Blitz (2024)

IM SCHUTZ DER MUTTER

5/10


Blitz© 2024 Apple TV+


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, USA 2024

REGIE / DREHBUCH: STEVE MCQUEEN

CAST: SAOIRSE RONAN, ELLIOTT HEFFERNAN, HARRIS DICKINSON, BENJAMIN CLEMENTINE, KATHY BURKE, PAUL WELLER, STEPHEN GRAHAM, LEIGH GILL, ALEX JENNINGS U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN 


Eben erst kann Saoirse Ronan im Alkoholiker- und Neuanfangsdrama The Outrun das Kinopublikum davon überzeugen, wie sehr ihre schauspielerischen Fähigkeiten durch die emphatische Vorgehensweise einer klugen Regie (in diesem Fall durch Nora Fingscheidt) ausgeschöpft werden können. Kann sein, dass hier zumindest eine Nominierung für welchen Preis auch immer winkt. Zeitgleich können Abonnenten auf der Streaming-Plattform des Apfel-Konzerns einem Jugendfilm folgen, der die unverwechselbare Irin ebenfalls auf seiner Casting-Liste weiß. Und niemand geringerer als Steve McQueen führt Regie, von welchem wir eine ganze Reihe unbequemer Filme gewohnt sind, darunter 12 Years A Slave. Das Sklavendrama, ich erinnere mich noch gut, spart dabei nicht mit Szenen, die lange im Gedächtnis bleiben. Elf Jahre später und nach dem Unterwelt-Thriller Widows aus dem Jahr 2018 begibt sich der Afroamerikaner auf Augenhöhe eines neunjährigen Jungen, der während des Zweiten Weltkriegs und der Phase des von den Deutschen initiierten Blitzkrieges von Mama getrennt werden soll, um irgendwo am Land zum eigenen Schutz einer temporären Pflegefamilie zugeteilt zu werden. Schweren Herzens muss Saoirse Ronan als ebendiese Bezugsperson des kleinen George eine emotional belastende Entscheidung treffen, denn hier im London des Jahres 1940/41 ist niemand mehr sicher, der nicht rechtzeitig nach Ertönen der Alarmsirenen in einem bombensicheren Keller Zuflucht finden kann. Klar wird: Diese Sicherheitszonen sind rar, oftmals dient nur die Untergrundbahn als Notlösung. Nichts für einen Jungen wie George. Als dieser, enttäuscht von seiner Mutter und überhaupt enttäuscht vom jungen Leben, im Zug Richtung Unbekannt sitzt, überkommt ihn der Impuls, einfach auszusteigen. Das tut er dann auch, und schlägt sich von der Provinz aus wieder nach London durch, um zurück zu seiner Mum zu gelangen, denn nur dort, so meint er, ist der sicherste Platz auf Erden.

Was dem Buben dabei widerfährt, erinnert fast schon an das Schicksal eines Waisenjungen namens Oliver Twist, niedergeschrieben von Charles Dickens. Den Krieg aus der Sicht eines Kindes zu erzählen – diese Idee hatte schon John Boorman in seinem 1987 veröffentlichten Drama Hope & Glory – Der Krieg der Kinder. Dort schildert der Regiemeister die Erlebnisse eines Jungen namens Bill, der den Blitzkrieg als spektakuläres Abenteuer wahrnimmt. Kenneth Branagh nimmt in Belfast seine eigene Kindheit während des Nordirlandkonflikts in den Sechzigerjahren zum Thema – auch dort ist die Sicht eines jungen Menschen auf ein für ihn teils unerklärbares Katastrophenszenario die oberste einzuhaltende Konsequenz, um Politik und Geschichte erfrischend neu zu erfassen.

Blitz geht diese Konsequenz leider nicht ein. Anstatt sich auf den neunjährigen George zu konzentrieren, setzt McQueen auf zwei Perspektiven. Jene der Mutter und natürlich des Kindes. Was dabei passiert, ist eine kompromissvolle Gratwanderung zwischen konventioneller Erzählweise über die Rolle von Londons Bevölkerung während des Bombardements im Zweiten Weltkrieg und den mit Kinderaugen wahrgenommenen, traumatischen Ausnahmezuständen zwischen Verdunkelung und Trümmerlandschaft. Durch den zweigeteilten Fokus hat keine der beiden Geschichten wirklich die Chance, tiefen- und gesellschaftspsychologisch relevant zu werden. Ganz im Gegenteil. Saoirse Ronan hat niemals die Chance, ihre Rolle zu vertiefen, auch ihre Storyline bleibt halbherziges Fernsehdrama, gut ausgestattet, aber flach. Die Sicht des George hat gute Ansätze, verliert sich aber im bemühten Szenario eines klassischen Erlebnisromans mit nur wenig Experimentierfreude. Als ausgesprochen biederer Kriegsfilm bereichert Blitz sowohl dramaturgisch als auch emotional das Genre nur geringfügig.

Blitz (2024)

Dunkirk

BESTELLT UND NICHT ABGEHOLT

9/10

 

dunkirk

REGIE: CHRISTOPHER NOLAN
MIT HARRY STYLES, TOM HARDY, CILLIAN MURPHY, MARK RYLANCE, KENNETH BRANAGH

 

Ein scheinbar endloser Sandstrand bei Ebbe, stahlgraues, wütendes Meer, im Hintergrund die Rauchsäulen brennender Schiffe vor schweren Wolken. Auf dem Sand schwarze Silhouetten, zu Gruppen sortiert. Junge Männer, die auf etwas warten. Das ist der Moment in Christopher Nolan´s Weltkriegsdrama, an dem es kein Zurück mehr gibt. Weder für die britischen Soldaten, noch für mich als Zuseher. Diese Momentaufnahme des zeitlosen Bangens raubt jeden Funken Hoffnung. Beklommenheit kriecht wie die zurückkehrende Flut über das Wattenmeer. Es ist der Moment, in welchem Dunkirk seine ganze Wirkungskraft von der Leine lässt. Und mich mit aufs Boot nimmt.

Es gibt Kriegsfilme, bei denen abzusehen ist, was kommen wird. Mel Gibsons´s Hacksaw Ridge zum Beispiel ist ein gelungener, wenn auch gänzlich anders inszenierter Kriegsfilm, der aber so und nicht anders zu erwarten war. Ähnlich bei Fury – Herz aus Stahl, auch kein schlechter Film. Aber Kriegsfilme eben, die das Grauen dokumentieren müssen, vor allem den physischen Schmerz. Und es gibt Dunkirk. Ich hätte mir alles dazu erwartet – nur nicht das, was aus dem Stoff schlussendlich geworden ist. Wobei ich anfangs enttäuscht war. Unzugänglich, manieriert, allzu abgehoben. Vor allem verworren. Was sollte das mit den Zeitebenen? Die Mole – eine Woche, die Luft – einen Tag und die See – eine Stunde? Die Diskontinuität von Tageslicht und Wolken hat mich von den eigentlichen Geschehnissen mehr abgelenkt als ich abgelenkt werden wollte. Nolan, so dachte ich mir, hat sich diesmal wohl gründlich verspekuliert. Und dann das Erwachen. Verloren am Strand, schwarze Schlangen zum Meer hin. So, als würden all diese verlorenen Seelen ins Wasser wollen. Irgendwie hat es dann Klick gemacht. Und aus dem konfusen Trauerspiel wird ein fesselndes Drama in drei Akten, die nicht chronologisch, sondern gleichzeitig erzählt werden. Ineinander geschichtet, wie ein Satz neu gemischter Spielkarten. Erst sehr viel später eröffnet sich die Macht des Filmes, und nimmt auch rückwirkend die Ouvertüre mit. Dunkirk ordnet sich neu. Da ist plötzlich Hoffnung, wo keine war. Da ist Bewegung, wo zeitloser Stillstand die Geduld strapaziert hat. Nolan schafft es tatsächlich, einen Kriegsfilm zu inszenieren, den man so in keinster Weise erwartet hätte. Die Genialität des Streifens liegt darin, jenseits allen CGI- und 3D-Firlefanz die Gefühle der Protagonisten aufs Publikum zu übertragen. Es ist eine neue Art des cineastischen Expressionismus, erinnernd an einen ganz speziellen russischen Stil, zu dem sich seinerzeit Tarkovskij besonnen hat. Eine, die neben Denis Villeneuve augenscheinlich nur Nolan beherrscht. Indem er weitestgehend auf Blut und plakatives Grauen verzichtet, setzt er auf kühl arrangierte, stahlgraue Installationen, die den Kulissen eines modernen Theaters ähnlich sind. Meist ist da nichts, nur irgendwo eine Schiffsschraube, ein Boot. Das endlose Meer, und in der Mitte eine Reihe olivgrüner Helme, die sich wie die Tatstatur einer Schreibmaschine vor unsichtbarer Gefahr duckt.

Den Feind – man sieht ihn nicht. Hört ihn nicht reden. Der Feind – er ist abstrakt, stellvertretend für das Böse, für eine nicht zu ortende Gefahr. Keine Nazi-Schergen, keine Deutschen, die sich der Gerechtigkeit wegen Gehör verschaffen müssen. In Dunkirk ist der Feind gesichtslos, abstrakt. Wie bei Franz Kafka der Herr des Schlosses. Ja, Dunkirk hat was von Kafka. Absurd und verstörend dort, wo das Grauen aus der Distanz betrachtet wird. Wo Worte nichts verloren haben, spricht auch niemand. Wo Bilder für sich sprechen, reduziert Nolan alles Beiwerk auf einen minimalen Nenner. Doch sein Arrangement der drei Zeitebenen ist nicht weniger meisterhaft. Sind zu Beginn alle drei Akte noch weit voneinander entfernt, treffen sie sich in der Mitte zu einem atemlosen Stakkato, wo Vieles gleichzeitig passiert, um gegen Ende hin wieder auseinander zu gehen und Luft zu holen. Dunkirk, ein filmischer Doppler-Effekt. Diese Idee ist nicht minder ungewöhnlich wie Tarantino´s Episodenkarussel Pulp Fiction. Nach Interstellar lässt Nolan ein neues Werk des Staunens von der Filmspule. Wenn, dann könnte man Dunkirk ansatzweise mit Der schmale Grat vergleichen. Doch dort, wo Terrence Malick poetische Abhandlungen des Seins als Stimme aus dem Off tönen lässt, beharrt die Chronik des Wunders von Dünkirchen in epischem Schweigen, unterstrichen von getragenen, sphärischen Klängen, die manchmal etwas zu laut und zu viel, aber meist den Moment in seiner dramatischen Intensität be- und ergreifen. Dazwischen das Ticken der Zeit.

Dunkirk ist unerwartet, aufwühlend, und unberechenbar, trotz bekannter Tatsachen, die Geschichte geschrieben haben. Ein irritierendes Kriegsdrama, das Sehgewohnheiten durchbricht und das Erzählen neu erfindet. Schon jetzt die wohl beste Regiearbeit dieses Jahres.

Dunkirk