Evil Does Not Exist (2023)

WIE KOMMT DAS BÖSE IN DIE WELT?

8/10


evildoesnotexist© 2024 Polyfilm


LAND / JAHR: JAPAN 2023

REGIE / DREHBUCH: RYŪSUKE HAMAGUCHI

CAST: HITOSHI OMIKA, RYO NISHIKAWA, RYÛJI KOSAKA, AYAKA SHIBUTANI, HAZUKI KIKUCHI, HIROYUKI MIURA U. A.

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Ist ein friedlicher Ort im Einklang mit der Natur und im Grunde nur bestehend aus selbiger wirklich das Ideal einer Welt? Geht es nicht darum, ein Gleichgewicht zu halten zwischen Zerstörung und Wachstum, Leben und Tod oder gar Gut und Böse? Natürlich ist es das. Wie schon die daoistische Philosophie des Yin und Yang es voraussetzt, so trägt eine existenzielle Vollkommenheit genau diese beiden Pole in sich: Das Helle und das Dunkle, und das eine kann ohne das andere nicht existieren. Viele werden meinen: Diese Erkenntnis ist wahrlich nicht neu. Und ja, das stimmt. Dafür braucht es keinen Film, der diese Abhängigkeit noch einmal unterstreicht. Vielleicht geht es darum, Anwendungsbeispiele zu setzen, diese Dualität in eigene Klangformen zu bringen oder diese aus einer Perspektive zu betrachten, die beim ersten Hinsehen keinen Sinn ergibt. Und doch tut sie das. Und doch gelingt es dem japanischen Filmemacher Ryūsuke Hamaguchi auf sonderbare Weise – und das ist der Punkt: dass es eben sonderbar erscheint – nicht nur das Verhältnis zwischen Verderben und Eintracht darzustellen, sondern auch dem Faktor Mensch eine gewisse Aufgabe zukommen zu lassen in diesem ganzen Sein, in dieser Dreidimensionalität, die ohnehin niemand so recht versteht und von der keiner lassen kann. In Evil Does Not Exist wird der Mensch an sich zum willenlosen Wahrer einer Balance, die, wenn sie kippen würde, den Untergang bringt.

Hamaguchi hat mit seinem überlangen Drama Drive My Car die Filmwelt und insbesondere Kritiker in helle Aufregung versetzt, gilt doch dieses Werk als großes Kunststück des asiatischen Autorenkinos. Zweifelsohne hat dieser Film seine Qualitäten – emotional abgeholt hat er mich nicht, die feine psychologische Klinge hin oder her. Zu unnahbar und lakonisch die Figuren, zu sperrig die Sichtweise, vielleicht sogar mental zu fremd. Mit Evil Does not Exist gelingt Hamaguchi diesmal mehr als nur Arthouse-Drama. Diesmal gelingt ihm eine Parabel, die weitaus universeller funktioniert und eine Botschaft transportiert, die überall anwendbar scheint. Hamaguchi setzt eine philosophisch-ethische Gleichung, deren eingesetzte Variable am Ende der Aufgabe ein kryptisches Ergebnis liefert. Vorerst.

Es ist eine Conclusio, die man womöglich so nicht kommen sieht; die sich anfangs einem gewissen Verständnis verweigert. Evil Does Not Exist lässt allerdings im Nachhinein die Möglichkeit zu, von Neuem an die Materie heranzugehen, um sie zu besser verstehen. Und dann setzt sich alles zusammen, dann wird die Sicht auf das große Ganze klar. Und der Mensch zu einer Variablen, die durch ihren Drang zur Zerstörung erst diese Balance gewährleistet, die diese unsere Dimension braucht, um nicht in sich zusammenzufallen. Das Böse existiert nicht in der Natur: Der Titel des Films nimmt schon einiges vorweg. Und zeigt auch gleich ein Defizit auf: Es ist das Fehlen der anderen Komponente.

In einem südlich von Tokyo auf Honshu gelegenen Waldgebiet ist der Einklang mit der Natur, die Sauberkeit der Quellen und die Ruhe der Biosphäre oberstes Gebot für eine Handvoll Menschen, die hier leben. Takumi, Witwer und einer, der die Gemeinschaft fast schon im Alleingang zusammenhält, lebt zwischen Buchen, Lärchen und Kiefern mit seiner kleinen Tochter Hana ein beschauliches Leben und nimmt von der Natur, was unter Beachtung der Nachhaltigkeit entnommen werden kann. Diese Idylle, die anfangs schon das Gefühl vermittelt, hier fehlt es an etwas ganz Bestimmtem, wird gestört durch das Vorhaben einer Agentur, auf einem aufgekauften Grundstück mitten im Forst und nahe des Trinkwasser spendenden Baches eine Glamping-Oase samt Kläranlage zu errichten. Das stößt auf Kritik und wenig Zuspruch, einiges müsste hier adaptiert werden, um den Unmut zu besänftigen. Die beiden Gesandten dieser Firma haben bald ihre eigene Sicht der Dinge, die nicht ganz mit der Agenda ihrer Vorgesetzten kompatibel scheint. Im Laufe der Handlung wendet sich das Blatt, die Natur wird zum Lehrmeister und zur verlockenden Gelegenheit, selbst auszusteigen und ein neues Leben anzufangen, inmitten der Ruhe und der Eintracht. Doch wider Erwarten ist genau dieser Entschluss nicht das, was die Balance bringt. Takumi muss in sich gehen, muss etwas tun. Und so, als ob es einen Wink des Schicksals benötigt hätte, um weiterzumachen, verschwindet dessen Tochter.

Der Mensch also, als Verursacher für Reibung, für Dissonanz, für das Verzerren einer Harmonie, die sich selbst nicht aushält? Auf diesen Punkt steuert Hamaguchi zu, genau dahin will er sein Publikum bringen, damit dieses erkennt, dass, ohne das verheerende Tun des Menschen zu legitimieren, unsere Art vielleicht gar nicht anders kann, als Dissonanzen zu setzen – es wäre für das Gleichgewicht. Alles auf diesem Planeten kippt entweder in die eine oder in die andere Richtung, beides ist fatal. Diesen Ausgleich zu bringen, so sehr er auch schmerzt, dafür muss die unnahbare, introvertierte und wortkarge Figur des von Hitoshi Omika dargestellten Takumi Opfer bringen. Hamaguchi blickt durch eine ernüchternde Distanz auf dieses Dilemma. Er versucht, ein Muster zu erkennen in diesem andauernden ewigen Kräftespiel. Und es gelingt ihm, so sehr das gewählte Ende der Geschichte auch vor den Kopf stoßen mag.

Evil Does Not Exist ist hochkonzentriert, denkt nach und regt zum Nachdenken an. Selbst zwischen den von Eiko Ishibashi komponierten Musikstücken setzt der Filmemacher als akustisches Element seiner Dissonanz-Symphonie abrupte Cuts, worauf immersive Stille folgt. Impressionistische Bilder einer in sich ruhenden Natur werden von der grotesken Tilgung einer ursprünglichen Landschaft abgelöst – Häusermeere, Profitgier, fiese Kompromisse. Evil Does Not Exist ist wie ein Pendel, das nach heftiger Bewegung am Ende stillsteht. Dieses Ideal mag nicht gefallen, bringt aber genau die Reibung mit sich, die wir im Denken brauchen. Natürlich ist es Interpretation, doch unter dieser fügt sich alles zusammen.

Evil Does Not Exist (2023)

Snow Leopard (2023)

DIE WUT DES SCHAFZÜCHTERS

6/10


snowleopard© 2023 Mani Stone Pictures


ORIGINAL: XUE BAO

LAND / JAHR: CHINA 2023

REGIE / DREHBUCH: PEMA TSEDEN

CAST: JINPA, XIONG ZIQI, TSETEN TASHI, LOSANG CHOEPEL, GENDEN PHUNTSOK, KUNDE, DANG HAOYU, JIKBA, GATU TASHI, DECHEN YANGDZOM, CHUNGCHEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


So ein Blutdurst lässt sich schwer nachvollziehen. Erst vor ein paar Tagen dürfte ein einzelner Fuchs im Schönbrunner Tiergarten in Wien fast eine gesamte Flamingo-Population gerissen haben. Zur Nahrungsaufnahme wäre dieses Massaker wohl nicht notwendig gewesen – allein es ist der Rausch des Jägers, potenzielle Beute en masse auf den Tisch zu bekommen. In der freien Wildbahn kommt sowas schließlich nicht vor. Da ist es für einen Räuber wie dem Fuchs, dem Geparden oder auch dem Schneeleoparden Arbeit und Anstrengung genug, zumindest eines dieser Tiere vor die Fänge zu bekommen. An diesem Beispiel lässt sich klar erkennen: Die menschliche Zivilisation ist ein Widerspruch zum natürlichen Instinkt eines Tieres. Dass sich ein Karnivor angesichts eines Überangebots an Beute nicht wohlbesonnen zurückhält, um nur das zu erlegen, was er für seinen Energiehaushalt auch dringend benötigt – das wird’s wohl niemals spielen. So mächtig ist der Jagdinstinkt, wie die Gier nach Macht beim Menschen.

Was den Flamingos in Schönbrunn passiert ist, widerfährt auch einigen Schafen im steinernen Pferch eines Züchters und seiner Familie, genauer gesagt sind es neun Kadaver, die eines Morgens den leicht mit Schnee angezuckerten, gefrorenen Boden des Gevierts bedecken – die noch lebenden Tiere haben Angst, drängen sich in eine Ecke, spüren mit Sicherheit die Bedrohung des Räubers, dem seine Flucht wohl nicht mehr gelungen ist. Der Schneeleopard steckt fest, der Farmer und seine Helfer lassen den Täter nicht entkommen, am liebsten würden sie ihn töten, doch das wäre höchst strafbar in der Republik China, wozu die Provinz Tibet eben gehört. Das höchst seltene Tier genießt den höchsten Status an Schutz, niemand darf der Katze auch nur ein Haar seines Fells krümmen, geschweige denn irgendwo gefangen halten. Das allein ist schon ein Sakrileg. Doch den Teilverlust einer ohnehin kärglichen Existenz auf dem Hochplateau irgendwo am Tibetanischen Plateau einfach so hinnehmen kann auch nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Der Mann will Genugtuung, Schadensersatz, und zwar sofort, am besten bar auf die Hand. So ein Fall lockt die Medien an, und nicht nur die. Bald ist die Provinzregierung und die Exekutive involviert. Und ein tibetanischer Mönch, den seit jeher etwas Magisches mit den Leoparden verbindet, insbesondere mit diesem Exemplar, dessen Jungtier nicht fern vom Hof auf einer Anhöhe nach seiner Mutter ruft.

Pema Tseden, der Regisseur des Films, hat die Veröffentlichung von Snow Leopard nicht mehr erlebt, er starb fünf Monate, am 8. Mai dieses Jahres an Herzversagen, bevor sein letztes Werk überhaupt irgendwo in die Kinos kam. Sein Vermächtnis gestaltet sich als geradezu metaphysisches, mit phantastischen Elementen durchsetztes Gleichnis auf die Koexistenz des Menschen mit der Natur. Wir wissen, da gibt es unübersehbare Diskrepanzen. Während der Mensch alles dafür tut, den nächsten Tag ohne Existenzangst zu erleben, scheint ihn der abstrakte, scheinbar idealistische Wert des Artenschutzes nicht sonderlich zu tangieren. Denn schließlich hat er nichts davon. Und kann sich Idealismus genauso wenig leisten wie die Zeit dafür, das Wertvolle der Natur in inniger Ruhe zu betrachten und wertzuschätzen. Viel zu viel steht auf dem Spiel. Und ganz zuletzt die Unversehrtheit eines Tieres, das nur Schaden bringt statt Nutzen. Ein nachvollziehbares Dilemma. Auch hier, in Österreich, wird die Rückkehr des Wolfes weniger gutgeheißen als mit Argwohn betrachtet. Kaum am Waldrand gesichtet, bläst man hierzulande zum Halali.

Tsedens Drama führt den Zuseher in die landschaftliche Entrücktheit eines hochalpinen fernen Ostens – Exotik ist da genug dabei. Aufgrund der Seltenheit eines Schneeleoparden, und auch, um manche Szenen so darzustellen, als wären sie der tibetanischen Version des Dschungelbuchs entnommen, hat das Filmteam das Artenschutz-Schmuckstück aus dem Rechner kommen lassen. Das Ergebnis ist verblüffend. Ähnliche wie in Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger lässt sich in manchen Szenen die Künstlichkeit des Tieres kaum erkennen – vor allem die nachgestellten, virtuos gefilmten Szenen, in denen der Leopard mit den Schafen ringt, punkten mit wuchtigem, fließendem Naturalismus. Genauso denkwürdig wie das Tier selbst ist auf der anderen Seite der Auftritt des vor den Kopf gestoßenen Bauern. Tseden lässt von der Faszination des Leoparden ab und gibt sich den hasserfüllten, wütenden Tiraden des mit seinen Schafen verlustig gegangenen Jähzornigen hin, der das Kernproblem mit heftigen Schreimonologen auf den Punkt bringt. Spätestens hier wechselt ein sonst recht beschaulicher Heimatfilm über Mensch und Natur vom Meditieren über das Mythologische zur wahren, handfesten Auseinandersetzung zwischen Soll- und Istzustand.

Viel Erhellendes ist dabei nicht zu entdecken, nachhaltiger Umweltschutz ist nur dann zu gewährleisten, wenn das Volk fernab von globalem Demonstrations-Idealismus auch seinen Nutzen ziehen kann. Manchmal scheint es, als würde Tseden diesem Konflikt ausweichen, das Redenschwingen allein mag zwar aufrütteln – die Lösung für ein noch ewig währendes Dilemma liefert Snow Leopard aber auch nicht. Schon gar nicht, wenn das irreale Verhalten eines Raubtiers die Grenzen zwischen Realität und Fiktion sprengt. Der eigentliche winterkalte Realismus, der den Grundton des Films vorgibt, mag die das Naive, Märchenhafte als genau jenen Idealismus ansehen, der niemanden weiterhilft.

Snow Leopard (2023)

Return to Seoul (2022)

DAS MÖGLICHE ANDERE LEBEN

7/10


returntoseoul2© 2023 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, DEUTSCHLAND, BELGIEN, QATAR, KAMBODSCHA 2022

DREHBUCH / REGIE: DAVY CHOU

CAST: JI-MIN PARK, OH KWANG-ROK, GUKA HAN, KIM SUN-YOUNG, YOANN ZIMMER, HUR OUK-SOOK, LOUIS-DO DE LENCQUESAING U. A.

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Auf die Frage, woher jemand kommt, der rein biologisch und ganz offensichtlich seinen Ursprung ganz woanders hat, erhält man sehr oft die Angabe der Staatsbürgerschaft. Dabei geht die Frage viel tiefer. Wo liegt die Geschichte der eigenen Familie? Diese Antwort wäre viel interessanter – und hat auch nichts mit Diskriminierung zu tun. Vielfalt ist etwas Berauschendes, Inspirierendes, Weltenverbindendes. Wer sich weigert, zu seiner Herkunft zu stehen, der hat das Wichtigste leider nicht verstanden. Wer keinen Sinn darin sieht, seine Herkunft zu ergründen, versteht sich ohnehin als Weltbürger. Oder will dem Schmerz entgehen, der sich empfinden lässt, wenn die leiblichen Eltern sich dazu entschlossen hatten, ihr Kind wegzugeben. Sowas mag dem Selbstwert ganz schön schaden, ist es doch eine Form der irreparablen Zurückweisung.

Hirokazu Kore-eda hat sich diesem Thema bereits schon mit Broker angenommen, nur mit ganz anderem Zugang. Von dieser Art Kränkung und deren Heilung handeln aber beide Werke: In Return to Seoul, einer internationalen, nur keiner südkoreanischen Produktion, begibt sich eine junge Frau eigentlich rein zufällig und ohne es von langer Hand geplant zu haben, auf die Suche nach ihren leiblichen Eltern, haben diese sie doch einem Adoptionsinstitut übergeben, welches Freddie an ein französisches Ehepaar weitervermittelt hat. Nun ist sie in Europa aufgewachsen, spricht kein Wort Koreanisch und hat sich auch noch nie für das Land ihrer biologischen Herkunft interessiert. Ganz klar, das Unbehagen einem Ort gegenüber, an welchem sie auf gewisse Weise nicht willkommen war, mag Hemmschuh genug dafür sein, diesen Breitengraden aus dem Weg zu gehen. Doch es kommt alles anders: Statt eines Fluges nach Japan, der leider ausfällt, wählt Freddie die Alternative Seoul – und sitzt schon bald im Kundenempfang des Adoptionsbüros, um mehr über ihre Vergangenheit herauszufinden. Siehe da – schon bald meldet sich der Vater. Er und seine ganze Familie – somit auch Freddies Familie – sind außer sich vor Freude, den verlorenen Spross wieder bei sich aufnehmen zu dürfen. Wie jemand, der ohnehin wenig innere Ruhe findet, damit umgehen soll? Die Geschichte über Annäherung, Loslassen und Verzeihen weiß zu berühren, und das ganz ohne Sentimentalitäten. Auch wenn – wie im Film vermittelt – Koreaner die Tendenz dazu haben.

Wohl kaum würde man in Return to Seoul ein ganzes Epos vermuten. Tatsächlich umfasst die fiktive Biografie einer Entwurzelten ganze acht Jahre, in welcher diese allerhand Entwicklungen durchmacht, psychologische wie existenzielle. Der kambodschanische Filmemacher Davy Chou liefert einen konzentrierten, dichten Autorenfilm ab, der Hauptdarstellerin Ji-Min Park keine Minute aus den Augen lässt. Sie gleitet, strauchelt und eilt durch ihre eigene Zukunft, sie kämpft mit der Enttäuschung, adoptiert worden zu sein genauso wie mit dem starken Bedürfnis des Vaters nach Nähe zu seiner Tochter. Es geht um Selbstfindung und Akzeptanz – formal reinstes Schauspielkino, irrlichternd, aufbrausend und ruhesuchend in der urbanen wie ländlichen Schönheit Südkoreas. Return to Seoul begegnet uns fremden Lebensweisen und schwört auf die zentrale Bedeutung einer ethnobiologischen Geschichte, die niemand einfach so abschütteln kann.

Return to Seoul (2022)

Broker – Familie gesucht (2022)

MENSCHENLEBEN ZU VERGEBEN

6/10


broker© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: SÜDKOREA 2022

BUCH / REGIE: HIROKAZU KORE-EDA

CAST: SONG KANG-HO, GANG DONG-WON, BAE DOONA, JI-EUN LEE, LEE JOO-YOUNG, SEUNG-SOO IM, JI-YONG PARK U. A.

LÄNGE: 2 STD 9 MIN


Das macht schon was mit jemandem, der draufkommt, nicht gewollt auf die Welt gesetzt worden zu sein. Der rein zufällig lebt und atmet, obwohl er nicht geplant war. Eine Existenz, entstanden aus einem Unfall. Gut, es gibt Eltern, die nehmen dieses Ereignis dankend an, denn es wird ihr Leben verändern und um unersetzbare Aspekte bereichern. Es gibt aber auch welche, die niemals Mutter oder Vater sein wollen. Oder können. Wie fühlt man sich, als ein Kind, das keiner haben will? Eine neue Familie, ja klar. Aber dass die leiblichen Eltern einen nicht wollen, lässt sich, wie es scheint, nicht verwinden. Da kann es passieren, dass man im Erwachsenenalter aus der Not der anderen, die noch nicht wissen, wie ihnen geschieht, weil zu klein, Profit herausschlägt. Zwecks Rache. Als Genugtuung. Als Eigentherapie, wie auch immer.

Dong-soo zum Beispiel, selbst einmal Waisenkind gewesen und in entsprechender Einrichtung aufgewachsen, hat sich darauf spezialisiert, gemeinsam mit seinem älteren Freund Sang-Hyun „weggeworfene“ Babys, wie sie es nennen, an kinderlose Eltern zu verhökern, die das offizielle und oft recht mühsame Prozedere zur Adoption umgehen wollen. Klar ist das ein Verbrechen, nämlich astreiner Menschenhandel. Auf Nachhaltigkeit und Gewissenhaftigkeit, wie das die Behörden tun, kann dabei nur schwer gesetzt werden. Da passiert es eines Nachts, dass das Schicksal des Babys von So-young, abgegeben an der Babyklappe einer Kirche, für die Dong-soo arbeitet, von Polizei und Sozialbehörde genauestens beobachtet wird. Und auch So-young hat es sich tags darauf anders überlegt und will ihr Kind wieder zurück – allerdings ist dieses bereits in den Händen der beiden Gauner, die aber im Grunde ihres Wesens herzensgut sind und von da an die Mutter des Kindes mit auf ihre Tour durchs Land nehmen, um die richtigen Eltern zu finden, die auch bereit sind, einen stolzen Preis zu zahlen. Warum da So-young mitmacht, erscheint anfangs nicht klar. Doch irgendwie fühlt sie sich zu den beiden Außenseitern, die selbst keine Familien haben und verstoßen wurden, hingezogen. Wen wundert es, wenn die Biographie der jungen Mutter ein ähnliches Trauma beinhaltet wie das der beiden Gefährten, die fortan so etwas wie eine notgedrungen zusammengewürfelte Familie bilden.

Song Kang-ho, wohl der berühmteste südkoreanische Schauspieler, und das schon seit Jahrzehnten, war Haus- und Hofakteur Park Chan-wooks und wurde durch Bong Joon-hos Parasite weltbekannt. Jetzt hat er letztes Jahr glatt noch die Goldene Palme für sein Schauspiel im vorliegenden Film namens Broker – Familie gesucht erhalten. Er spielt nicht schlecht, was anderes würde mich auch wundern, doch eine herausragende Leistung ist das keine. Dafür spielen ihn seine Kolleginnen und Kollegen fast schon an die Wand, allen voran Im Seung-soo als der kleine Hua-Jin, der sich in den Wagen der Broker schleicht, weil diese für ihn eine Familie sein könnten.

Die Idee des Films, inszeniert und geschrieben von Palme-Gewinner Hirokazu Kore-Eda, der mit dem thematisch recht ähnlichen Shoplifters auf sich aufmerksam machte, hat alles, was ein Seelenwärmer fürs Kino so braucht: Wehmut, Hoffnung, die inspirierende Eigendynamik einer kleinen Gemeinschaft und das erstrebenswerte Gefühl, gebraucht zu werden. Alle, die hier durch Südkorea tuckern, sind Verstoßene, denen das Glück in ihrem Unglück widerfährt, einander plötzlich wichtig zu sein. Dafür findet der Filmemacher vielsagende Momente voller Wahrhaftigkeit, die aber dennoch recht spärlich gesät sind. Denn so richtig mitnehmen will Broker sein Publikum manchmal doch nicht. Es ist, als wären sich die fünf Individuen selbst genug, und wir als Zuseher müssen gar nicht so genau nachvollziehen können, was nun als nächstes passiert.

Zu sprunghaft erscheint mir der Film, nachdem er sich anfangs recht viel Zeit gelassen hat, um überhaupt in Fahrt zu kommen. Kaum sind die Reisenden in Busan, sind sie plötzlich in Uljin oder Seoul. Dann sind da plötzlich Eltern, dort plötzlich Eltern. Es reißt Kore-Eda herum in seinem Skript, und zumindest mich selbst irritiert der plötzliche Orts- und Szenenwechsel manchmal doch so sehr, dass es mich fast bis zum Ende auf Distanz hält. Broker – Familie gesucht ist ein Film, der manche Details verschluckt, während er manchen wiederum zu viel Aufmerksamkeit schenkt. Dazwischen finden sich einige szenische Highlights, die aber dennoch keinen perfekten Film daraus machen.

Broker – Familie gesucht (2022)

Das Licht, aus dem die Träume sind

SO SCHMECKT KINO

7,5/10


lastfilmshow© 2021 Neue Visionen


LAND / JAHR: INDIEN, USA, FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: PAN NALIN

CAST: BHAVIN RABARI, BHAVESH SHRIMALI, RAHUL KOLI, RICHA MEENA, TIA SEBASTIAN, DIPEN RAVAL, SHOBAN MAKWA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


Blickt man auf die Geschichte der bildnerischen Künste, so ist ganz klar, wer hier als Meister des Lichts gelten kann: William Turner. Und ja, natürlich, Claude Monet. In der Filmwelt gibt es dann doch noch einige weitere Kandidaten, mehr als eine Handvoll, die das Licht, aus dem die Träume sind, so einfangen können, dass es nicht nur dekorativen Zwecken nutzt, sondern als eigene narrative Ebene zum Verständnis des Films beitragen kann. Zu diesen Meistern des Lichts zählt zweifelsohne der Inder Pan Nalin. Ein Indepententfilmer, der mir vor einundzwanzig Jahren mit seinem Meisterwerk Samsara schon die Sprache verschlagen hat. Das Himalaya-Epos über einen buddhistischen Mönch, der vom profanen Leben angezogen wird wie die Motte vom Licht, führt jenseits der Wolken – strahlend blauer Himmel, zerklüftete Gebirge, in den Fels eingebettete Klöster, dazu ein hypnotischer, längst nicht altbackener Score zwischen Moderne und indischer Klassik. Samsara ist eine Wucht, wagt sich in Sachen Perspektiven weit vor, experimentiert mit Kontrasten und feiert die Farbe wie bei einem Holi-Fest.

Nach einigen weiteren Filmen – darunter einer ebenfalls bildstarken Ayurveda-Doku oder dem Frauendrama 7 Göttinnen – erschien zum Tribeca Filmfestival 2021 seine Hommage ans Kino der guten alten Zeit: bildgewaltig, sinnlich und fabulierend: Last Film Show – oder eben: Das Licht, aus dem die Träume sind. Zugegeben, eine Übersetzung, die vermuten lässt, es hier mit einem Nicholas Sparks-Roman zu tun zu haben. Dem ist aber logischerweise nicht so, wenngleich das Licht, wie bereits vermuten lässt, alle Stückchen spielt. Das hat damals schon, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, bereits Georges Méliès erkannt. Und später die Gebrüder Lumière. Mit dem Licht lässt sich allerhand anstellen. Es lassen sich Bilder zum Laufen bringen. Und es lassen sich anhand dieser Bilder Geschichten erzählen. Der Film war geboren, das laufende Bilderbuch ohne Umblättern und Mitlesen, sondern eben nur zum Staunen. Pan Nalin dürfte das Kino ebenfalls schon in jungen Jahren fasziniert haben, was in Indien keine Kunst sein muss, ist der Subkontinent doch der eifrigste Filmproduzent der Welt – ein Umstand, von welchem wir im Westen nur die Spitzen sämtlicher Eisberge wahrnehmen können – der Rest ist Bollywood mit immer ähnlichen Formeln und Farben und ganz viel Gesang. Oft stundenlang, aber mit unvermindertem Herzblut und wirbelnden Saris. Pan Nalin findet aber einen anderen, weniger gefälligeren Zugang. Er weiß, dass es mehr gibt als nur das, was Indien bewegt. Er kennt Chaplin, Godard und Kubrick. Er würdigt Tarantino und Scorsese. Und er will die Essenz von alldem nicht aus den Augen verlieren. Den Anfang, das Alpha, die Big Bang Theory, warum und wodurch Film eigentlich möglich wird. Was ist das Eigentliche, was Bilder und Publikum bewegt? Was tut man mit dem Licht, und was braucht man dafür? Was macht Film zum Erlebnis? Und wen berührt es?

In diesem Fall den neunjährigen Samay (grandios: Bhavin Rabari), der im Westen Indiens, am Rande eines Reservats voller Löwen und Großwild, eines Tages mit Papa an der Seite im Kino sitzen darf, um einen schwer religiösen Hindu-Streifen über Göttin Kali zu bewundern – ihr wisst schon, die blauäugige Dame mit der herausgestreckten Zunge und den vielen Armen. Ab diesen Moment ist es um Samay geschehen – er will Filme machen. Verstehen, wie so etwas funktioniert. Dem Vater schmeckt das gar nicht, denn Filme sind lasterhaft und verdorben, mit Ausnahme eben solche über Kali und Co. Der Junge aber hat seinen eigenen Kopf, schwänzt die nächsten Tage die Schule und schleicht sich dank eines Deals mit dem Filmvorführer Fazal in den Vorführraum des Galaxy-Kinos, bringt diesem die köstlichen Speisen seiner Mutter und darf durch ein Guckloch alles sehen darf, was hier so läuft. Obwohl dank dieser besonderen Konstellation glückselig, will Samay auch seine Freunde daran teilhaben lassen. Also stiehlt er Filmrollen und versucht, das Knowhow von Fazal über Film und Technik in einem verlassenen Gebäude abseits des Dorfes in die einfache Praxis umzusetzen. Und siehe da – irgendwann funktioniert es. Dank Grips, Improvisationstalent und der enormen Kreativität aller Beteiligten.

In den Szenen, in welchen das „Kinderkino“ immer mehr Gestalt annimmt und das Einmaleins des Mediums Film von der Pike auf erklärt, gerät Last Film Show zum Meisterwerk. In humorvoller und erfrischender Betrachtung schenkt Pan Nalin dem Kino all seine Liebe. Und nicht nur dem Kino: Auch dem Licht, dass durch Buntglas geschickt oder vom Spiegel reflektiert wird, durch ein Gitter fällt, durch Staub zum Strahl wird oder die Hand Samays berührt. Last Film Show erzählt im Grunde seines Wesens eine recht unspektakuläre Geschichte, fast alltäglich. Doch gerade dort, zwischen den Schmalspurlinien einer bald ausdienenden Eisenbahn und dem entwendeten Sari der Mutter als Leinwand, ruht ein zauberhafter Charme, der auch schon in Guiseppe Tornatores Cinema Paradiso, untermalt von Ennio Morricones melancholischen Klängen, berührt hat. Nicht das große Wumms, sondern kleine Ideen werden mal was Großes. Last Film Show beginnt am Anfang von etwas, wie der immer wieder zitierte Klassiker 2001, in welchem unter Also sprach Zarathustra der Urmensch den Knochen als Werkzeug erkannt hat.

Nalins Film ist eine spielerische Odyssee der Erkenntnis und der Wahrnehmung. Letzteres geht manchmal gar über die Leinwand hinaus, wenn der Meister des Lichts den Geruch und Geschmack indischen Essens, das ebenso aus einzelnen wichtigen Zutaten besteht wie das Medium Film, erfahrbar werden lässt. Wenn dann unter Blubbern und giftigen Dämpfen das Ende allen Zelluloids einen Neuanfang einläutet, wird Last Film Show zum dokumentarischen Paradigmenwechsel und blickt – gar nicht mal so wehmütig – zurück auf eine Ära, die gehuldigt werden muss, denn ohne sie gäbe es das Kino nicht. Egal, wie einfach heutzutage das Licht auf die Leinwand geworfen wird.

Das Licht, aus dem die Träume sind

Prisoners of the Ghostland

PUPPENTHEATER UNTER DEM ATOMPILZ

3/10


prisonersghostland© 2021 RLJE Films


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: SION SONO

CAST: NICOLAS CAGE, SOFIA BOUTELLA, NICK CASSAVETES, BILL MOSELEY, CHARLES GLOVER, JAI WEST U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Der japanische Allrounder Sion Sono war mir bis zum diesjährigen Flash-Filmfestival in Wien so gut wie gar kein Begriff. Habe ich da bis dato irgendwas versäumt? Ein kleiner, eingeschworener Kennerkreis wird vermutlich ein JA in die Runde rufen – alle anderen, die damit nichts anfangen können, werden auch weiterhin die Finger davon lassen. Und das liegt nicht daran, dass zumindest Sonos letzter Film – Prisoners of the Ghostland – einem Publikum in Sachen Geschmack nicht zuzumuten wäre. Das ganz und gar nicht. Sondern viel mehr deswegen, weil diese phantastische Mär, die sich irgendwo zwischen Mad Max und Barbarella befindet, so sehr selbst fasziniert ist von ihrem in Kostümen schwelgenden Ausdruckstanz, dass Nicolas Cage geradezu Minderwertigkeitskomplexe bekommen könnte, weil der eben nicht so gut tanzen kann und als schwerverbrecherischer Antiheld, der in eine Zwischenwelt reisen muss, um eine junge Frau zu retten, salopp gesagt links liegen gelassen wird. Diese Zwischenwelt nennt sich übrigens Ghostland und hat irgend etwas mit einer atomaren Katastrophe und verstrahlten Knacki-Zombies zu tun. Jenseits dieser Dimension herrscht Westernstimmung. Wie bitte?

Es heißt aber nicht, dass Cages Konterfei einfach nur zur Vermarktung eines kostengünstigsten On Demand-Streifens herangezogen wird, obwohl er nur ein Cameo verbucht. Coppolas Neffe ist ganz vorne mit dabei, und neben ihm räkelt sich Sofia Boutella im späten Ripley-Outfit auf natürlichen Untergründen. Das beste: Cage trägt einen Sicherheitsanzug, den er nicht loswerden kann und der ihn moralisch bremsen soll, sollte er der zu rettenden Dame auf irgendeine (nötigende) Weise zu nahe treten. Eine schräge Idee, könnte aus den Sechzigern sein – und könnte tatsächlich auch in Roger Vadims Hippie-SciFi passen, wie so vieles in diesem Film. Doch eine schräge Idee und ganz viele wirklich innovative Outfits erwecken noch lange nicht die kunterbunte Abenteuerlust beim Zuseher. Sonos Film genügt sich insofern selber, da es keinen Wert darauflegt, auch nur irgendwie auf Zug inszeniert zu werden oder dem Szenario eine gewisse Bodenhaftung zu verleihen. Das Ergebnis: konfuser Japan-Prunk im Cowboylook zum postapokalyptischen Fünfuhrtee, zu dem niemand die Mühe wert findet, pünktlich zu erscheinen.

Inhaltlich ist Prisoners of the Ghostland ehrlich gesagt zu vergessen und genauso zu vernachlässigen wie Cage selbst. Der ist selbst oft ahnungslos, was die folgende Handlung betrifft. Und nicht nur er. Alle scheinen ahnungslos, das ganze Ensemble fügt sich in eine Performance-Veranstaltung, die zwar leidenschaftlich arrangiert ist, auf Dauer aber gehörig anstrengt, weil das schmucke Dekor zwar gefällt, doch eigentlich nichts auf der Habenseite hat, was es ausschmücken kann.

Prisoners of the Ghostland

Zorn der Bestien – Jallikattu

WIE MAN EINEN BULLEN FÄNGT

5,5/10


jalikattu© 2021 Indeedfilm


LAND / JAHR: INDIEN 2019

REGIE: LIJO JOSE PELLISSERY

CAST: ANTONY VARGHESE, CHEMBAN VINOD JOSE, SABUMON ABDUSAMAD, SANTHY BALACHANDRAN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Pamplona liegt in Indien. Warum? Weil man Pamplona in erster Linie mit etwas verbindet, das als Stierrennen bekannt ist. Oder Stierhatz. Von Tierwohl kann da keine Rede sein, wenn alljährlich ein Bulle durch die Straßen und Gassen getrieben wird. Aber Tradition steht nun mal über dem kognitiven Fortschritt des Menschen, und deswegen gibt es so etwas Verachtendes immer noch. Wenn dann der Stier die Menschen jagt und sie schlimmstenfalls aufspießt, ist das ein Risiko, das jeder vorher weiß. Pamplona liegt also in dieser Hinsicht eben auch auf dem asiatischen Subkontinent. Und geht ein bisschen anders. Dort nennen die Leute diesen traditionellen Sport Jallikattu. Ziel ist es, den Stier im wahrsten Sinne des Wortes bei den Hörner zu packen, bestenfalls aufzusitzen und dort eine Zeit lang zu bleiben, eher sich das verängstigte und panische Tier losreißen kann. Rodeo meets Pamplona, könnte man sagen. Dieser Tradition folgt auch der indische Oscar-Beitrag Zorn der Bestien – Jallikattu. Doch ist dieses filmische Hide and Seek mit einem Bullen wohl rein zufälligen Ursprungs.

Denn: Zwei Metzger müssen für eine anstehende Hochzeit einen Stier schlachten. Der allerdings nimmt sein Schicksal selbst zwischen die Hufe und kann entkommen, in wildem Trab. Ohne Rücksicht auf Verluste arbeitet sich der gehörnte Schädel durch das Dickicht des Waldes, pflügt Menschen zur Seite und bringt ganze Baracken zu Fall. Eine Gefahr für die Allgemeinheit. Also muss der Bulle wieder eingefangen werden. Wie man das macht? Am besten mit einem ganzen Mob an grölenden, wütenden, besserwissenden Männern im Sarong, die, wenn es dunkel wird, ihre Fackeln schwingen. Die Frauen sind daheim und kochen Reis, die Alten darben dahin. Während sich immer mehr zeternde Männern um den eigentlichen Tross scharen, kommen alte Dispute wieder ans Licht, die der eine oder andere mit dem einen oder anderen der Runde noch nicht ganz geklärt hat. Und das Tier, das beansprucht plötzlich jeder für sich. Und jeder will einen Teil der Beute, das ist klar. Die Schar, die durch den Wald pflügt, begleitet von einem sphärischen, ungewöhnlichen, mystischen Score, der den entrückten Wahnsinn formidabel unterstreicht, steht längst nicht mehr im richtigen Verhältnis zur Ursache.

Noch nie etwas von Lijo Jose Pellissery gehört? Ist nicht sehr verwunderlich, denn dieser Künstler ist Vertreter des sogenannten Mollywood, der Subklasse des südindischen Films rund um Kerala. Entsprechend tropisch ist auch das Setting dieser wüsten Parabel, die zumindest teilweise die Aufmerksamkeit längst verwöhnter Cineasten erregt. Andernteils erkennt man ein gewisses Chaos in der Erzählstruktur, die, will man das Gesehene aufmerksam verfolgen, ungemein anstrengt. Für offene Münder sorgt hingegen die erste Sequenz – eine Collage an kurzen Bildern und Szenen, die den Alltag der Dorfbewohner bündelt, ebenfalls untermalt von einer tickenden Klangkulisse, als wäre das Leben eine Abhandlung der immer gleichen Agenda – hektisch, umtriebig, lebhaft. Dann, wenn der Stier entkommt, ist die aufgebrachte Versammlung an Menschen, die alle zum Verwechseln ähnlich sehen und manche davon nur vage als Hauptrollen zu erkennen sind, eine ins Nichts geführte Revolte wider der Vernunft. Der Mensch kehrt zu seinen archaischen Wurzeln zurück, verfällt der Lust an Gier und Macht. Unverkennbar überträgt sich die Wildheit des Stiers auf den Menschen. Als soziale Studie bringt Zorn der Bestien – Jallikattu aber, indem es sich verzettelt, verpeilt und verplaudert, zu wenig aufs Tapet.

Zorn der Bestien – Jallikattu

A Hard Day

WENN TOTE NICHT ANS HANDY GEHEN

7/10


ahardday© 2021 Busch Media Group

LAND / JAHR: SÜDKOREA 2014

BUCH / REGIE: KIM SEONG-HUN,

CAST: LEE SUN-KYUN, CHO JIN-WOONG, JEONG MAN-SIK, SHIN JUNG-KEUN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 51 MIN


Meist lautet die Faustregel so: kennst du einen amerikanischen Thriller, kennst du gleich viele andere. Kennst du aber einen südkoreanischen Thriller, können dich alle anderen noch überraschen. Forrest Gump würde den Umstand mit einer Schachtel Pralinen vergleichen. Wie die das dort machen, ist kein Geheimnis – klarerweise liegt’s am Drehbuch, und klarerweise liegt’s an der Bereitschaft der Produzenten, auch gegen die Norm gebürstete Arbeiten zu verfilmen, die nicht dem lukrativen Schema erfolgreicher Marktforschung unterliegen. Die Südkoreaner, die trauen sich einfach mehr. Fabulieren mehr und denken mehr um die Ecke. Daher sind auch Filme, die sonst kaum das Zeug haben, auf westlichen Leinwänden groß rauszukommen – weil sie vielleicht nicht Bong Joon-Ho oder Park Chan-Wok in den Credits haben – bemerkenswerte Geschichten, die einfach erzählt werden müssen. So auch dieser bereits 2014 abgedrehte Streifen, der allerdings rund sechs Jahre darauf warten hat müssen, um das Licht der Retail-Welt zu erblicken. Doch egal, wann dieser letztendlich auftaucht – es ist schön, ihn zu sehen. Und ein kurioses Vergnügen obendrein. Ich hoffe, nur, dass es den Coen-Brüdern oder sonst wem nicht einfällt, Filme wie diese zu amerikanisieren. Eigene Ideen wären begrüßenswerter.

So ist die Idee vom korrupten Detektiv Ko, der bei einer nächtlichen Autofahrt zum Begräbnis seiner Mutter einen Menschen überfährt und sich damit allerlei Schwierigkeiten aufhalst, eine erfrischend originelle. Denn eine Anklage kann Ko momentan wirklich nicht gebrauchen, also schafft er das Unfallopfer in seinen Kofferraum, um es später spurlos verschwinden zu lassen. Was eignet sich da nicht besser als der Sarg seiner verstorbenen Mutter, die ja ohnehin begraben wird. Doch dieses groteske Vorhaben gestaltet sich äußerst schwierig. Dabei passieren Dinge, die kurioser kaum sein können. Und letzten Endes war der Überfahrene nicht irgendeiner, und auch nicht jemand, dessen Ableben nicht noch von jemand anderem beobachtet wurde.

Schwarzer Humor trifft auf Copthriller, die wiederum treffen auf makabren Suspense. Das muntere Potpourri aus Vertuschung und Erpressung, in dem es keine Guten, sondern nur weniger Böse gibt, steuert mit sehr viel ausgelebter Schadenfreude auf ein Katz- und Mausspiel zu, das vor skurrilen Momenten nicht mehr weiß, wohin damit. Klar kommt einem da wieder das tiefschwarze Meisterwerk Blood Simple von den eingangs erwähnten Coen-Brüdern in den Sinn, es werden Leichen aus- und eingegraben, und das alles in einem lakonischen, fast schon finnischen Gleichmut, der allerdings das Meistern scheinbar auswegloser Situationen in glaubhaftem Licht erscheinen lässt. A Hard Day ist nicht nur ein Tag, A Hard Week trifft es wohl eher, denn der Thriller erstreckt sich über einen längeren Zeitraum. Doch dieser eine Moment der Unachtsamkeit an diesem einen harten Tag ordnet die Parameter neu und zwar so, wie man sie vielleicht nicht erwartet hätte.

A Hard Day

Yalda

BEGNADIGUNG IM FREE TV

5/10


yalda© Julian Atanassov/JBP Production


LAND / JAHR: IRAN, FRANKREICH, DEUTSCHLAND, SCHWEIZ, LUXEMBURG 2019

BUCH /REGIE: MASSOUD BAKHSHI

CAST: SADAF ASGARI, BEHNAZ JAFARI, BABAK KARIMI, ARMAN DARVISH, FERESHTEH SADRE ORAFAIY U. A. 

LÄNGE: 1 STD 29 MIN


There’s no business like show business – nicht einmal im Iran. Betrachtet man die Medienlandschaft weltweit, lässt sich ja ohnehin kaum glauben, was es da für Formate gibt. Vom expliziten Trash, der zum Fremdschämen einlädt, bis hin zu halsbrecherischen Challenges quer durch die Wildnis, und das am besten nackt. Dank einer gewissen Quotengeilheit gibt es zumindest in vorliegendem Kammerspiel mit dem Titel Yalda eine Livesendung, in welcher tatsächlich über Leben und Tod entschieden werden kann. Klingt ein bisschen wie Running Man oder wie die Tribute von Panem? Nein, ganz so actionlastig ist es nicht, und der Bodycount übersteigt hier schlimmstenfalls auch nicht den einstelligen Bereich. Geerdet in der Gegenwart, und keinesfalls als Bild einer Zukunft zu betrachten, lädt die Reality-TV-Show mit dem schmalzigen Titel Joy of Forgiveness verfeindete Parteien auf die illustre Bühne, um einander zu vergeben. Natürlich anmoderiert, sonst fallen sich die Wütenden vielleicht sogar würgend um den Hals. Das Ziel ist allerdings Eintracht. Schön und gut. Doch an diesem Abend, dem sogenannten Yalda-Fest (die Wintersonnenwende in der islamischen Kultur), geht’s um mehr als nur um ein gutes Gewissen. Es geht um Begnadigung oder Vollzug.

Denn: Die junge Maryam wird wegen Mordes an ihrem ums zigfache älteren Ehemann zum Tode veruteilt. Natürlich schwört sie, dass es ein Unfall war, beteuert aber nicht ihre Unschuld. Die Tochter des Getöteten, die ebenfalls Maryams Mutter hätte sein können, dabei aber lange Zeit ihre beste Freundin war, kann dem Mädchen nicht vergeben. Bis heute, bis zu diesem Tag nicht. Denn würde sie das tun, würde sie durch ihr Einlenken das Todesurteil abwenden können.

Schon ein starkes Stück, jemandem, der offensichtlich als befangen gilt, das Schicksal über ein Menschenleben in die Hand zu legen. Versöhnung und Vergebung hin oder her – klar ist das manchmal ein Kraftakt, und eine berührende Geste, wenn es denn funktioniert. Dieses wohl schwierigste als auch höchste Gut im menschlichen Verhalten so dermaßen zu kommerzialisieren, klingt natürlich unweigerlich an eine Medien-Dystopie wie Network, entscheidet sich aber eher, alles andere als das sein zu wollen. Der Staat wäscht sich rein, der bürgerliche Schauprozess beginnt. So gewieft und pointiert der Plot auch anfangs scheinen mag – Regisseur Massoud Bakhshi macht bald keinen Unterschied mehr zwischen der reißerischen Dramatik der im Film dargestellten Show und der Tonlage des Films selbst. Beides gerät zu einer plakativen, teils dem Publikum gefälligen Exaltiertheit. An der Kraft der Vergebung freut sich letzten Endes nur das Fernsehen. Das ist ernüchternd und irgendwie, auf fröstelnde Weise, unbefriedigend.

Yalda

Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings

NEUE HELDEN BRAUCHT DAS LAND

7,5/10


shang-chi© 2021 Marvel Studios


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: DESTIN DANIEL CRETTON

CAST: SIMU LIU, TONY LEUNG, AWKWAFINA, BEN KINGSLEY, FALA CHEN, MICHELLE YEOH, FLORIAN MUNTEANU, BENEDICT WONG U. A. 

LÄNGE: 2 STD 12 MIN


Warum auch immer Black Widow als Auftakt für die neue Phase des MCU hergenommen wurde – Scarlett Johanssons womöglich letzter Ausflug als Natasha Romanoff scheint eher wie der Epilog der letzten Phase zu sein. Der Final Curtain für eine schneidige Heldin. So richtig frischen, neuen Wind, und das noch aus einer ganz anderen Himmelsrichtung, nämlich von dort, wo die Sonne aufgeht, bläst uns erst Shang-Chi oder The Legend of the Ten Rings ins Gesicht. Wie fühlt sich dieser Luftwechsel an? Ungefähr so, wie sich bereits die Serie Loki angefühlt hat. Dort wiederum, auf dem hauseigenen Streamingportal, ist das MCU längst schon an neuen Ufern angekommen. Der Gott des Schabernacks, Wanda Maximoff und der neue Captain America haben sich bereits schon warmgelaufen für das, was da noch kommen möge. Jetzt allerdings haben wir seit Captain Marvel nach langer Zeit wieder mal eine Origin-Story, die natürlich die gängigen Parameter für so eine Genese zu atmen hat, die aber durch sein wild wucherndes Märchen-Kolorit den Alles-ist-möglich-Wahnsinn der Guardians of the Galaxy auf die Erde wuchtet.

Dabei ist das MCU seit jeher ein zwar stets zusammenhängendes und auch homogenes, aber in seiner Sprache manchmal hochgradig unterschiedliches Universum. So zu Beispiel bleibt die Captain America-Fraktion mit Winter Soldier, Nick Fury oder eben Falcon auf gesellschaftspolitischer Bühne und zeichnet das unserer Realität am nächsten kommende alternative Weltbild. Auf der anderen Seite stehen die Guardians und alles, was da so aus dem interstellaren Raum auf uns eintrudelt. Knallbunt, phantastisch und verspielt. In dieses Fahrwasser begibt sich auch der Neue unter den Weltenrettern: ein typ namens Shang-Chi, der den Infinity-krieg gut überstanden hat und so tut, als wäre er ein ganz normaler Amerikaner mit Migrationshintergrund, der seinen Alltag bestreitet wie jeder andere auch. Dem ist natürlich nicht so, und eines Tages tauchen wilde Kerle auf, die Shang-Chi an den Hals wollen. Um diesen hängt nämlich das Erbstück seiner verstorbenen Mutter, das Papa Xu unbedingt haben will. Und nicht nur das – die Familie, in dessen Besitz die zehn magischen Ringe fallen, soll wieder zusammenkommen, um Rache an denen zu nehmen, di Xus bessere Hälfte und Mutter von Shang-Chi gefangen halten.

Wie in Black Widow dreht sich auch in Shang-Chi an the Legend of the Ten Rings sehr viel um die Familie und dessen Zusammenfindung. Familie war Disney immer schon wichtig – man merkt deutlich den Einfluss des Mauskonzerns auf das Marvel-Franchise. Doch das macht nichts, diese Formeln fügen sich ganz gut in einen neuen, vielversprechenden Überbau, indem Magie, Zeit und Dimensionen eine große Rolle spielen werden. Dementsprechend heisst es bei Destin Daniel Crettons Marvel-Debüt: alle Sinne auf Empfang, denn da kommt was Unerwartet großes auf uns zu. Und auch wenn es im Film niemals ausgesprochen wird – es scheint, als wäre das von Mythen umrankte Tal Shangri La nun endlich gefunden worden.

Martial Arts war klar – die Fights sind formschön und übersichtlich choreographiert. Action State of the Art, was anderes hätte man ja nicht zu erwarten brauchen. Was letzten Endes die Erwartungen durchaus sprengt, ist der gegen Mitte des Films erhaltenen Drall Richtung sagenhafter Märchenwelt – im Gegensatz dazu wirkt das jüngste Mulan-Abenteuer wie eine solide Terra X-Doku. Neben den sympathischen Sidekicks wie die gewohnt burschikose Awkwafina und eines ganz besonderen, alten Bekannten aus den frühen MCU-Phasen sorgen phantastische Tierwesen, welche die Möglichkeit eines Crossovers mit dem Harry Potter-Universum einräumen könnten, für überraschtes Staunen. Und es kommt noch dicker, bunter und spektakulärer. Shang-Chi and the Ten Rings beginnt wie ein geerdeter Marvel-Film, zieht daraufhin sämtliche Asse an Schauwerten aus dem Ärmel und endet als folkloristisch angehauchtes und selbstbewusstes Eventkino. So beeindruckend der virtuose Bilderreigen auch sein mag – er hätte längst nicht so eine treffsichere Wirkung erzielt, wären die Protagonisten nicht so gewissenhaft gecastet worden wie sowieso schon immer im MCU (mit Ausnahme von Captain Marvel vielleicht). Serien- und nunmehr Kino-Shootingstar Simu Liu verleiht dem asiatischen Helden eine bescheidene Natürlichkeit. Wie Hawkeye, nur statt Pfeile sind es folglich Ringe, die noch eine wichtige, wenn nicht gar sehr wichtige Rolle spielen werden. Denn nach dem Abspann heißt es wieder: Sitzen bleiben!

Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings