narrative mit bizarren Spitzen ist für dieses Filmland wirklich etwas ganz Eigenes. Und wird auch gerne an anderer Stelle weiter ausgeführt. Denn hier, in dieser Rezension, geht’s ausnahmsweise wieder mal um das Filmland China. Das natürlich auch schon längst einen Ruf zu verlieren hat. Ganz wichtig und prägend natürlich Yang Zhimou, Chen Kaige und Wong Kar Wai, um nur einige zu nennen. Mittlerweile aber sind viele nach Hollywood oder sonst wo ausgewandert – aber auch wieder zurückgekehrt, wie John Woo. Wuxia-Filme dominierten in der letzten Zeit vermehrt das lokale Kino, das chinesische Mittelalter geht immer. Als Mitproduzent größerer US-Produktionen funktioniert China natürlich ebenso. Ist ja schließlich ein riesengroßer Absatzmarkt, manches läuft dort sogar besser als in den USA, das darf man nicht vernachlässigen. Vernachlässigen darf man aber auch nicht die langsame Rückkehr zum chinesischen Erzählkino, das mit der Kinoprosa Asche ist reines Weiß ein ordentliches Lebenszeichen von sich gibt.

China kann genauso gut Filme erzählen wie Südkorea. Jin Zhang-Kes Film ist ein blendendes Beispiel dafür. Sein Liebesepos spannt sich über fast ein Jahrzehnt und nimmt seinen Anfang in der Provinz Shanxi, in der das organisierte lokale Verbrechen so seine Finger überall mit im Spiel hat. Einer dieser Männer fürs Grobe ist Bin, und der hat eine Freundin, Qiao, die nicht von seiner Seite weicht und sich erst im Kontext mit männlicher Macht und Selbstbewusstsein so richtig lebendig fühlt. So eine Unterwelt allerdings existiert nicht ohne Konkurrenz – also wird Bin eines Nachts während der Heimfahrt mit dem Wagen auf offener Straße überfallen. Was für ein Glück, dass Qiao von einer Waffe weiß, die sich im Auto befindet – und so ihrem Freund das Leben retten kann. Dumm nur, dass in China illegaler Waffenbesitz verboten ist, doch um Bin zu schützen, nimmt Qiao die Schuld auf sich.

Diese Waffe allerdings ist wie die Büchse der Pandora in der griechischen Mythologie oder der Ring bei Tolkien das Ding, um das sich alles dreht, und das den Wendepunkt zweier Leben einläutet. Wäre die Waffe nicht, gäbe es keinen Film. Dieses Objekt der Macht, dieser autoritäre Apparat der Selbstbehauptung, wird zur Waffe einer Frau, die sich von nun an und trotz aller Schwierigkeiten emanzipieren wird. In richtigem Tempo und mit sehr viel Empathie für seine Sozialheldin ordnet er geschlechterspezifische Klischees neu um, versieht die Weiblichkeit mit viel mehr Ausdauer und Ehrgefühl, lässt sie nicht in Selbstmitleid versinken wie das Männliche. Dort, im Patriarchat, ist nicht viel mehr zu finden als Scham und verletzter Stolz. Niemals, so scheint es, kann die Frau den Ton angeben, weil das Leiden des Mannes dafür zu groß wäre. Doch warum eigentlich? In welchen hanebüchenen Schraubstöcken steckt das veraltete Rollenbild denn fest?

Schauspielerin Zhao Tao, stets adrett gekleidet und mit westlichen Einflüssen sympathisierend, ist nicht nur ihrer feinen Gesichtszüge wegen faszinierend genug, um einen über zwei Stunden dauernden Film stellenweise sogar im Alleingang zu tragen. Sie schafft es mit strenger innerer Balance, diese Schraubstöcke aufzudrehen. Selbstbehauptung und das Finden einer ganz eigenen Identität sind hier das Crescendo einer eleganten Verliererballade, in klaren Panoramen quer durch das asiatische Land, sehr beobachtend, aber niemals mitleidend. Ein kühler, fast sachlicher Film und dennoch über die Liebe, die einer Neuordnung gesellschaftlicher Standpunkte nicht standhalten kann.

Asche ist reines Weiß