Im letzten Sommer (2023)

IN DER REIFE LIEGT DIE LUST

4/10


imletztensommer© 2023 Polyfilm


ORIGINAL: L’ÉTÉ DERNIER

LAND / JAHR: FRANKREICH 2023

REGIE / DREHBUCH: CATHERINE BREILLAT

CAST: LÉA DRUCKER, SAMUEL KIRCHER, OLIVIER RABOURDIN, CLOTILDE COURAU, SERENA HU, ANGELA CHEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Sex mit dem Stiefsohn. Einmal auf einschlägigen Pornoplattformen eingegeben, schon poppen allerlei Filmchens an die Oberfläche, die den speziellen Reiz eines solchen verbotenen Geschlechtsakts zelebrieren. Man sieht: Fans dieser Sorte des Betthupferls gibt‘s zu Genüge, nicht umsonst werden deswegen Clips wie diese zuhauf abgedreht. Aus diesem moralischen Fegefeuer zur eigenen Befriedigung entkamen auch schon so einige Filme. Zum Beispiel Königin mit Trine Dyrholm, die mit ihrem Stiefsohn unter die Laken schlüpft – mit fatalem Ausgang. Natürlich geht sowas nicht gut, mit Sicherheit lässt sich ein Seitensprung wie dieser, innerhalb der selben vier Wände, in denen auch der gehörnte Ehegatte weilt, auf Dauer nicht verbergen. Was sich die beiden Liebenden da wohl gedacht haben?

Jetzt will auch noch Altmeisterin Catherine Breillat (u. a. Romance XXX) dieser Sache auf den Grund gehen. Und meint dabei, entdeckt zu haben, das Moral per se nichts ist, womit wir uns als Mensch eigentlich herumschlagen müssten. Vive la Anarchie! Das Gewissen ist ein stacheliges Ruhekissen, das man weglegen muss, ist das hedonistische Weltbild doch das einzig Wahre. Natürlich ist es reizvoll, zu tun, wonach einem verlangt – und sei es die Frau des eigenen Vaters, für die man erotische Gelüste hegt. Zu so einer Partie gehören letztendlich aber zwei, will man die Palette zu ahndender sexueller Gewalt aussen vorlassen. Im letzten Sommer ist in erster Linie kein Film über ein Verbrechen im Sinne des Rechtsstaats. Allerdings ein Film über ein Verbrechen im Sinne des Anstands, der Würde und des Respekts. Beide, sowohl Léa Drucker (Close) als Anne und Samuel Kircher als ihr siebzehnjähriger Stiefsohn Théo fühlen sich von all diesen Werten scheinbar befreit. Die Egomanie feiert ihr Sommerfest, der missratene Jungspund plündert sogar die eigene Wohnung, raucht in den eigenen vier Wänden und sticht seiner Reservemutter ein Tattoo, bevor er ihr kurze Zeit später die Zunge in den Mund steckt. Nun ja, Anne kommt das nicht ungelegen. Der Reiz der kernigen Jugend, das Feuer eines lustvollen Minderjährigen. Zugegeben: das ist strafbar auch im Sinne des Rechtsstaats. Doch darum geht es Catherine Breillat überhaupt nicht. So, wie sie die beiden inakzeptablen Liebenden darstellt, möge ihre Sympathie mit ihnen sein. Meine bekommen sie nicht.

Im letzten Sommer, der bei der diesjährigen Viennale läuft, wurde von Breillat höchstpersönlich präsentiert. Als Antwort auf ihre abschließenden Worte, sie wäre schon neugierig, auf welche Seite sich das Publikum schlagen würde, käme mein ganzes Mitleid wohl dem Ehemann Pierre zugute, der sich bei seinen beiden Adoptivkindern zwar auch rar genug macht, um nicht die Last einer späten Vaterschaft austragen zu müssen, der aber zumindest moralisch soweit integer bleibt, um nicht mit der hauseigenen Putzfrau ins Bett zu steigen. Seine Figur ist das Zentrum, in welchem man sich notgedrungen wiederfinden könnte. Außerhalb dieser Blase, in denen verzweifelt gerettete Fragmente eines vormaligen Vertrauens herumschwirren: die nicht wirklich weit gedachten Moralkonzepte einer erwachsenen, klugen Frau, die jedoch ihrer Midlife-Crisis zum Opfer fällt, und ein psychoaggressiver Jüngling, der manchmal an Timothée Chalamet aus Call Me by Your Name erinnert, jedoch nicht dessen Leidenschaft besitzt. Kurzsichtigkeiten wie diese reiten alle ins Unglück. Beim dritten Liebesakt, begleitet von heftigem Augenrollen meinerseits, ist das Interesse an den beiden längst flöten gegangen. Die schmachtende Léa Drucker, die selbst nie zum Orgasmus kommt, und der keuchende Samuel Kircher, des sich mit seiner Libido auch irgendwie schwertut, bleiben flache, psychologisch wenig ergründete Abziehbilder aus einem schwülstigen, sonderbar trivialen Liebesroman, in welchem nur das skandalöse erotische Abenteuer zwischen zwei Generationen zur für Breillat befriedigenden Provokation reicht.

Im letzten Sommer (2023)

Marie Curie

FORSCHEN ODER LIEBEN

7/10

 

mariecurie© 2016 P’Artisan Filmproduktion

 

LAND: FRANKREICH, DEUTSCHLAND, POLEN 2016

REGIE: MARIE NOELLE

MIT KAROLINE GRUSZKA, SAMUEL FINZI, CHARLES BERLING, ANDRÈ WILMS U. A.

 

Betrachtet man die Geschichte der Wissenschaft, fällt auf, dass jene, die Bahnbrechendes auf ihrem Gebiet geleistet haben, nicht nur mit ihrem Partner, sofern sie einen hatten, sondern auch mit ihren Projekten verheiratet waren. Da blieb kaum Platz für anderes. Wissenschaftler und -innen, solchen Masterminds haftet neben dem oft zitierten Dasein als verrückter Fachidiot das Brandmal der exzentrischen, eigenbrötlerischen Beziehungsunfähigkeit an. Wissenschaft und soziale Kompetenz – das ist ohnehin wie Kinder und Spinat. Das passt selten zusammen. Und passt es einmal, dann ist die Opferbereitschaft für die Mission, dem Leben seine letzten Geheimnisse zu entreißen, nicht groß genug, um wirklich etwas entdecken zu können. So nebenbei, zwischen Mann, Frau und Familie, kann kein Nobelpreis gewonnen werden. Oder doch? Die Serie The Big Bang Theory nimmt die Unfähigkeit zu einer zwischenmenschlichen Beziehung vor allem bei der Figur des Sheldon Cooper gekonnt aufs Korn. Seine überdurchschnittliche Intelligenz und sein unerbittlicher Eifer, so etwas Ähnliches wie das Higgs-Boson zu entdecken und dafür den Nobelpreis zu bekommen, lässt ihn als Neutrum erscheinen.

Den Nobelpreis, den darf sich Marie Curie aber gleich zweimal aufs häusliche Regal stellen. Die gebürtige Polin, die ihre preisgekrönten Entdeckungen in Frankreich beweisen und publizieren durfte, führt gegen das Klischee der zwischenmenschlich verkümmerten Zunft des Wissenschaftlers oder der Wissenschaftlerin ihr eigenes Liebesleben ins Feld. Und das war gleichermaßen ein schmerzhaftes wie unmoralisches. Nach dem Tod ihres Lebensmenschen Pierre Curie, mit welchem sie gemeinsam wohl bis heute das Einser-Podest für DAS Wissenschaftler-Ehepaar überhaupt besetzt, nahmen Liebe und Leidenschaft ganz andere Wege. Und zwar jene, die Marie Curie vor allem in der Öffentlichkeit ziemlich schlecht dastehen ließen. Medien und das Nobelpreis-Komitee waren vor den Kopf gestoßen. Kann man denn sowas überhaupt verantworten – ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann? Kann und darf die Gallionsfigur der Wissenschaft, welche die Gesellschaft des beginnenden 20ten Jahrhunderts für sich beansprucht, eigentlich tun was sie will?

Der französischen Regisseurin Marie Noelle, Ehefrau des verstorbenen Filmemachers Peter Sehr (Kasper Hauser) legt keine schulmeisterliche Biografie vor. In ihrem Film Marie Curie liegt die Chronik ihrer Leistungen längst nicht im Fokus der Kamera. Erwähnt werden muss es allerdings trotzdem – ihre Entdeckung des Radiums und die Prägung des Begriffs der Radioaktivität sind untrennbar mit dem ereignisreichen und erfüllten Leben der wohl berühmtesten Physikerin aller Zeiten verbunden. Auch in der Langevin-Affäre, in der ihr Ehebruch, Sittenvergehen und fehlende Moral vorgeworfen werden, sind ihre Leistungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaften nicht auszuklammern – obwohl Marie Curie dies womöglich gerne gehabt hätte. Um das Verfechten ihres Rechts auf Privatleben, dem Ausgeliefertsein ihrer Intimität als Person öffentlichen Interesses, davon handelt Noelle´s impressionistisch gefilmtes Tatsachendrama in erster Linie. Curie findet sich in der Rolle eines gesellschaftlichen Vorbildes wieder. Der Preis für ihren Erfolg und dem medialen Interesse, das natürlich auch das notwendige Geld für die Forschung bringt, soll ein gläsernes Dasein bedeuten – womit sich die resolute Kämpfernatur von Forscherin nicht begnügen wird.

Marie Curie setzt auf verwaschene Stimmungsbilder im Gegenlicht. Fahle und doch flirrende Farben dringen in die Düsternis des chemischen Labors. Das blaue Leuchten des Radiums versetzt in Trance. Unschärfen und Anmutungen von Aquarell tauchen die relative früh verstorbene Vordenkerin in abstrakte Gefühlswelten, die sich kaum oder gar nicht von der Unduldsamkeit der Realität abheben. Die Schauspielerin Karoline Gruszka, selbst Polin, verleiht der Urmutter der Strahlungslehre ein idealisiertes, fast schon ikonisches Gesicht zwischen Begehrlich- und Unnahbarkeit. Ihre Figur vermag ungeachtet charakterlicher Authentizität jedenfalls zu faszinieren. Und so wird Physik in Noelles Film zu einem Objekt der Begierde, der Leidensfähigkeit und öffentlicher Rechtlosigkeit, die nur den Anschein hat, zu diktieren. Marie Curie ist gepflogenes, relativ frei interpretiertes biografisches Kunstkino – schöngeistig und idealisierend. Wie ein radiologisches Denkmal in gepflegten Parkanlagen – leicht bewachsen, scheinbar ewig strahlend, in Wahrheit aber mit Halbwertszeit.

Marie Curie