The Creator (2023)

DIE TRÄNEN DER ANDROIDEN

6/10


THE CREATOR© 2023 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: GARETH EDWARDS

DREHBUCH: GARETH EDWARDS, CHRIS WEITZ

CAST: JOHN DAVID WASHINGTON, MADELEINE YUNA VOYLES, GEMMA CHAN, KEN WATANABE, STURGILL SIMPSON, ALLISON JANNEY, RALPH INESON, AMAR CHADHA-PATEL, MARC MENCHACA U. A.

LÄNGE: 2 STD 13 MIN


Künstliche Intelligenz ist in aller Munde, in allen Zeitungen und, weil es so einfach geht, auf sehr vielen elektronischen Geräten. Als App, die sich ungeniert der lizenzfreien Datenaneignung hingibt, um mehr zu wissen als der User mit seinen unzureichend ausformulierten Prompts. Künstliche Intelligenz treibt uns alle um, macht Angst und schafft gleichermaßen Freizeit, wenn die Dinge an die Technik delegiert werden können. Dafür sind KIs schließlich da, und nicht dafür, sich als neue Spezies zu etablieren, auf einem Planeten, der ohnehin schon kaum mehr Ressourcen hat. Gareth Edwards, Held der Star Wars-Franchise und Virtuose im Schaffen von Bildern, die das Phantastische in natürliche Settings integrieren, hätte sein Roboterdrama nicht punktgenauer ins Kino bringen können. The Creator gibt sich schließlich der großen Frage hin, was wohl aus unserer Welt werden könnte, wenn künstliche Intelligenz mit eigenem Bewusstsein auf ein Daseinsrecht pocht und zum Teil einer rätselhaften Evolution wird, die Homo sapiens immer mehr den Rang abläuft.

Das sind prinzipiell mal, ohne viel nachzudenken, interessante Überlegungen. In einem schönen Film, der an die postmodernen (ich will nicht sagen: postapokalyptischen) Welten eines Simon Stålenhag (The Electric Dreams) erinnert. Bizarrer architektonischer High-Tech-Gigantismus zwischen naturbelassenen Landschaften überwiegend der asiatischen Hemisphäre – alles getaucht in mal zu-, mal abnehmendes Tageslicht; mal grobkörnig, mal leicht verwaschen. Es ist, als wären diese Gebilde wirklich da. Es ist, als wären diese Androiden, Simulants genannt, mit dem täuschend echten Antlitz diverser Gesichts-Sponsoren niemals weggewesen. Betrachtet man sie im Profil, erkennt man sie leicht an diesem Hohlraum zwischen Kiefer und Wirbelsäule, die eigentlich gar nicht mehr vorhanden ist. Diese Androiden könnten die Vorstufe zu den Replikanten sein, mit welchen sich der Blade Runner zeitlich eigentlich früher, aber angepasst an The Creator viele Jahrzehnte später herumschlagen wird. Bei Gareth Edwards ist es das Jahr 2065. KI in jedweder Form hat bei den Westmächten längst seine Chance verspielt, nochmal groß rauszukommen. Aufgrund eines nicht näher definierten atomaren Zwischenfalls, welcher die Zerstörung von Los Angeles zur Folge hatte, ist in den USA der Geist aus dem Computer persona non grata – anders als im Osten, denn dort ist die Koexistenz zwischen Mensch und Maschine zum wahrgewordenen Wunschtraum eines John Connor geworden, der sich in der Welt des Terminators mit einer ganz anders gearteten, menschenfeindlichen KI namens Skynet herumschlagen musste. Im Osten schließlich wäre alles eitel Wonne und selbst Androiden würden den Weltreligionen wie dem Buddhismus folgen, würden sich die Westmächte nicht, was plausibel scheint, als Weltpolizei aufspielen und dem Fortschritt dank einer monströsen, im Orbit stationierten Waffe namens Nomad, den Krieg erklären. In diesem Tauziehen zwischen Ost und West sucht ein amerikanischer Ex-Agent namens Joshua Taylor (John David Washington) seine bei einem Anschlag vermeintlich draufgegangene Geliebte, die Teil eines Rebellenrings rund um den KI-Entwickler Nirmata gewesen ist und von Joshuas Doppelleben nichts wusste. Im Zuge seiner Bestrebungen fällt ihm auch noch die Roboter-Superwaffe Alpha O in die Hände – ein junges Androidenmädchen, das womöglich weiß, wo Joshuas Geliebte steckt, und wo auch Nirmata zu finden ist, dem alle habhaft werden wollen.

Die abenteuerliche Odyssee quer durch eine atemberaubend arrangierte Zukunft mit Robotern und Vehikeln, die frappant an Star Wars und eben Rogue One – A Star Wars Story erinnern, ist eine Sache. Die andere ist Gareth Edwards‘ und Chris Weitz‘ erschreckend naiver Zugang zur Materie. The Creator ist ein Film, der vor allem den Filmemachern gefällt, der sich selbst gefällt und, um diese Harmonie aus Natur und High-Tech nicht zu stören, allerlei Kompromisse für seinen Plot einzugehen bereit ist. Alles soll gut ins Konzept passen, passt aber nicht zu dieser übergeordneten Vision einer – ich sag‘s mal so – völlig unmöglichen Zukunft, die an so vielen Ecken und Enden so viele Fragen aufwirft, das man gar nicht mal anfangen will, diese – zumindest mal für sich selbst– zu beantworten.

Das fängt allein schon damit an, dass The Creator völlig ignoriert, dass die Welt, in der wir womöglich leben werden, sowohl an Überbevölkerung als auch unter Ressourcenknappheit leidet. Ist sowieso schon alles dicht gedrängt und die Existenz am Kippen, braucht es zu allem Überfluss Maschinenmenschen, die uns ersetzen. Diese zu bauen, kostet Geld. Wer finanziert das? Wieviel kostet ein Android? Können sich diese bereits selbst herstellen? Was sollen diese Streifzüge durch heruntergekommene Fabrikhallen, an denen „echte“ Menschen werkeln, während das, was vom Fließband steigt, das Nonplusultra eines High-Tech-Endprodukts darstellt?

Nichts ist in einer Welt wie dieser umsonst. Womit zahlen Androiden ihren Strom, den sie abzapfen? Menschliche Profitgier ist plötzlich kein Thema mehr, Landfraß nicht der Rede wert. Wo Gareth Edwards hinblickt, führen Androiden-Bauern ihre Wasserbüffel übers Feld. Hinken Androiden, nur weil sie die Gesichter alter Menschen haben, den lehmigen Dorfweg entlang. Menschenleere Strände, Inseln in der Andamenensee, idyllische Ja natürlich!-Wirtschaft inmitten eines Techno-Krieges? Das ist Kitsch, der ohne Kontext vielleicht funtkionieren würde. Die Welt dieser Zukunft seufzt in entrückter Melancholie vor lauter Science-Fiction-Romantik, als wäre Caspar David Friedrich im Roboterzeitalter wiedergeboren. Nur passt diese pittoreske Fiktion nirgendwohin, sie ist die gefällige Momentvorstellung eines Visionärs, der schöne Bilder liebt, schluchzende KI-Kinder und letzte Küsse vor dem Supergau, wie Felicity Jones und Diego Luna, kurz bevor der Todesstern den Palmenplaneten Scarif in Schutt und Asche verwandeln wird.

The Creator ist ein Bilderbuch aus einer irrealen Zukunft. Eines, das man gerne durchblättert, wovon man aber die rundum verfasste Geschichte nicht unbedingt mitlesen muss, denn dann könnte man Gefahr laufen, festzustellen, dass Edwards Film in ereiferndem Glauben an das Erstarken künstlicher Lebensformen dem Fortschritt der KI Tür und Tor öffnen will. Eine Conclusio, die mir nicht ganz schmeckt.

The Creator (2023)

Strange World (2022)

SELTSAM VERTRAUT UND DOCH VÖLLIG FREMD

5/10


STRANGE WORLD© 2022 Disney. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: DON HALL

BUCH: QUI NGUYEN

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): JAKE GYLLENHAAL, DENNIS QUAID, JABOUKIE YOUNG-WHITE, GABRIELLE UNION, LUCY LIU, KARAN SONI, ALAN TUDYK U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Der gigantische Dachkonzern Disney mit all seinen eingegliederten Studios zu jedem seiner Themen sieht sich völlig nachvollziehbar in der Pflicht, der medienkonsumierenden Menschheit beizubringen, wie man achtsam durchs Leben geht. Wie man Minderheiten nicht mehr als minder ansieht, wie man sexuelle Diversität ganz einfach und ohne viel nachzudenken akzeptieren kann. Wie sich People of Color endlich auf Augenhöhe mit den amerikanischen Weißen begeben kann. Und wie man nicht zuletzt unsere Welt, oder eigentlich viel mehr uns selbst schützt, bevor es zu spät ist. Disney hat sich da viele Gedanken gemacht. Und nicht nur Disney. Auch Netflix und Amazon und alle Riesen, die sich in der moralischen Verantwortung befinden. Jeder Konzern hat da so seine Liste, auf welcher steht, wer aller und was alles in einem Mainstream-Film zu sein hat, welche Botschaften kommuniziert werden müssen und welche Moral vertreten. Sind diese Bedingungen erfüllt, kann es ja meinetwegen kreativ werden. Aber nicht vergessen: Die Message ist wichtig, die Agenda muss erfüllt sein, die Saat muss aufgehen.

Klar soll sie das. Alles andere ist Unsinn und lässt die Menschheit in seiner Entwicklung im Kreis laufen bzw. zurück, so lange Freiheiten, die niemanden sonst einschränken, nicht gelebt werden können. So lange Hautfarben soziale Unterschiede hervorrufen, es „Ungläubige“ gibt oder der Klimawandel geleugnet wird. Es liegt so viel im Argen. Und ja, man muss ein Bewusstsein schaffen, wenn man die Macht dazu hat. Die Frage ist nur: Wie? So wie Disney?

So viel Wokeness muss man auch erst mal in einen Film packen können. Der Mauskonzern schafft das mit links, und tatsächlich liegt es ihm fern, das Offensichtliche auch noch zusätzlich zu erwähnen. Hier ist die Diversität selbstverständlich, in dieser höchst eigenartigen Welt, umgeben von hohen Gebirgen, die überhaupt nicht so aussieht wie die unsere, in der Steampunk-Mechanik den Alltag prägt und die Menschheit in ihrer Akzeptanz schon sehr viel weiter scheint als unsere. Diese verbindende Vernunft hat dann auch Potenzial für Helden und Abenteurer, die unbedingt schon mal wissen wollten, was jenseits der Berge liegt. Also macht sich der gestandene Familienvater Jaeger Clade mit seinem Teenager-Filius eines Tages auf, um das Unbekannte zu erforschen, allerdings mehr für sich selbst als für die Allgemeinheit. Dem Sohnemann Searcher (was für seltsame Namen) wird das Unterfangen bald zu viel – er ist schon zufrieden damit, auf dem Weg durch die Wildnis auf eine außergewöhnliche Pflanze gestoßen zu sein, die Energie abgibt. Ach, was hätten wir die nicht gern angesichts der geschmalzenen Jahresabrechnungen zu Strom und Gas, die uns ins Haus flattern? Doch man muss neidlos zugestehen: Dieses Gewächs hat es in sich und wird die Autarkie des Landes retten, während der sture Übervater verschollen bleibt, hat der doch seinen Sohn damals einfach ziehen lassen. Eine ganze Generation später gibt’s mit diesen Energie-Trauben allerdings ein Problem – sie liefern nicht mehr so, wie sie sollen. Also startet eine Expedition ins Innere des Planeten, um den Ursprung allen Übels ausfindig zu machen – und stößt dabei auf eine höchst merkwürdige, surreale Welt aus grenzenloser Biomasse, die noch dazu seltsame Lebewesen beherbergt, die zu surreal erscheinen, um wahr zu sein. Eines dieser Geschöpfe ist aber allzu menschlich: es ist Jaeger Clade, der zwei Dekaden lang sein Dasein hier hat fristen müssen.

Natürlich ist die Optik wieder prachtvoll – die Figuren und ihre Mimik, all die Oberflächen und die geschmeidige Animation: einfach perfekt. Doch zu viel Perfektion bleibt seltsam seelenlos. Disney erlaubt sich mit Strange World, eine ideale Welt zu fordern, in der selbst das Imperfekte nur so weit auftritt, um moralisch noch integer zu bleiben. Konflikten geht Strange World aus dem Weg, die Vater-Sohn-Problematik reduziert sich auf die üblichen Stereotypien verlorener Väter, die gefunden werden wollen. Die Familie selbst ist das überfrachtete Produkt aus politischer Korrektheit, die so sehr das Ideal einer harmonischen Koexistenz einfordert, dass sie fast schon an Propaganda grenzt. Dabei wäre es gehaltvoll genug gewesen, einfach „nur“ die Umweltproblematik zu thematisieren, die uns sowieso gerade herumreißt. Dafür gibt’s auch einen netten Story-Twist am Ende, und der eigentliche Plot wird zur runden Sache. Doch der Hang zum Perfektionismus und die vehemente Agenda des Medienriesen gerät viel zu plakativ.

Strange World (2022)

Avatar: The Way of Water

DER MENSCH UND DER NEID AUFS PARADIES

8/10


AVATAR: THE WAY OF WATER© 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: JAMES CAMERON

BUCH: JAMES CAMERON, JOSH FRIEDMAN

CAST: SAM WORTHINGTON, ZOE SALDANA, STEPHEN LANG, SIGOURNEY WEAVER, KATE WINSLET, CLIFF CURTIS, JAMIE FLATTERS, BRITAIN DALTON, JACK CHAMPION, CCH POUNDER, JEMAINE CLEMENT U. A.

LÄNGE: 3 STD 13 MIN


Da gibt es Kunstwerke auf dieser Welt, die existieren scheinbar schon ewig, doch man hat sie selbst noch nicht gesehen. Die Pyramiden zum Beispiel, den Petersdom oder die Fresken des Michelangelo. Man weiß, dass diese von einer objektiven Schönheit sind, und man weiß, dass, würden diese mal wirklich vor den eigenen Augen in ihrer ganzen Realität erscheinen, wir sie schön finden müssten. Allein schon aufgrund der Art und Weise, wie sie entstanden sind. Und vor allem: wie lange. Das zu respektieren verlangt in gewissem Maße ein positives Feedback des Betrachters. Denn so viel Arbeit verdient, honoriert zu werden. Ist es also ehrlos, wenn der Applaus trotzdem ausbleibt? Viel mehr scheint es wie ein Gruppenzwang, unter welchem man gut finden muss, was die Mehrheit bereits überschwänglich liebt. Sich dem zu entziehen, ist manchmal nicht leicht. Und bei den Werken von James Cameron, die schon irgendwie, zumindest in der Welt des Films, einen gewissen Weltwunder-Status genießen, ist diese den Massen zugetragene Schönheit genauso etwas, was unmöglich nicht gefallen kann. Oder doch?

Beginnen wir mal damit, dass James Cameron, Visionär und Avantgardist in Sachen Film- und Kameratechnik, in erster Linie eben genau das ist: ein Techniker. Einer, der Science-Fiction und alles liebt, was irgendwie mit Wasser zu tun hat. Der so wie George Lucas einst nicht viel darauf gibt, was alles möglich ist, sondern viel mehr wissen will, was alles möglich sein kann. Und so macht er seine Filme. Mit einem Aufwand wie beim Bau der Pyramiden, mit eigens entwickelten Kameras und Methoden, die Bilder liefern sollen, wie das Publikum sie bis dato noch nicht gesehen hat. 13 volle Jahre lang konnte uns Cameron dies versprechen. Bis Mitte Dezember 2022. Denn da sollten wir sehen, ob das Blaue vom Himmel nicht nur eine Seifenblase ist, sondern greifbare Früchte aus dem Olymp des Eventkinos, die sich nun jeder von uns für spendable 20 Euro pro Nase pflücken kann. Wenn man ein Herz hat für Fantasy. Für simple Geschichten voller Pathos. Oder einfach zur Masse dazugehören will.

Eigentlich will ich das nicht. Aber Fantasy-Fan bin ich schon. Und Liebhaber des 2009 über die nichtsahnende Kinowelt hereingebrochenen ersten Teils – Avatar – Aufbruch nach Pandora. Damals hat mich weniger die schwindelerregende 3D-Optik zur Standing Ovation hinreißen lassen, sondern das konsequent bis ins kleinste Detail durchdachte Ökosystem eines fremden Mondes, angefangen von biolumineszierenden Pollen bis hin zu prähistorisch anmutenden Dickhäutern oder drachenähnlichen Flugwesen, mit welchen das Volk der Na’vi in Verbindung treten kann. Und nicht nur mit diesen Echsen können sie das, sondern mit allem. Mit den Pflanzen, mit dem Boden – mit dieser ganzen prachtvollen, so faszinierenden wie gefährlichen Natur, genannt Eywa – die Mutter. Die größte Idee Camerons war dabei aber immer noch jene, die Na’vi mithilfe eines zopfartigen Auswuchses mit Pandora in den Austausch treten zu lassen. Kann sein, dass wir Menschen mangels dieser Möglichkeit und der Tatsache, dass wir uns immer weiter von der Natur entfernen, angesichts dieses Privilegs neidvoll erblassen. Wut und Enttäuschung mischt sich dazu. Die Na’vi haben etwas, was wir nicht haben: Das Verständnis für das große Ganze.

Apropos großes Ganze: 2009 hat Cameron nur gezeigt, was in den tropischen Wäldern Pandoras so los ist. Jetzt bekommen wir die tropischen Gefilde präsentiert, die artenreichen Riffe und das, was jenseits der Riffe so lebt. Von Panzerfischen bis zu fremdartigen Walen. Eigentümlichen Seehasen, die Atemluft spenden oder Ichthyosaurier, die sich reiten lassen. Blickt man auf unsere Erde, so würde das Paradies von Raja Ampat im Nordwesten von Papua dieser Welt am nächsten kommen. Man spürt die tropische Wärme, das warme Wasser auf der Haut, das kühler wird, je tiefer man runtertaucht. Die wogende See und den die Schwüle lindernden Regen. Cameron nimmt sich Zeit, um seine Welt zu erklären. Das ist das, was er am besten kann. Was er noch kann und wir seit Aliens – Die Rückkehr längst wissen: Action inszenieren. Und mit dem Wasser spielen.

Also lässt der Meister des sündteuren Entertainments alles an Kameras auffahren, denen er habhaft werden konnte, lässt das Weta-Team bis zum Umfallen an organischen Texturen arbeiten, vermengt auf perfektionistische Weise Realaufnahmen mit digitalen Welten, die sich anfühlen, als wären sie der Parcour eines PS5-Computerspiels der neuen Generation. Selbst ist man einer der blauen oder aquamarinfarbenen Eingeborenen in vollendetem Performance-Capture und sprintet, schwimmt und taumelt durch ein trunken machendes Jump and Run-Szenario, das von so einer virtuosen Kamera begleitet wird, dass es schier unmöglich wird, nachzuvollziehen, wie ein solches Timing an Schnitt, Kamera und Bewegung die ganze Zeit gewährleistet werden kann. Während Avatar: The Way of Water anfangs oft zurückblickt auf den ersten Teil und in der zweiten Stunde auf Universum-Erkundungstour unter den Wasserspiegel geht, definiert die dritte Stunde das Actionkino neu. Was einst bei Star Wars – Episode IV für Ahs und Ohs gesorgt hat, lässt diesmal wieder die Kinnlade der Schwerkraft folgen. Da entstehen Bilder, die man nicht so schnell vergisst. Stets interagierend mit den geographischen Eigenheiten des Trabanten wie zum Beispiel einer täglichen Sonnenfinsternis, ist das wechselnde Licht des Tages und der Nacht auf der Haut der Na’vi die absolute Königsdisziplin für Kameramann Russel Carpenter und den Effekt-Spezialisten, die gemäldeartige Arrangements schaffen aus Körpern und Tieren, stets im hitzigen Dialog mit einer zerstörerischen Technik, die das Mysterium eines Paradieses unterwandert.

Die Sehnsucht nach dem Paradies ist vielleicht Camerons größte Versuchung, der er sich in jeder Szene hingeben will. Das Streben nach Perfektion in einem Film ist aber nicht immer alles. Kann sein, dass man Gefahr läuft, etwas klinisch Kitschiges abzuliefern. Als würde man eine KI fragen: Wie sieht eine schöne Landschaft aus? Ab und an passiert das hier. Die schwebenden Korallenbrocken sind dann doch zu viel des Guten, das meist strahlende Wetter zur Mittagszeit ein bisschen flach. Pandora sollte genauso ungemütlich sein wie manchmal unsere Welt. Doch diese Katastrophen kommen stets nur in Gestalt einer invasiven Menschheit, die sich nach einer ausgeknockten Erde nun diesen Mond unter den Nagel reißen will. Und da sind wir auch schon bei Camerons größter Schwäche: Die Geschichte selbst. Und ja: für ausgefeilte Plots ist der Mann schließlich nicht berühmt geworden. Weder bei Terminator noch bei Aliens noch bei Titanic. Seine Stories sind simpel und folgen einfachen Mustern. Gut und Böse bleibt gerne strikt getrennt, die Kritik am Raubbau natürlicher Ressourcen wird in universellen Bildern für jede Altersgruppe dargestellt.

Avatar: The Way of Water ist ein Film, an den man sich beim Zusehen erst gewöhnen muss. Oder besser gesagt: Das Auge, welches etwas Zeit benötigt, um einen gewissen Gleichklang aus dem Gesehenen zu machen. Jeder nimmt visuelle Reize anders wahr, mir zumindest fallen die Unterschiede zwischen Szenen mit höherer Bildrate und herkömmlich gefilmten Sequenzen deutlich auf, was aber im Laufe des Films zum Glück homogener wird – so auch der 3D-Effekt, den man bald nicht mehr wahrnimmt, sondern nur die erhöhte Plastizität sich bewegender Körper. Daher ist auch die letzte Stunde die Sternstunde in einem Film, der trotz dieser satten Laufzeit verblüffend kurzweilig erscheint, weil man die Chance bekommt, Hals über Kopf in eine Welt einzutauchen, von welcher man gerne ein Teil wäre. Cameron ist es unterm Strich gelungen, nicht allzu viel mehr versprochen zu haben als er uns letzten Endes gegeben hat. Das Avatar-Abenteuer ist zweifelsohne ein Meisterwerk technischer Präzision. Und das, was wir ohnehin nicht erwartet hätten, enttäuscht uns auch nicht. Genauso wenig wie die Pyramiden oder der Petersdom, von dem wir längst wussten, dass sie beeindruckend sein müssen.

Avatar: The Way of Water

Not Okay

SIE LIEBEN MICH, SIE LIEBEN MICH NICHT

7,5/10


notokay© 2022 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: QUINN SHEPHARD

CAST: ZOEY DEUTCH, MIA ISAAC, DYLAN O’BRIEN, NADIA ALEXANDER, SARAH YARKIN, KARAN SONI, BRENNAN BROWN, EMBETH DAVIDTZ U. A. A. 

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


So weit sind wir gekommen, rund 30 Jahre später, nach Etablierung des Internets und des World Wide Web: Die Sozialen Medien haben uns fest im Griff, vielen dirigiert es das Leben, anderen gibt es den Freibrief für Hass und Häme. Anderen, und nicht wenigen, gibt es die Möglichkeit, zeit- und kostensparend vor ein Publikum zu treten, um sich selbst zu präsentieren. Und damit geht’s erst so richtig los: Wer gefällt besser? Was gefällt besser? Das neue Publikum vor der Bühne sind Follower und Liker. Je größer das Publikum, desto besser das, was auf der digitalen Bühne abgeht. Oder doch nicht? Wie viel wert ist das Publikum, das sich für nichts mehr bemühen muss, außer dafür, einen Klick abzugeben? Mittlerweile lässt sich sowas sogar dazukaufen, aber keiner redet darüber. Manchmal schaffen es einige und treten Hypes oder ähnliches los, die dann wieder nach absehbarer Zeit so verpuffen, als wären sie nie da gewesen. In dieser Zeit aber kann man reich und beliebt werden. Mehr als beliebt. Angehimmelt. Zum Idol werden. Zum Helden. Zur mediasozialen Gottheit aus Werbung, Trend und Anbiederung.

So jemand wird Danni Sanders. Und es ist ein Aufstieg, raketengleich bis ins nächste Sonnensystem. Dabei war Danni beliebtheitsmäßig gerade mal noch Tellerwäscherin – zur Ikone mutiert sie durch einen Trick, der sich, wenn alles glatt läuft, später unter den Tisch kehren lässt. Berühmt will man im 21. Jahrhundert nämlich nicht nur Andy Warhol’sche 15 Minuten sein – sondern gefühlt auf ewig. Das sich der gläserne Mensch nicht mehr nur selbst genügt, sondern sich durch Likes wildfremder anderer definiert, ist bedenklicher Teil eines klugen, modernen Filmmärchens, dem Happy Endings am Allerwertesten vorbeigehen und hinter der Gefallsucht junger Menschen einen kärglichen Rest Selbstwert vorfindet, der nur deswegen so mickrig geworden ist, weil die eigene Ehre als Einsatz für die letzte Runde Beliebtheitspoker auf den Tisch kommt.

Und anfangs sieht es so aus, als hätte Poserin Danni Sanders, bis über beide Ohren selbstverliebt, maskenhaft und gekünstelt, richtig gute Karten. Dank eines Terroranschlags in der französischen Metropole Paris, der genau dann verübt wird, als sich Danni eben dort aufhält. Angeblich, jedenfalls. Denn in Wahrheit sitzt die eitle Schöne daheim, fingiert ihre Selfies auf Photoshop und macht sich so natürlich beliebt. Als dann das Grauen jenseits des Atlantiks hereinbricht, bleibt Danni nichts anders übrig, als traurige Mine zu bösem Spiel zu machen und sich selbst als Überlebende des Terrors bemitleiden zu lassen. Das ist Zündstoff, der sie unter dem Hashtag #NotOkay zur Leitfigur eines Trends werden lässt, der das Unwohlsein der Gesellschaft vor die Linsen mobiler Gerätschaften holt. Doch wo es Erfolg gibt – wie auch immer erreicht – gibt es auch Neider. Und nach dem Aufstieg kommt der tiefe Fall.

Disney+ hat mit der Posting-Satire Not Okay wieder mal den richtigen Riecher gehabt: Quinn Shephards Abrechnung mit den modernen Medien macht von Anfang an klar, wohin die Bestrebungen der bildschönen Lügenprinzessin letzten Endes führen werden. Daher zeichnet sie mit Liebe zum Detail und mit einem gewissen Quäntchen an Schadenfreude einen unwirtlichen Weg aus Verrat, Betrug und Vertrauensmissbrauch Richtung Untergang. Zum Glück verzichtet Shephard aber auf Zynismus oder derb-grotesker Polemik, zu der man sich gerade in diesem thematischen Untiefen gerne hinreißen lassen könnte. Zoey Deutch als Fake-Zeitgeistheldin rotiert als Influencerin um ihr massereiches Ego und bleibt dennoch plausibel und differenziert, mitunter funkelt von Anfang an schon die ungeschminkte Danni durch, die sie in den wenigen, aber ausdrucksstarken Momenten menschlich greifbar werden lässt. Viele von den Daily Postern im tatsächlichen Leben, so lässt sich nachvollziehen, könnten ähnlich gestrickt sein. Ganz ohne Betrug. Der kommt noch dazu, und lässt die Bombe in einer Größenordnung platzen, die fast schon dem Stern-Skandal rund um die Hitler-Tagebücher (Schtonk!) nahekommt. Alles für Prestige und Ruhm, und letzten Endes nichts für einen selbst. Mia Isaac als Greta Thunberg’sche andere Seite der Medaille, der es, ebenfalls berühmt, um die Sache geht und die nicht mit dem Selbstzweck die Mittel heiligen will, ist die gute Fee in einem Gewissenskonflikt der Generation Now!, die egal zu welchem Preis ihre Jünger sammelt.

Not Okay sticht schwachbrüstige Genrebeiträge wie Nerve so ziemlich aus, und muss auch nicht auf Horror tun wie Unfriend. Als ernstzunehmender Konkurrent tut sich nur noch die polnische Hassposting-Analyse The Hater hervor, nur weitab jeglichen leichtfüßigen Augenzwinkerns. Dieses hat Shephards Film aber reichlich, wird dabei aber keinesfalls weniger ernst oder aufrichtig. Was Not Okay zu sagen hat, kommt aus voller Überzeugung.

Gelungene Komödien mit Tiefgang gibt es selten – die aufrichtige Influencer-Satire um die Gier nach Likes ist aber eine, die das Problem virtuellen Erfolges am Schopf packt und so lange nicht loslässt, bis man den Boden unter den Füßen wieder spürt.

Not Okay

Lightyear

DIE PHRASE MIT DER UNENDLICHKEIT

5/10


lightyear© 2022 Disney / Pixar Animation Studios


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: ANGUS MCLANE

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): CHRIS EVANS, KEKE PALMER, PETER SOHN, JAMES BROLIN, TAIKA WAITITI, DALE SOULES, UZO ADUBA, ISIAH WHITLOCK JR. U. A.

MIT DEN STIMMEN VON (DEUTSCHE SYNCHRO): TOM WLASCHIHA, GIOVANNA WINTERFELDT, JEREMIAS KOSCHORZ, JÜRGEN KLUCKERT, MARIUS CLARÉN U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Irgendwann wird auch Buzz Lightyear älter. Nur merkt das keiner mehr, denn alle anderen sind da längst schon Sternenstaub. Was der hartgesottene Space Ranger wohl davon hat, bis zur Unendlichkeit zu reisen, ist wohl eine Frage, die er selbst nicht wirklich beantworten kann. Vielleicht sucht er die Einsamkeit, vielleicht ist das einfach nur ein Ego-Ding, um sich selbst zu beweisen, nicht versagt zu haben. Denn anders lassen sich dessen starrsinnige Bemühungen, durch den Hyperraum zu springen, um die Kolonie Gestrandeter von einem fremden(feindlichen) Planeten fortzubringen, nicht erklären.

Es scheint, als hätte Pixar beim Ersinnen der Origin-Story für einen der Stars aus Toy Story ebenfalls den Anschluss verpasst. Oder zumindest nicht genug hinterfragt, ob es denn wirklich Sinn machen würde, ein charmantes Spielzeug wie den besten Freund von Cowboy Woody dem Kinderzimmerkosmos zu entreißen und ihn als Helden aus Fleisch und Blut auf eine fragwürdige Mission zu schicken, die sich irgendwo zwischen den Sternen und Planeten verpeilt, ohne voranzukommen. Dabei ist die nicht ganz schlüssige Mechanik hinter der Zeitreise noch gar nicht von mir aufs Tapet gebracht worden. Es reicht, sich bereits bei den vielen, vielen verlorenen Jahrzehnten, die Buzz Lightyear mit seinen Testflügen verschleudert, zu fragen, ob so jemand überhaupt noch auf Wunsch der Allgemeinheit handelt oder einfach verbissen einer Sache folgt, die keinerlei Wichtigkeit mehr hat.

Diesen Space Ranger tangiert nicht wirklich, ob all jene, die ihm vielleicht etwas bedeutet hätten, im Laufe einer subjektiv wahrgenommenen Zeiteinheit von gerade mal einer Woche dahinscheiden. Die Kolonie auf dem fremden Planeten hat sich im Laufe von drei Generationen längst mit den Gegebenheiten arrangiert, und Lightyear tritt alle Schaltjahre mal auf, wie eine seltsame Anomalie. Als er es dann tatsächlich schafft, in den Hyperraum zu springen und wieder zu landen, trifft er auf fremde Invasoren, die ihre Roboter ausschicken, um den Nachkommen der Kolonie den Garaus zu machen. Lightyear hat plötzlich ganz andere Probleme als nur Zeit und Raum und schließt sich mit einer kleinen Gruppe an Rebellen zusammen, deren Ideale größer sind als ihre Fähigkeiten. Doch wo ein Wille, da ein Weg. Und noch dazu ist eine der Krieger die Enkelin einer Lightyear bestens bekannten Space Ranger-Kommilitonin.

Wenn schon die Rechnung für die zugrundeliegende Ausgangssituation nicht aufgeht, scheint auch das darauffolgende, actionreiche Szenario zwar etwas nachvollziehbarer, aber deutlich an andere Vorbilder aus der Science-Fiction orientiert zu sein. Und zwar an dem interstellaren Abenteuer der Familie Robinson: Lost in Space. In den von Netflix neu aufgelegten Erlebnissen einiger Kolonisten, die auf fremden Planeten Bruchlandung erleiden und versuchen, den Anschluss Richtung Wahlheimat zu finden, spielen mechanische Aggressoren ebenfalls eine gewichtige Rolle. Lightyear kopiert diese Geschichte, allerdings recht geschickt und letzten Endes auch so, dass sie in eine andere Richtung geht. Dort aber wartet das nächste Problem: Die Sache mit der Zeitreise, oft Garant für Logiklöcher. So auch hier.

Lightyear ist trotz aller Detailverliebtheit und zweifellos ergiebigen Schauwerten das eintönige Spin Off eines großen Franchise-Erfolges, das sich bei seinen Figuren aus bewährten und oft genutzten Charakteristika bedient. Der gute Buzz mit seiner Unendlichkeitsphrase bleibt dabei am beliebigsten.

Lightyear

Thor: Love and Thunder

ALTE LIEBE ROSTET NICHT

6/10


thorloveandthunder© 2022 Marvel Studios / The Walt Disney Company


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: TAIKA WAITITI

CAST: CHRIS HEMSWORTH, NATALIE PORTMAN, TESSA THOMPSON, CHRISTIAN BALE, TAIKA WAITITI, RUSSELL CROWE, KIERON L. DYER, CHRIS PRATT, SEAN GUNN U. A.

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


MCU-Mastermind Kevin Feige hat zwar jetzt noch alles im Griff – die Tendenz aber, welche die neue Phase des MCU gerade anstrebt, könnte zum Problem werden. Denn all die Figuren, Helden und Antagonisten, die da so antanzen, streben danach, ihr eigenes Ding zu drehen und nicht, wie in der letzten Phase bis zum Endgame, einem gemeinsamen, alles verbindenden roten Faden zu folgen. Moon Knight, derzeit wohl das beste aus dem ganzen Kosmos, hat keinerlei Bezugspunkte mehr zu einem gemeinsamen Nenner. Genauso wenig Ms. Marvel (abgesehen von Idol Carol Denvers) – und jetzt noch weniger: Thor: Love and Thunder. Selbst Dr. Stephen Strange setzt nun, wie man aus der Post Credit Scene seines letzten Abenteuers herauslesen kann, das Multiversum nicht mehr so sehr auf die Agenda seiner Dienste, sondern viel eher die Bekämpfung eines zukünftig wohl mehr in Erscheinung tretenden Herrschers der dunklen Dimension – Dormammu. Mal sehen, wie es weitergeht.

Bei Thor: Love and Thunder jedenfalls sind die Taue gekappt, es geht durchs Universum an Bord des Schiffes der Guardians of the Galaxy. Seit Endgame sind einige Jahre her. Der Gott des Donners muss sich, während er gemeinsam mit der streitlustigen Gang Welten vor Aggressoren rettet, erstmal neu erfinden und letzten Endes, wie alle anderen auch in diesem neuen MCU, einen eigenen Weg gehen. Die Guardians, deren knackiges Cameo bereits anfangs für gute Laune sorgt, finden wir dann wohl in einem anderen Abenteuer wieder, während Thor den Bewohnern des auf der Erde gegründeten Neu-Asgards zu Hilfe eilt. Dort treibt Gorr, ein in Linnen gewandeter, glutäugiger Extremist sein Unwesen, der es auf alle Gottheiten des Uni(nicht des Multi-)versums abgesehen hat. Die Erfolgsquote ist Dank eines bestimmten magischen Schwertes relativ hoch, und so fürchten auch die nordischen Heiligen um ihre Existenz. Während Thors proaktivem Einsatz gegen den Schurken und seine Schattenmonster läuft ihm seine alte Flamme Jane (nicht Jodie) Foster über den Weg, die ganz genauso aussieht wie er, nur eben weiblich. Sie schwingt obendrein noch Mjöllnir, während Thors Axt auf beleidigt tut. Klar, dass beide die Challenge auf sich nehmen und sogar dem griechischen, etwas dekadent gewordenen Gottvater Zeus (passend: Russell Crowe) begegnen, um Hilfe von ihm zu erbeten.

Ja, es darf auch in Taika Waititis zweitem Ausflug durch die knallbunte Phantastik eines überbordend diversen Kosmos geschmunzelt und manchmal gelacht werden, selten jedoch mitgefiebert. Der Neuseeländer, dessen infantil-lockerer Erzählstil bei Thor: Tag der Entscheidung einschlug wie eine Bombe und frischen Wind in das Franchise blies, fühlt sich auch bei Love and Thunder so siegessicher wie noch nie. Was ihm vielleicht ein bisschen wie ein Knüppel zwischen die Beine fährt. Statt als Gott des Donners gibt Chris Hemsworth den Gott der Selbstironie – alles ist nur noch mit Augenzwinkern zu genießen; und falls nicht, dann gleicht Buddy Korg (Taika Waititi) mit seiner naiv-ehrlichen Art allfällige Defizite aus. Auf der finsteren Seite: Christian Bale in seinem Marvel-Einstand. Eine eindrucksvolle Gestalt, präzise ausformuliert – millelalterlich, episch und vom Grimm überwältigt. Und ernstzunehmend. Dazwischen weiß Natalie Portman nicht so recht, wie sie denn ihre Figur anlegen soll? Ironisch, ernsthaft, spaßig? Kleine Ahnung. Die Dame aus dem Charakterfach tut sich sichtlich schwer, für ihre Rolle Leidenschaft zu empfinden. Denn nebst Waititis ausgelassenem Weltraumfasching zwischen Flash Gordon und dem Best of Guns N‘ Roses hängt die Dramatik ziemlich durch.

Natürlich sind Schauwerte und Effekte deluxe – ein Film, den man, wenn überhaupt, im Kino gesehen haben muss. Doch Waititi greift zur Blaupause seiner bewährten und lobend besungenen Versatzstücke, während der Plot (entführte Kinder, wie oft noch?) verblüffend ideenlos bleibt. Über echte Empfindungen macht sich Waititi alsbald lustig, additive Charaktere bleiben flach, abgedroschene Floskeln über Liebe – sei sie väterlicher oder partnerschaftlicher Natur – bemühen das müde Auge und das abgekaute Ohr. Aber immerhin: Wir haben fetzigen Hard Rock, übertrieben oft eingesetzte Freeze Frames, die Thor wie Winnie Puuhs Freund Tigger als Springinsfeld über spinnerte Invasoren hereinbrechen lassen. Und ein Götter-WhoisWho, das zumindest allen irdischen, spirituellen wie folkloristischen Ansätzen ihre Legitimität erlaubt.

Dieses Mal hat sich der Gott des Donners neu erfunden – das nächste Mal wird’s wohl Taika Waititi selbst sein müssen, der seine filmischen Prioritäten gerne neu ordnen darf.

Thor: Love and Thunder

Doctor Strange in the Multiverse of Madness

MAN LEBT NICHT NUR ZWEIMAL

7,5/10


drstrange_multiverse© 2022 Marvel Studios / Walt Disney Company


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: SAM RAIMI

CAST: BENEDICT CUMBERBATCH, ELIZABETH OLSEN, XOCHITL GOMEZ, BENEDICT WONG, RACHEL MCADAMS, CHIWETEL EJIOFOR, PATRICK STEWART, HAYLEY ATWELL, LASHANA LYNCH, JOHN KRASINSKI, ANSON MOUNT, BRUCE CAMPBELL U. A.

LÄNGE: 2 STD 6 MIN


Keine Sorge! Das, was leicht hätte passieren können, tritt zum Glück nicht ein. Nämlich, dass Kevin Feige bei der Planung seines MCU völlig den Faden verliert, was schließlich durch die Einbringung der Multiversum-Komponente verführerisch genug gewesen wäre. Nein, Kevin Feige zeigt sich besonnen. Und weiß, was für und wieviele Fäden er bereits in der Hand hält. Er weiß auch, dass es nicht ratsam wäre, wirklich viel Neues hinzuzutun. Er knüpft also mit den Fäden, die er hat, eine Reihe neuer Muster in seinen epischen Marvel-Wandbehang, auf dem schon so viele Helden und Antagonisten aus den Comics ihren unverrückbaren Platz besetzen. Mehr ist über manche von ihnen nicht mehr zu erzählen. Andere hingegen, die durch den Streamingdienst Disney+ auch in so mancher Serie gut weggekommen sind und noch etwas zu sagen hätten, finden wieder zurück auf die Leinwand. So zum Beispiel Wanda Maximoff aka Scarlett Witch, die wir als Scarlett Witch aber noch nicht kennengelernt haben, es sei denn, die originelle Mindfuck-Dramedy Wandavision kann bereits als gesehen ad acta gelegt werden. Und falls dem nicht so ist, und Doctor Strange in the Multiverse of Madness in den nächsten Tagen ansteht, empfehle ich, diese neun Folgen womöglich an einem Binge-Wochenende noch schnell von der Watchlist zu streichen, ist sie doch die einzig relevante Storyline zwischen all den anderen, die unterstützend dazu beiträgt, Elisabeth Olsens Handeln als Superhexe auch wirklich, in all seiner Dramatik, nachvollziehen zu können.

Die letzte Sache mit Spidey hoch 3 ist mehr oder weniger Geschichte. Dr. Stephen Strange erwacht  nach einem heftigen und sehr real anmutenden Alptraum in seinem Schlafzimmer irgendwann nach Spider-Man: No Way Home an einem normalen Tag im MCU Universum, wo gerade mal sonst nichts passiert – außer die Hochzeit seiner Ex Christine Palmer. Die Feier crasht ein einäugiges Tentakelmonster – womöglich der entfernte Verwandte von Starro, dem Eroberer aus Suicide Squad – das sich durch die Straßen wälzt und auf der Suche nach einem Mädchen namens America alles platt macht. Das mit speziellen Fähigkeiten ausgestattete Wunderkind ist Dr. Strange überdies im Traum erschienen, was folglich einige Fragen aufwirft. Was für Besonderheiten bringt Miss America mit sich? Wie relevant ist das für die Stabilität der Wirklichkeiten? Und warum mischt sich plötzlich Wanda Maximoff ein, hält sie doch ein Buch in ihren Händen, welches womöglich aus demselben Regal entnommen wurde wie H.P Lovecrafts Necronomicon oder eben das Naturon Demonto aus Tanz der Teufel, mit welchen wirklich fiese Dinge angestellt werden können.

Tanz der Teufel? Da wird jemand wie Sam Raimi hellhörig, hat der doch diesen Horrorschocker Anfang der Achtziger inszeniert. Womöglich hat sich der Altmeister gar nicht lange bitten lassen, in Anbetracht der Tatsache, abermals Dämonen und Untote umherbewegen zu dürfen. Aber Marvel und Horror? Geht das überhaupt zusammen? Dabei muss man die Definition von Horror neu überdenken. Horror kann tatsächlich jugendfreundlich sein, ohne groß zu verstören und dennoch zu vergnügen, ähnlich einer Geisterbahnfahrt am Rummel. In Doctor Strange in the Multiverse of Madness setzt Raimi auf Basis eines wirklich astrein überarbeiteten und von unnötigen Schnörkeln befreiten Skripts auf eine attraktive Balance zwischen den bewährten Franchise-Qualitäten, die alle State of the Art sind, und düsterer, aber erfrischend aufgeweckter Dark Fantasy, die in alten Mythen wie Dantes Inferno herumwühlt, liebevolle Hofknickse vor entschärften Evil Dead-Elementen macht und tatsächlich auch den Geist alter Roger Corman-Filmklassiker wie Der Rabe – Duell der Zauberer beschwört. Das Zitieren der coolen Anthologieserie What if… mit allerlei Alternativ-Helden hat überdies Schmackes; die Settings, Kreaturen und das intensive Aufspielen von Elizabeth Olsen ebenso, dagegen wirkt Rachel McAdams geradezu unbeholfen. 

Dieser neueste Beitrag in einer satten und bereits über mehrere Jahrzehnte kausal zusammenhängenden Welt unbegrenzter Möglichkeiten bremst sich dort ein, wo vieles aus dem Ruder hätte laufen können, und eröffnet nur gezielt neue Storylines für spätere Abenteuer. Andere könnten darin das Fahren mit Handbremse sehen, und zugeben muss man schließlich, dass der konveniente Erzählduktus des MCU so erwartbar schmeckt wie ein McDonalds-Burger egal wo auf der Welt. Raimis kluge Regie aber, und die Freude an den Möglichkeiten, auch die etwas dunkleren Seiten des Phantastischen zu bedienen, lassen das metaphysische und stellenweise packende Abenteuer irgendwie anders erscheinen – nur nicht als müden Zaubertrick.

Doctor Strange in the Multiverse of Madness

Rot

EIN KNUDDEL IM ZWINGER

7,5/10


rot© 2021 Disney/Pixar. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: DOMEE SHI

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): ROSALIE CHIANG, SANDRA OH, AVA MORSE, HYEIN PARK, MAITREYI RAMAKRISHNAN, ORION LEE, WAI CHING HO U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Ein Kind soll Kind sein dürfen. In der elterlichen Obhut gibt’s anfangs sowieso wenig ernsthaften Spielraum, um aus der Rolle zu fallen. Der Anbruch des Teenageralters ändert dann aber so einiges. Die Obhut wird lästig, die Erziehungsnormen zum Gähnen – das Entdecken der eigenen Skills, der eigenen Gefühle und der eigenen Vorlieben lässt Erziehungsberechtigte lieber in der Ecke stehen – ein zugewiesenes Plätzchen, das selbige im Grunde wahrnehmen sollten, aus Liebe zum Nachwuchs. Rat und Beistand on demand gibt’s dafür rund um die Uhr. In so manchen Kinderstuben ist so ein Ansatz nicht mal Grund zur Diskussion, wenn Traditionen und Dogmen die Freiheit rauben, ob religiös motiviert oder einfach nur vererbtes Zeremoniell. Disney hat beim Thema Coming of Age – wie das Subgenre rund um heranreifende Teenies in Kultur und Medien genannt wird – momentan einen Narren gefressen. Erst zu Weihnachten sind der mit nonkonformistischen Verhaltensweisen gesegneten Mirabel aus Encanto die vererbten Wunderkräfte alles andere als in den Schoß gelegt worden. Ihre Rolle in der Welt hat sich die Gute erst erarbeiten müssen – singend und tanzend und die klappernde Villa Madrigal erforschend. Vor den Wurzeln aller Probleme – der Erziehung – macht Disney keinen großen Bogen mehr. Konflikte in der Familie gehören ausgetragen. Es ziemt sich nicht mehr, den Psychoschmarrn der Eltern mitzutragen. Neudefinition ist die Devise, ohne hilfesuchend zurückzublicken.

In einer ähnlichen Dysfunktionalität, die nach außen hin perfekten Frohsinn versprüht, bohrt auch der neue Pixar-Streifen Rot herum. Wie in Encanto fungiert auch hier, im Toronto des 21. Jahrhunderts, ein aus der Zeit gefallenes Matriarchat als Hemmschuh für einen befreiten, selbstbestimmten Lebensentwurf. Disney folgt dabei einem streng erdachten und trendeigenen Vokabular aus Minderheiten- und Frauen-Quote, das durch seine Dominanz alles Männliche zur kleinlauten Randfigur schrumpft. Mal sehen, wie lange noch diese Schräglage mit politischer Korrektheit begründet werden kann, doch momentan will der Mauskonzern mehr als nur alles richtig machen.

In diesem Fall ist Mei Lee ein Mädchen mit asiatischem Migrationshintergrund, gut in Mathe und offen für alles, was momentan im Trend liegt. Diese Leidenschaft für K-Pop (BTS lassen grüßen) und Social Media teilt die aufgeweckte Achtklässlerin mit ihren drei Freundinnen, die alles versuchen, um Karten für das anstehende Boyband-Konzert zu ergattern. Wenn der charakterlich liebevoll ausgearbeiteten Mädchenclique im Manga-Stil die kugelrunden Äugleins vor Begeisterung verschwimmen, wird bei Disney das Gefühl für Zeitgeist großgeschrieben. Währenddessen aber ist unser dreizehnjähriger Star des Films ein emotionales Hormonbündel schlechthin, reift langsam zur Frau und entfesselt ob ihres Gefühlschaos einen riesengroßen, knuddeligen roten Panda, der allerdings sie selbst ist. Ein Fluch? Ein Segen? Was soll dieses Wunder der Gestaltwandlung, für welches sich Mei Lee zunehmend schämt und wovon auch bald Helikoptermama Ming Lee Wind bekommt? Was gar nicht gut ist, denn dieser Bär, der überall für Aufsehen sorgt, ist ein jahrhundertealtes Geheimnis, das unterdrückt werden muss.

Das geht in aufgeklärten Zeiten wie diesen eigentlich überhaupt nicht. Für diese Freiheit, flügge zu werden, bricht Pixar gleich mehrere Lanzen und sucht den Konflikt der Generationen ohne Scheu davor, eingerostete Mutterrollen aus der Reserve zu locken. Das gelingt besser als in Encanto, ist dynamisch, launig und melodramatisch. Und überraschend kausal. Statt gemeinsam als Übermutter und Tochter bei der psychosozialen Familienberatung aufzuschlagen, tut’s die Sache mit dem Problembären, der als liebevoll ausgestaltete Symbolik (jeder mag Pandabären, die schwarzen so wie die roten) Dominanz und juvenile Auflehnung an einen Tisch bringt. Pixar gibt sich dabei trotz so einigem märchenhaften Disney-Zauber nicht mit plotbedingten Floskeln zufrieden, sondern führt den Konflikt recht spielerisch und unbelastend zu einem familiären Wendepunkt, der einen Neuanfang verspricht.

Rot

Nightmare Alley

DER MENTALIST UND DAS MONSTER

8/10


nightmarealley© 2022 Twentieth Century Fox / The Walt Disney Company


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: GUILLERMO DEL TORO

CAST: BRADLEY COOPER, CATE BLANCHETT, ROONEY MARA, WILLEM DAFOE, TONI COLLETTE, RICHARD JENKINS, RON PERLMAN, DAVID STRATHAIRN, MARY STEENBURGEN, HOLT MCCALLANY U. A. 

LÄNGE: 2 STD 30 MIN


Das würde ich wirklich gerne mal machen, und zwar einen Rundgang in Guillermo del Toros schauriger Bude, auch genannt Bleak House, frei nach Charles Dickens und angesiedelt in den Vororten von Los Angeles. Dort wohnt er zwar nicht, aber er geht dorthin, um Ideen zu finden oder sich inspirieren zu lassen. Ich möchte fast sagen, es ist ein Heimkommen in ein inneres Zuhause aus Phantastereien und Alpträumen; ein Metaversum, wenn man so will. All die Räume sind bis zur Decke randvoll mit Monstern, Kuriositäten und Absonderlichem. Mit allem, was seine und andere Filme, die den Mexikaner faszinieren, jemals bevölkert haben. Da ist so viel Zeug, das hat sogar gereicht für eine ergiebige Wanderausstellung quer durch die USA bis hinauf nach Kanada. Vielleicht schafft sie es ja mal nach Übersee, wer weiß. Bis dahin sind del Toros Filme das, was immerhin auch ganz gut als Gruselkabinett funktioniert, aus welchem man allerdings nicht das Heil in der Flucht sucht, sondern fasziniert und an allen Nischen und Erkern innehält, um die bizarre Welt, getaucht in Rot- und Grüntönen, die in der Dunkelheit miteinander verschmelzen, in sich aufzusaugen.

Für diese Welt braucht es Zeit, da geht nichts zackzack. Del Toro muss man genießen wollen und sich nicht verstören lassen von in Spiritus eingelegten Missgeburten, die wie Exponate aus dem Narrenturm indirekt beleuchtet werden, um das Widernatürliche des Körperlichen zu exponieren. Es mag zwar in Nightmare Alley kein Fischmonster in die Wanne steigen, kein Vampir die Zähne fletschen oder eine gehörnte Teufelsbrut coole Oneliner schieben. Doch die Bestien aus seinen Träumen sind auch hier, in einem stringenten, opulenten Meisterwerk der Schwarzen Serie, omnipräsent.  

Guillermo del Toro hat sich eines Romans angenommen, der bereits 1947 erstmals verfilmt wurde: Der Scharlatan von William Lindsay Gresham, der den Aufstieg und tiefen Falls eines Hochstaplers beobachtet, der vorgibt, Mentalist zu sein. Und was für einer: nicht nur kann er angeblich Gedanken lesen und in die Zukunft blicken, sondern vor allem auch mit den Toten kommunizieren. Dabei sieht anfangs alles danach aus, als würde Stanton Carlisle sein Leben nicht mehr auf die Reihe bekommen. Das tut er aber doch, und zwar bei Clem und seinem Wanderjahrmarkt aus Schaustellern, Freakshows und Karussellen. Dort macht er sich nützlich, lernt Tricks und das Lesen von Menschen. Sieht, wie Missgestaltete und Saufbolde als Sensationsbestien missbraucht werden, brennt dann bald durch mit seiner Geliebten, dem Jahrmarktmädchen Molly. Stanton will mehr. Mit seiner Gabe und dem perfekten Betrug die Oberschicht für sich gewinnen und reiche Beute machen. Er wird zu weit gehen, das ist klar. Und er wird einbiegen, in die Allee der Alpträume, die kein Ende hat.

Ein klassischer Film Noir, würde man meinen. Und natürlich mit dazugehöriger Femme Fatale, die Cate Blanchett als gnadenlose und maskenhafte Überzeichnung einer Lauren Bacall zum Versatzstück einer Geisterbahn werden lässt, deren Schein trügt. Es wäre aber nicht Guillermo del Toro, wäre der Film nicht genauso ein seltsames Mischwesen wie seine Kreaturen, die ihn umgeben. Das Publikum wird zum Begaffer eines ganz anderen Bestiariums, das sein großes Vorbild, nämlich Tod Brownings Horrorklassiker Freaks, vor allem in seiner parabelhaften Moral präzise zitiert. Es gibt Szenen und Bilder, die erinnern so frappant an das Schreckensdrama von damals, da gibt’s für mich keine Zweifel. Browning hatte damals mit tatsächlich missgestalteten Menschen gearbeitet, die in einer simplen, aber effektiven Rachegeschichte die finsteren Pläne einer bildschönen Trapezkünstlerin sühnen werden. Auch dort ist ein Jahrmarkt Ort des Geschehens, und auch dort sind niedere Triebe wie die Gier nach Mammon und Wohlstand der Grund dafür, die Gutgläubigkeit anderer zu manipulieren und deren Vertrauen zu missbrauchen. Bradley Cooper alias Stanton tut als Blender nichts anderes als das Schändliche und mutiert zur Kreatur der Nacht mit Vaterkomplex und Hang zum Wahnsinn – ein intensives Spiel, so wie das des gesamten Ensembles des Films, die geben, was verlangt wird, und noch ein bisschen mehr an grimmigem Spuk. In malerische Bilder taucht del Toro sein üppiges Opus Magnum, und schließt mit sicherer Hand den Teufelskreis, aus dem es kein Entkommen gibt.

Nightmare Alley

Encanto

DAS MÄDCHEN OHNE EIGENSCHAFTEN

6,5/10


encanto© 2021 Disney. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: BYRON HOWARD & JARED BUSH

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): STEPHANIE BEATRIZ, JOHN LEGUIZAMO, MARIA CECILIA BOTERO, DIANE GUERRERO, JESSICA DARROW, ANGIE CEPEDA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Blut ist bei Disney immer dicker als Wasser. Kein Film, der nicht die eingeschworene Glückseligkeit der Familie zum Ziel hat, und wäre sie auch nur zu zweit. Es geht immer und rund um die Uhr um Familie, um dessen Wert, dessen Bedeutung, dessen Herrlichkeit. Dafür ist Disney gemacht – für Familien und dem Wunsch der Kleinen, mit der Elternschaft bald wieder ins Kino zu hirschen. Seit es Disney+ gibt, braucht es aber nicht mal mehr einen gemeinsamen Ausflug. Es reicht die häusliche Couch und ein ausreichend großes Fernsehgerät, um keines der liebevoll arrangierten Details aus der Animationsschmiede Disney (nicht Pixar!) zu verpassen. Mit Encanto, dem richtigen Familienfilm zur richtigen Familienzeit, präsentiert der Mauskonzern wieder in aller Farbenpracht ein metaphysisches Abenteuer, dass sich aber viel stärker an psychosoziale Inhalte der Pixar-Macher orientiert. Diesmal ist es keine Reise, keine Queste, kein Bestehen von Gefahren, währenddessen man ganz fest an sich selber glauben muss und schon haut alles hin. Encanto ist ein Film, der inhaltlich mitunter schwer greifbar ist, und der die ganz jungen wohl nicht tangieren wird, hätten die doch lieber wieder so einen knuffigen Pelzdrachen, der coole Sprüche schiebt.

Das gibt es heuer nicht, stattdessen eine Villa Kunterbunt in Kolumbien, zwischen Dörfern und grünen Bergen. Dieser magische Ort verdankt seine Exklusivität einer wundersamen Kerze, die seinerzeit der auf der Flucht befindlichen Familie Madrigal von wem auch immer zum Geschenk gemacht wurde. Alle Nachkommen haben von nun an außergewöhnliche Gaben, ganz so wie Die Unglaublichen, nur lokal verortet und ohne Superheldendress. Das reicht von Bärenstarke bis zum Blumenregen, und jedes der Kinder hat ihr eigenes Reich, in dem es tun und lassen kann, was es will. Nur Mirabel nicht. Die hat kein paradiesisches Zimmer, und auch keine Fähigkeit. Niemand weiß warum. Man könnte meinen: das hässliche Entlein. Doch hässlich ist sie auch nicht, sondern recht knuffig und klug und etwas nerdig. Sympathisch, ganz einfach. Und mit Erschaffung dieser natürlichen, burschikosen Figur haben die Character-Designer wieder ganze Arbeit geleistet. Mirabel dämmert bald, dass diese Superfähigkeiten ihren Preis haben. Und dass der Haussegen eigentlich schiefer hängt als gedacht, wobei sie selbst, wie andere behaupten, nicht unbedingt schuld dran sein muss. Sie forscht also nach – und stößt auf beunruhigende Geheimnisse, deren Ursprünge zwei Generationen zurückliegt.

Ein Familienfilm? Wohl eher eine therapeutische Familienaufstellung. Da ist Oma, ihre Kinder (eines davon verstoßen) und die Enkelinnen. Gemäß der heutigen Zeit ist ein Kind wohl nichts, wenn es nicht in ihren Begabungen gefördert wird. Da wollen die Eltern nichts verpassen und dem Nachwuchs das ermöglichen, was sie womöglich selber nie hatten. Das ist ein Leistungsdruck, der nach hinten losgehen kann. Ungefähr so wie in Encanto. Magie hin oder her – diesmal können die Esel, Tapire und Capybaras noch so witzig dreinschauen; diesmal kann das kunterbunte Häuschen noch so mit den Kacheln klappern – was Encanto anstrebt, ist die Suche nach dem Besonderen im Charakter des einzelnen, und die Abkehr von dem, was man leisten muss, nur weil man es vielleicht gut kann. Ein Ansatz, der überraschend ernsthaft und ehrlich daherkommt, den die zum besten gegebenen Musiknummern auch gebührend unterstreichen, ohne zum Selbstzweck zu verkommen. Disney schaut also von Pixar ab? Natürlich, warum nicht. Ein bisschen mehr Konsequenz vor allem in der finalen Szene hätte aber nicht geschadet, doch da hat Disney dann doch nicht weniger als mehr gelten lassen. Die Magie hat wie immer das letzte Wort. Wäre das aber nicht passiert, hätten wir ein kleines Meisterwerk gehabt.

Encanto