Snow Leopard (2023)

DIE WUT DES SCHAFZÜCHTERS

6/10


snowleopard© 2023 Mani Stone Pictures


ORIGINAL: XUE BAO

LAND / JAHR: CHINA 2023

REGIE / DREHBUCH: PEMA TSEDEN

CAST: JINPA, XIONG ZIQI, TSETEN TASHI, LOSANG CHOEPEL, GENDEN PHUNTSOK, KUNDE, DANG HAOYU, JIKBA, GATU TASHI, DECHEN YANGDZOM, CHUNGCHEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


So ein Blutdurst lässt sich schwer nachvollziehen. Erst vor ein paar Tagen dürfte ein einzelner Fuchs im Schönbrunner Tiergarten in Wien fast eine gesamte Flamingo-Population gerissen haben. Zur Nahrungsaufnahme wäre dieses Massaker wohl nicht notwendig gewesen – allein es ist der Rausch des Jägers, potenzielle Beute en masse auf den Tisch zu bekommen. In der freien Wildbahn kommt sowas schließlich nicht vor. Da ist es für einen Räuber wie dem Fuchs, dem Geparden oder auch dem Schneeleoparden Arbeit und Anstrengung genug, zumindest eines dieser Tiere vor die Fänge zu bekommen. An diesem Beispiel lässt sich klar erkennen: Die menschliche Zivilisation ist ein Widerspruch zum natürlichen Instinkt eines Tieres. Dass sich ein Karnivor angesichts eines Überangebots an Beute nicht wohlbesonnen zurückhält, um nur das zu erlegen, was er für seinen Energiehaushalt auch dringend benötigt – das wird’s wohl niemals spielen. So mächtig ist der Jagdinstinkt, wie die Gier nach Macht beim Menschen.

Was den Flamingos in Schönbrunn passiert ist, widerfährt auch einigen Schafen im steinernen Pferch eines Züchters und seiner Familie, genauer gesagt sind es neun Kadaver, die eines Morgens den leicht mit Schnee angezuckerten, gefrorenen Boden des Gevierts bedecken – die noch lebenden Tiere haben Angst, drängen sich in eine Ecke, spüren mit Sicherheit die Bedrohung des Räubers, dem seine Flucht wohl nicht mehr gelungen ist. Der Schneeleopard steckt fest, der Farmer und seine Helfer lassen den Täter nicht entkommen, am liebsten würden sie ihn töten, doch das wäre höchst strafbar in der Republik China, wozu die Provinz Tibet eben gehört. Das höchst seltene Tier genießt den höchsten Status an Schutz, niemand darf der Katze auch nur ein Haar seines Fells krümmen, geschweige denn irgendwo gefangen halten. Das allein ist schon ein Sakrileg. Doch den Teilverlust einer ohnehin kärglichen Existenz auf dem Hochplateau irgendwo am Tibetanischen Plateau einfach so hinnehmen kann auch nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Der Mann will Genugtuung, Schadensersatz, und zwar sofort, am besten bar auf die Hand. So ein Fall lockt die Medien an, und nicht nur die. Bald ist die Provinzregierung und die Exekutive involviert. Und ein tibetanischer Mönch, den seit jeher etwas Magisches mit den Leoparden verbindet, insbesondere mit diesem Exemplar, dessen Jungtier nicht fern vom Hof auf einer Anhöhe nach seiner Mutter ruft.

Pema Tseden, der Regisseur des Films, hat die Veröffentlichung von Snow Leopard nicht mehr erlebt, er starb fünf Monate, am 8. Mai dieses Jahres an Herzversagen, bevor sein letztes Werk überhaupt irgendwo in die Kinos kam. Sein Vermächtnis gestaltet sich als geradezu metaphysisches, mit phantastischen Elementen durchsetztes Gleichnis auf die Koexistenz des Menschen mit der Natur. Wir wissen, da gibt es unübersehbare Diskrepanzen. Während der Mensch alles dafür tut, den nächsten Tag ohne Existenzangst zu erleben, scheint ihn der abstrakte, scheinbar idealistische Wert des Artenschutzes nicht sonderlich zu tangieren. Denn schließlich hat er nichts davon. Und kann sich Idealismus genauso wenig leisten wie die Zeit dafür, das Wertvolle der Natur in inniger Ruhe zu betrachten und wertzuschätzen. Viel zu viel steht auf dem Spiel. Und ganz zuletzt die Unversehrtheit eines Tieres, das nur Schaden bringt statt Nutzen. Ein nachvollziehbares Dilemma. Auch hier, in Österreich, wird die Rückkehr des Wolfes weniger gutgeheißen als mit Argwohn betrachtet. Kaum am Waldrand gesichtet, bläst man hierzulande zum Halali.

Tsedens Drama führt den Zuseher in die landschaftliche Entrücktheit eines hochalpinen fernen Ostens – Exotik ist da genug dabei. Aufgrund der Seltenheit eines Schneeleoparden, und auch, um manche Szenen so darzustellen, als wären sie der tibetanischen Version des Dschungelbuchs entnommen, hat das Filmteam das Artenschutz-Schmuckstück aus dem Rechner kommen lassen. Das Ergebnis ist verblüffend. Ähnliche wie in Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger lässt sich in manchen Szenen die Künstlichkeit des Tieres kaum erkennen – vor allem die nachgestellten, virtuos gefilmten Szenen, in denen der Leopard mit den Schafen ringt, punkten mit wuchtigem, fließendem Naturalismus. Genauso denkwürdig wie das Tier selbst ist auf der anderen Seite der Auftritt des vor den Kopf gestoßenen Bauern. Tseden lässt von der Faszination des Leoparden ab und gibt sich den hasserfüllten, wütenden Tiraden des mit seinen Schafen verlustig gegangenen Jähzornigen hin, der das Kernproblem mit heftigen Schreimonologen auf den Punkt bringt. Spätestens hier wechselt ein sonst recht beschaulicher Heimatfilm über Mensch und Natur vom Meditieren über das Mythologische zur wahren, handfesten Auseinandersetzung zwischen Soll- und Istzustand.

Viel Erhellendes ist dabei nicht zu entdecken, nachhaltiger Umweltschutz ist nur dann zu gewährleisten, wenn das Volk fernab von globalem Demonstrations-Idealismus auch seinen Nutzen ziehen kann. Manchmal scheint es, als würde Tseden diesem Konflikt ausweichen, das Redenschwingen allein mag zwar aufrütteln – die Lösung für ein noch ewig währendes Dilemma liefert Snow Leopard aber auch nicht. Schon gar nicht, wenn das irreale Verhalten eines Raubtiers die Grenzen zwischen Realität und Fiktion sprengt. Der eigentliche winterkalte Realismus, der den Grundton des Films vorgibt, mag die das Naive, Märchenhafte als genau jenen Idealismus ansehen, der niemanden weiterhilft.

Snow Leopard (2023)

Elliot, der Drache

DER DRACHE IN MEINER GARAGE

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elliott

Drachen gibt es wirklich. Oder zumindest wünschte ich, es wäre so. Als bekennender Liebhaber der geflügelten, schier unbezwingbaren Wesen muss ich wohl daran glauben und zugeben: ja, in meiner Garage lebt ein Drache (wenn ich eine solche hätte). Unsichtbar, schwebend, sich jedem wissenschaftlichen Nachweis entziehend. Der Astrophysiker Carl Sagan hat sich in seinem Buch über Aber- und Gottesglaube erstmals dieses Gleichnisses bedient. Das für niemanden ersichtliche Wunderwesen steht für die Tatsache, dass etwas, dessen Existenz oder auch Nicht-Existenz nicht bewiesen werden kann, für die Forschung so gut wie nicht von Bedeutung ist, es aber auch nicht zu 100 % ausgeschlossen werden könne. Eine Restwahrscheinlichkeit gibt es immer noch, wenn auch tendenziös unmöglich. Achselzuckend können wir aber immerhin noch weiter in der Vorstellung schwelgen, dass Drachen existieren, ebenso wie Nessie, Bigfoot oder Mokele Mbembe, der sagenhafte Brachiosaurier aus dem Kongobecken. Oder eben Elliot.

Nein, Elliot existiert natürlich nicht wirklich – er ist eine Zeichentrickfigur aus dem Hause Disney, die erstmals 1977 auf der Kinoleinwand zu sehen war und als grüner, moppeliger Drache Merchandising-Artikel wie kindgerechtes Bettzeug zieren durfte. Ja, Elliot war ein gutmütiges, zeitloses Wesen aus Farbe und Pinsel, das jedes Kind gerne zu seinen Freunden gezählt hätte. Fast 40 Jahre später wurde aus Elliot, dem Schmunzelmonster mit der violetten Struppelfrisur ein mythisches Wesen, dass sich in den Wäldern Nordamerikas verbirgt, unsichtbar werden kann und sich mit einem verwaisten Jungen anfreundet, den er vom Kleinkindalter an hegt, pflegt und beschützt. Dieser Junge namens Pete ist eine an Kipling´s Mowgli angelehnte Figur, die allerdings, statt sich in ein Wolfsrudel einzugliedern, einfach mit einem grünen, felligen, enorm gutmütigen Drachen vorliebnimmt. Pete´s Dragon, wie David Lowery´s Film aus dem Jahr 2016 im Original betitelt wird, hat mit der Zeichentrick-Vorlage von damals nur mehr sehr wenig zu tun. In diesem berührenden Fantasyfilm für die ganze Familie bekommen mitunter nicht nur Kinder feuchte Augen, auch junggebliebene Eltern, die ihrem Nachwuchs seit dem Kleinkindalter an allerhand Sagen und Märchen vorgelesen haben und es auch heute noch tun, können derartige Szenarien durchaus zu schätzen wissen. Drachen, vor allem wohlig pelzige Moosmonster wie dieser perfekt animierte Charakter, erweichen sogar die Herzen zynischer Realisten. Wie schön wäre es, gäbe es so ein Wesen tatsächlich. Elliot, der Drache macht die Probe aufs Exempel und begeistert als straff inszeniertes, liebevoll gestaltetes und moderat dramatisches Abenteuer Jung und Alt. Der geheimnisvolle Lebensraum Wald als Rückzugsort seltener Arten lädt als Schauplatz des Ökomärchens dazu ein, den Zauber des Verborgenen und Unbekannten mit geradezu kindlicher Unbefangenheit zu erfahren. Irgendwie beruhigend, dass vielleicht noch nicht alles Magische auf unserem Planeten rationaler Nüchternheit zum Opfer gefallen ist. Und dass das Phantastische im Alltag manchmal immer noch zum Greifen nah sein kann.

Hier ist Disney eine Realverfilmung gelungen, die sich wirklich sehen lassen kann. Oder sagen wir lieber: die Neuinterpretation eines Kultcharakters. Der Autounfall zu Beginn des Filmes sowie die Szenen der Drachenjagd könnten ein allzu junges Publikum vielleicht etwas verstören – in seiner Gesamtheit aber ist diese rundum gelungene, spannende und herrlich bebilderte Fantasy ein positives Erlebnis, das den nächsten Familienausflug im Wald mit etwas anderen Augen sehen lässt. Mit den Augen des grenzenlos Vorstellbaren.

Elliot, der Drache