Corsage

DIE KAISERIN EMPFIEHLT SICH

8/10


sisi© 2022 Alamode Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, LUXEMBURG, DEUTSCHLAND, FRANKREICH 2022

BUCH / REGIE: MARIE KREUTZER

CAST: VICKY KRIEPS, FLORIAN TEICHTMEISTER, KATHARINA LORENZ, COLIN MORGAN, JEANNE WERNER, ALMA HASUN, MANUEL RUBEY, AARON FRIESZ, FINNEGAN OLDFIELD U. A.

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


Eine Kaiserin gehört zum Kaiser! Das hat schon Vilma Degischer in Ernst Marischkas schmuckem Monarchie-Triptychon Sissi – Die junge Kaiserin von sich gegeben. Doch wo sie recht hatte, hatte sie recht. Elisabeth von Österreich-Ungarn war der angehimmelte und auf recht bürokratische Weise geliebte Sonnenschein im Abendrot der Kaiserzeit, in welcher der Verputz bereits von den Wänden bröckelt und man vorausschauend bereits das Mobiliar zumindest in den Gängen bereits für den Winter der Republik aufgetürmt hat. So zumindest in Marie Kreutzers Cannes-prämierter Nabelschau auf einen Mythos, der als breit aufgefächerte Legendengestalt gleich einer Pop-Ikone nicht nur auf Souvenirs aller Art für jeden noch so kleinen Haushalt verewigt, sondern von vorne bis hinten biographisch analysiert, verstanden und nochmals neu verstanden wurde. Deren tägliche Agenda durch Aufzeichnungen ihrer Zofen dargelegt und sowohl als straff organisierte Superheldin genauso interpretiert wird wie als in den goldenen Käfig des Hofzeremoniells gesperrte Rebellin, die bis auf das Königreich Ungarn und Töchterchen Valerie so irgendwie überhaupt nichts interessiert hat, was mit gelebtem Imperialismus zu tun hat. Sisi (nicht Sissi, klingt aber besser) gibt’s als Romy Schneider-Hassobjekt genauso wie als Musical, TV-Serie und Animationsparodie Marke Bully Herbig. Sisi ist längst losgelöst von nur einer historischen Figur. Ein Mythos, von dem man kennt, was andere überliefert haben. Platz genug also, sich von allen möglichen Seiten einer im öffentlichen Interesse niemals für Müdigkeit sorgenden Gestalt zu nähern. Die Freiheit liegt dabei im Auge der Künstler und Filmemacher, die natürlich ihren ganz persönlichen Zugang haben, und die sich selbst womöglich nicht auferlegen müssen, gleich alles, was zu diesem Thema aufliegt, gelesen haben zu müssen.

Dabei entstehen Filme wie Pablo Larrains Spencer über Prinzessin Diana, eine „Leidensgenossin“ Elisabeths. Gefangen im monarchistischen Diktat, verkommen zur Fassade, innerlich aber so bockig wie ein Bulle kurz vorm Rodeo. Und es entstehen Filme wie Corsage, viel mehr Psychogramm und subjektive Huldigung als akkurate Biografie. Will heißen: HistorikerInnen werden ob dieses Werks wohl nicht erfreut sein. Vor die Wahrheit hängt Marie Kreutzer, auch verantwortlich fürs Skript, die samtrote Kordel. Wer die Wahrheit sucht, der sollte woanders suchen. Nicht hier, nicht in diesem Gedankenbildnis aus dem Inneren eines schwer greifbaren Gemüts, das zu seinem vierzigsten Geburtstag mit dem Leben schon gerne abschließen will, denn mit Vierzig ist Frau bereits alt und kaum mehr zu repräsentieren. Ein Gramm zu viel auf den Hüften landet als Schlagzeile in der Presse, ein Blick zu viel auf den Reitlehrer lässt die „Neue Post“ Umsatzrekorde erzielen. Elisabeth strauchelt und geistert durchs Kaiserreich, reist hierhin und dorthin, trifft Ludwig II. oder die Spencers in Großbritannien. Reitet, fechtet, turnt. Um gesellschaftlichen Pflichten zu entgehen, fällt sie gerne absichtlich in Ohnmacht. Und lässt sich später gar doubeln. Kreutzer konzentriert sich dabei auf das Nichtwollen und die rebellische Ablehnung eine in ein Korsett gezwängte Alice im Wunderland. Will Kreutzer also absichtlich Österreichs liebste Kaiserin demontieren oder gar mutwillig in ihre Einzelteile zerlegen? Manche sagen ja. Ich meine: nicht unbedingt. Es ist nur das andere, in weitem Abstand den Marischka-Filmen gegenüberliegende Ende. Ein subjektiver Interpretationsversuch von der Maschekseite, dazu gehören beleidigende Gesten, verfilztes Haar und Zigaretten. Die Befehlsgewalt über ihre Entourage und immer wieder Bäder.

Corsage zeigt sich als loses Portrait ohne konkrete Handlung, als würde ein Expressionist das Bild einer VIP malen. Dabei steht Vicky Krieps in klassischen, wiedererkennbaren Posen Modell. Aber auch auf eine Weise, die mit der gewohnten, liebgewonnenen und schmeichelnden Sichtweise bricht. Das Kappen ihrer stolzen Haarpracht ist dann der schmerzliche Wendepunkt für Sisis Fandom. Wird wohl nie so gewesen sein, wie vieles in Kreutzers Film. Auch Franz Josephs abnehmbarer Backenbart. Corsage kokettiert mit der Gegenwart und nimmt, begleitet vom ungemein nuancierten und hypnotischen Score der Sängerin Camille, das längst fällige Aufmüpfige aus späteren Zeiten vorweg. Lässt sich in seinen Assoziationen zum Mythos Sisi so sehr treiben, bis sich dieser in Nichts auflöst oder im Meer versinkt.

Corsage

The Rider

AUFS FALSCHE PFERD GESETZT

7/10


therider© 2018 Weltkino


LAND / JAHR: USA 2017

BUCH / REGIE: CHLOÉ ZHAO

CAST: BRADY JANDREAU, TIM JANDREAU, LILLY JANDREAU, CAT CLIFFORD, TERRI DAWN POURIER, LANE SCOTT U. A. 

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Wie heißt es im Volksmund doch so schön: Das Glück dieser Erde liegt auf dem Rücken der Pferde. Fällt man recht unglücklich von selbigem, muss man, sofern noch am Leben, das Glück woanders suchen. Ungefähr so ist es dem draufgängerischen Rodeo-Reiter Brady Blackburn ergangen, der, beim Sturz vom bockenden Warmblüter, vom Huf auf den Kopf getroffen wurde. Die Folge: Schädelbruch, Metallplatte, eine erschreckende Narbe verunstaltet das Haupt. Die Zeit heilt alle Wunden, denkt sich Brady, und irgendwann wird er das Glück im Sattel wieder genießen. Oder doch nicht? Die Ärzte bescheinigen anderes. Auch sein Vater sieht das skeptisch, die geistig beeinträchtigte Schwester will nur, dass es ihrem älteren Bruder gut geht. Das wiederum wäre nur durch das Reiten von Pferden gewährleistet. Bradys Leidenschaft schlechthin, ohne die ein Leben kaum denkbar wäre. Vor allem auch dann nicht, wenn die Erwartung guter Freunde unübersehbar bleibt und jeden Morgen der Hengst am Hang mit dem Zaunpfahl winkt.

Bemerkenswert an diesem Film ist vor allem der Umstand, dass dieser durchwegs mit Laiendaratellern besetzt ist, die allesamt mehr oder weniger sich selber spielen. Das, was hier geschildert wird, ist diesem Brady Blackburn (im echten Leben Brady Jandreau) tatsächlich passiert. Auch dessen Bruder im Geiste und bester Freund Lane Scott, im Film nach einem Rodeo-Sturz ein schwerer Pflegefall, ist es auch hinter der Kamera, allerdings aufgrund eines Autounfalls. Doch nichtsdestotrotz – Rodeoreiten ist ein Spiel mit dem Schicksal, im Grunde Drachenbändigen mit Pferden – eine Sache von Männern für Männer, und je härter und wilder der Ritt und je todessehnsüchtiger der Reiter, umso mehr ist ein Mann ein Mann. Dieses Cowboy-Ideal inmitten von Dakota, im tiefen wilden Westen sozusagen, beschwört ein ausgedientes und unzeitgemäßes Rollenbild zutage.

Brady Jandreau trägt diesen eigenen inneren Abgesang mit Fassung. Seine lakonische Art, seine weit schweifenden Blicke lassen in tough und unkaputtbar erscheinen. Diese ganze Landschaft, die den jungen Mann umgibt, kann gar nichts anders als Sehnsüchte wecken oder naive Träume schüren. Chloé Zhao, die heuer womöglich für Nomadland einen Oscar kassieren wird, hat diese Geschichte aus erster Hand selbst dramatisiert und einen sehr zurückhaltenden, eben lakonischen und nachdenklichen Film geschaffen, der von der grimmigen Wut des Wollens und Müssens erzählt. Und vom schwierigen wie schmerzhaften Prozess des Aufhörens. Dabei verliert sich Brady nicht in lebensüberdrüssiger Larmoyanz. Von vornherein ist klar, dass der Kelch nicht an ihm vorübergehen wird. Der Knackpunkt ist nur der, aus freien Stücken loszulassen, und nicht auf Druck der anderen. Gerade am Ende führt Zhao den wunderbaren Moment der Einsicht als schönstes Element des Films auf die Koppel und lässt dabei so manchen engen Vertrauten, von dem man nicht dachte, er würde zu so etwas fähig sein, als weisen Empathen erscheinen.

The Rider ist ein karger, introvertierter Film – langsam zur Ruhe kommend, reflektierend und in seiner Authentizität fast schon semidokumentarisch. Doch was heißt fast: Zhaos Film ist offensichtlich eine biographische Dokumentation über das Wagnis, mit einem undenkbaren Schicksal umzugehen.

The Rider

Mulan (2020)

STAND BY YOUR CHI

6/10

 

mulan© 2020 The Walt Disney Company

 

LAND: USA 2020

REGIE: NIKI CARO

CAST: LIU YIFEI, DONNIE YEN, GONG LI, JET LI, JASON SCOTT LEE, TZI MA, RON YUAN U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN

 

Die einen retten das Kino, die anderen machen es verzichtbar: Während Christopher Nolan mit seinem Zeitreiseknüller Tenet wieder leere Sitzreihen füllen will, kommt der Mauskonzern auf den Geschmack, seine Blockbuster streamen zu lassen, in der Hoffnung, den Home-Cinema-Erfolg von Trolls World Tour vielleicht zu toppen. Ins Kino trauen sich sowieso nur wenige, in den USA womöglich noch weniger als hierzulande. Also erscheint Mulan exklusiv auf Disney+, zu einem ordentlichen Preis wohlgemerkt – allerdings gilt der Preis für alle, die vor dem Bildschirm sitzen, und so gesehen fällt das Heimkino vermutlich günstiger aus als wenn man sich im Familien-Kontingent aufmacht ins nächstgelegene Multiplex.

Aber wie sieht es denn wirklich aus? Hätte Mulan lieber ins Kino kommen sollen? Oder ist der Release als Stream völlig ausreichend? Nun, wer bereits sämtliche Disney-Realverfilmungen gesehen hat, wird wissen, dass diese High-End-Produkte eindeutig etwas fürs Kino sind. Und er wird auch wissen, dass dort, wo Disney draufsteht, auch Disney drin ist. Kurz gesagt: Mulan hat als Zeichentrickversion womöglich mehr eigene Klasse, während sich die Realverfilmung nahtlos und unauffällig in all die anderen Realverfilmungen einreiht, die es bereits von Disney gibt. Da sticht vielleicht nur noch Der König der Löwen hervor, ansonsten aber haben alle Filme eines gemeinsam: sie folgen einer gewissen Faustformel, folgen durch Chefetagen gereichten Anforderungen und Geboten und hüten sich davor, aus der Reihe zu tanzen. Diese dogmatische Message Control, die Disney fein säuberlich durchdacht hat, sorgt für ein erwartbares und gleichsam konventionelles Filmerlebnis, das aber zweifelsohne und technisch gesehen auf der Höhe seiner Kunst ist, nichts anbrennen lässt und erfahrene Profis an den Regiestuhl lässt. Wie zum Beispiel Niki Caro, bekannt durch ihr wirklich bezauberndes Coming of Age-Mythendrama Whale Rider, die sich sicherlich nicht zweimal hat bitten lassen, für Disney die uralte chinesische Legende aus der zweiten Dimension zu holen.

Die Legende selbst ist nicht sonderlich komplex: im antiken China droht Gefahr von Seiten der Hunnen. Da springt ein burschikoses Mädchen für ihren Papa ein, ein Kriegsveteran, der kaum noch aufrecht gehen kann, der aber nochmals in die Armee hätte eingezogen werden müssen, da sein Nachwuchs nicht männlicher Natur ist. Damals war das so: Frauen bleiben daheim, Männer ziehen in den Krieg. Alles andere: ein bitterer Affront gegen Traditionen. Mulan allerdings macht einen auf Yentl und tarnt sich als Junge mit stark ausgeprägtem Chi, woraufhin bald alle ihre Kommilitonen staunen werden. Und nicht nur die: auch eine Hexe findet Gefallen an Mulans Mut, der folglich natürlich das Kaiserreich retten wird.

Wenn Mulan mit wallendem schwarzem Haar und in roter Gewandung samt Schwert im kargen Hochland Asiens Pirouetten und Salti schlägt, an den Wänden hochläuft und in Pose geht, dann ist das natürlich großes Kino. Auch die Meute der schwarzbekleideten Antagonisten, die zu Pferde allerhand Staub aufwirbeln, ermöglichen Szenen, bei denen nur noch die Kehlgesänge der Huun Huur Tu fehlen. Jede Menge fernöstlichen Glamour versprüht dieser gesangsbefreite Film, schöne Bilder der Kaiserstadt, ganz nette, natürlich unblutige Kampfszenen. Unterm Strich aber ist die Blutleere aus bereits erwähnten Gründen, nämlich, brav den Disney-Traditionen zu folgen, ebenso auf die angepasste Dramaturgie zu übertragen, die einen gewissen kecken Esprit und darüber hinaus auch Humor vermissen lässt und sich kaum mit dem wachen Geist solidarisch zeigt, den Mulan als erste Kriegerin eigentlich hat.

Mulan (2020)

Glücklich wie Lazzaro

DER EWIGE KNECHT

8/10

 

lazzaro© 2018 Filmladen

 

LAND: ITALIEN, FRANKREICH, SCHWEIZ, DEUTSCHLAND 2018

REGIE: ALICE ROHRWACHER

CAST: ARDIANO TARDIOLO, NICOLETTA BRASCHI, SERGI LÓPEZ, ALBA ROHRWACHER U. A.

 

Da steht er und lächelt, umgeben von Bäumen, im Hintergrund die Stadt, und ein Wolf zu seinen Füßen. Das Plakat zu Alice Rohrwachers Film ist ein Gemälde, naiver oder phantastischer Realismus, doch für letzteres wäre es zu real, einzig der Wolf sollte hier nicht sein. Und auch Lazzaro, der abgebildet ist, sollte nicht hier sein, denn er scheint wie eine Gestalt aus längst vergangenen Zeiten. Wie eine Ikone, ein Heiligenbild, etwas völlig entrücktes. Lazzaro existiert gar nicht wirklich, er ist ein Mythos, ein Mysterium – oder doch nicht? Das zu ergründen ist ein Versuch, der sich letzten Endes lohnt, denn Glücklich wie Lazzaro zählt zu den außergewöhnlichsten Werken der letzten Zeit, ein humanistisches Märchen von den Hierarchien unserer Gesellschaft.

Adriano Tardiolo, der den flötenspielenden Knecht auf dem Gut der Marchesa de Luna spielt, ist selbst eigentlich ein Laie. Einer, der nie irgendwo Schauspielerfahrung gesammelt hat, ein Naturtalent also, den Regisseurin Rohrwacher entdeckt hat. Tardiolo scheint in seiner Rolle wirklich nicht von dieser Welt zu sein, und als Lazzaro ist er einer, der tut was man ihm sagt. Ein Knecht in seiner reinsten Urform, ein Befehlsempfänger und Erfüllungsgehilfe. Einer ohne Rechte. Über ihm: die Tabakbauern des Ortes, allerdings selbst einem erbarmungslosen Feudalismus erlegen. Sklaven, wenn man so will, die für die Herrin ernten, und selbst immer verschuldet bleiben. Das erinnert an die Gesellschafts- und Wirtschaftsformen des Mittelalters, bevor die Bauern im 14. Jahrhundert den Aufstand probten. Die Einwohner des Bauerndorfes Inviolata allerdings tun das nicht, sie können nicht auf sich herabblicken, ihren Zustand des Schuftens und Dienens nicht aus der Distanz betrachten. Anfangs fragt man sich, in welcher Zeit Glücklich wie Lazarro eigentlich spielt. Alles sieht sehr verdächtig nach dem vorigen Jahrhundert aus, doch der Schein trügt. Die verhängte Isolationshaft der Marchesa hat Lazarro und seine Mitbewohner aus der Zeit katapultiert. Und die Zeit, die spielt weiterhin verrückt, vor allem, was das Schicksal des Lazzaro betrifft. Denn ihm widerfährt, ähnlich dem Lazarus aus der Bibel, eine unergründliche zweite Chance, die ihn auf eine Reise schickt, und bei der ein Wolf keine unwesentliche Rolle spielt.

Rohrwacher hat hier eine Parabel ersonnen, anfangs noch in romantischem Realismus, die von Meistern und Dienern erzählt. Von den Unterdrückten und Ausgebeuteten, und von dem Umstand, dass es immer einen Stärkeren gibt, der den anderen nötigt, zu dienen. Ihre metaphysische Reise ist gleichsam ein antikapitalistisches Manifest, worin Lazzaro wie der kleine Prinz Antworten sucht auf Fragen, die er nie stellen wollte, auf Menschen trifft, mit denen er stets verbunden war, die aber bemüht sind, aus ihrer Abhängigkeit von damals auszubrechen in ein autarkes Lebenskontrukt. Was sie finden ist Armut, und die Reichen von damals, die haben ebenfalls alles verloren. Der Film ist wie die Essenz eines politischen Umbruchs, der am Umsetzen kommunistischer Ideen scheitert, weil das Wesen des Menschen es einfach unmöglich macht, diese umzusetzen. Glücklich wie Lazzaro ist ein enorm gesellschaftspolitischer Film, der seine Sichtweise in eine poetisch-irreale Märtyrerchronik bettet. Dabei fasziniert in erster Linie eben Adriano Tardiolo als Lazzaro, der als Fels in der Brandung Zeiten und Gezeiten über sich hinwegziehen lässt, bis er selbst die alte Ordnung wiederherstellen will. Was sagt das über die Zukunft des Menschseins aus? Rohrwachers Film erinnert durchaus an die thematisch verwandte Kleinbürgertragödie Dogman des Italieners Matteo Garrone – auch dort sieht sich der ewig unterdrückte Hundefriseur der Willkür von Stärkeren ausgeliefert, bis er selbst das Blatt wendet. Doch wofür? Glücklich wie Lazzaro ist noch mehr Lehrstück als Dogman, fast schon von der Art eines Theaters des Berthold Brecht oder Max Frisch, die die gutgläubige Illusion eines besseren Menschen erschaffen, um sie dann zu zerschlagen.

Rohrwachers Film ist ein höchst bemerkenswertes Beispiel dafür, was das Kino noch für eine erzählerische Kraft haben kann, und noch so viel perspektivisches Neuland verborgen hält, dass durch Glücklich wie Lazzaro wieder ein Stückchen mehr erschlossen wurde.

Glücklich wie Lazzaro

Juliet, Naked

DER FAN IN MEINEM BETT

7,5/10

 

julietnaked© 2018 Thimfilm

 

LAND: USA 2018

REGIE: JESSE PERETZ

CAST: ROSE BYRNE, ETHAN HAWKE, CHRIS O’DOWD U. A.

 

Nerds können manchmal anstrengend sein. Über nichts lässt sich plaudern, außer über das Objekt der Begierde, der Lebenszeit verschlingenden Leidenschaft. Nerds können aber auch witzig sein, viel mehr belächelnd witzig, sodass der Lachende froh ist, nicht ganz so zu sein wie der, über den sich andere gerade amüsieren. Dieses Konzept hat bei The Bing Bang Theory eine Zeit lang gut funktioniert – und den Experten mit Tunnelblick für das Nicht-Wesentliche salonfähig gemacht. Nick Hornby hat sich auch damit beschäftigt. Also mit den Eigenheiten eines Fans. Noch dazu eines Fans, der in einer Beziehung lebt. Der hat in dessen komödiantischer Romanze ein unergründliches Faible für einen ganz gewissen Musiker, der irgendwie zum Mythos wurde, nachdem er nach wenigen Jahren des Ruhms plötzlich in der Versenkung verschwand. Einziger Hinweis über dessen Verbleib sind unscharfe Schnappschüsse, die ungefähr so aussagekräftig sind wie das Waldfoto von Bigfoot.

Tucker Crowe hieß also dieser geheimnisvolle Songwriter, und Lebensgefährte Duncan hat sich vor lauter Hingabe im häuslichen Keller eine Art Schrein errichtet, in welchem er den erdigen Balladen des Verschwundenen mit Hingabe lauscht und einen Fanblog unterhält, der gerade mal eine Handvoll Follower hat. Auch Freundin Annie liest mit, wagt leise Kritik an einem bisher unveröffentlichten Unplugged-Tape des Künstlers – und setzt damit eine ungewöhnliche Verkettung von Ereignissen in Gang, die Tucker Crowe auf der Bildfläche erscheinen lassen. Und zwar deutlicher, als manch einem lieb sein kann. Mitunter auch dem Fan selbst.

Wer sich an den literarischen Vorlagen von Nick Hornby vergreift, braucht sich um den Plot keine Sorgen mehr machen. Diese Bücher (die ich leider selbst noch nie gelesen habe) leben, wie es den Verfilmungen nach scheint, von recht unaufgeregt skurrilen, alltäglichen Verstrickungen und von kuriosen romantischen Konstellationen, vor allem Ausgangssituationen, die recht schnell und wortgewandt in die Substanz des Erzählten finden, ohne um den heißen Brei herumzustromern. Das war bei High Fidelity oder About a Boy schon der Fall, und das ist bei Juliet, Naked genauso. Wieder ist die Musik etwas, ohne der es sich nicht gut leben lässt, ist die nerdige Verspieltheit und ein irgendwie nicht ganz ernstzunehmender Ernst diversen geschmacksorientierten Schräglagen gegenüber Fokus dieser intellektuell angehauchten Boulevardkomödien. Schauspielerisch bietet sich hier einiges an Möglichkeiten, damit sich längst etablierte Stars nochmal fast intuitiv entfalten und auf komödiantisch tun können, ohne sich lächerlich zu machen. Denn Hornbys Komödien, die haben Niveau, Geschmack und Stil. Sind nicht hemdsärmelig, sondern gesprächsverliebt. Niemals mieselsüchtig, und wenn, dann höchstens trotzig, aber immer zuversichtlich. Genauso reagiert Rose Byrne auf den kuriosen Wink des Schicksals, der ihr Ethan Hawke nach Hause lotst – als Ex-Musiker im Gammel-Look, der in der Garage wohnt, nebenan die Exfrau, doch was tun bei einem gemeinsamen Kind? Irgendwas will der ehemalige Schwerenöter und Dauerbekiffte doch noch auf die Reihe bekommen. Und neben dem Filius könnte auch noch aus Anne ein neuer Lebensmensch werden. Dieser Versuch hat nun einige spaßige Situationskomik in petto, der souverän ergraute Ethan Hawke ist großartig, wie er versucht, sich händeringend all der Familie zu erwehren, die da die seine ist. Und spätestens wenn der Lieblingsschauspieler eines Richard Linklater zwischen Sonnenaufgang und -untergang eine rauchig-melancholische Version von Waterloo Sunset unter Keyboardbegleitung in die Runde schmettert, gehört Juliet, Naked ganz sicher zu meinen liebsten Komödien der letzten Zeit. Weil all die schmeichelnde Ironie dieses Films beweist, dass es auch ohne Slapstick und tiefer Kalauer gehen kann. Dass man einfach eine gute, kluge Geschichte braucht, um zu begeistern. Da muss man gar kein Fan sein, von irgendetwas. Und wenn doch, dann wäre es wohl besser, wenn die Person des öffentlichen Interesses weit genug wegbleibt, um die Wolke 7 aus Sehnsucht und Anbetung nicht abregnen zu lassen.

Juliet, Naked

Jumanji: Willkommen im Dschungel

PANIK IN DER BOTANIK

5/10

 

jumanji© 2017 Sony Pictures

 

LAND: USA 2017

REGIE: JAKE KASDAN

MIT DWAYNE JOHNSON, KEVIN HART, JACK BLACK, KAREN GILLAN U. A.

 

Wenn einmal die Würfel fallen, gibt es kein Entrinnen mehr. Das Spiel muss zu Ende gespielt werden, und zwar von allen Spielern. Keiner darf aussteigen. Und das schlimme daran: Es geht um Leben und Tod. So sehr die ertönenden Buschtrommeln auch ein exotisches Abenteuer verheißen – als großer Brettspielfreund würde ich um Jumanji einen großen Bogen machen. Zu riskant, das Ganze. Vor lauer Nägelbeißen und Angstschweiß absondern vergisst man ja glatt das Würfeln. Doch zum Glück hatten wir Robin Williams, damals in den 90ern. Der begnadete und leider viel zu früh von uns gegangene Komiker und Charakterdarsteller hat in Zeiten der boomenden Spielkonsolen das Brettspiel wieder salon- und haushaltsfähiger gemacht. Wenngleich die Haushaltsversicherung bei Jumanji die Versicherung des Vertrauens wohl in den Ruin treiben würde. Im Original von 1995 bleibt wahrlich kein Stein auf dem anderen, und das phantastische Rennen, retten und Flüchten kocht nur so über vor zündenden Ideen und spannenden Wendungen. Damals war Jumanji auch tricktechnisch State of the Art. Und das dynamische Zusammenspiel der wirklich verzweifelt wirkenden Alt- und Jungdarsteller ist von ansteckender Motivation.

2017 gibt es keinen Robin Williams mehr. Und das zum Kult gewordene Brettspiel fristet seit 22 Jahren sein ungeöffnetes Dasein einer Tretmine gleich unterm Sand an irgendeinem namenslosen Strand (sofern ihr euch noch an die letzte Szene von damals erinnern könnt, wisst ihr, was ich meine). Das unter der Regie von Jake Kasdan nachgereichte Sequel – und nein, es ist kein Remake – schließt genau mit dieser Szene wieder an. Und um zeitgemäß zu sein, spielt man heutzutage Jumanji lieber auf der Konsole als auf einem analogen, rund 30 x 30 cm großen Brett mit Würfelschutz. Schade eigentlich, denn damit entledigt sich der neue Jumanji-Film haufenweise origineller Ideen. Die Digitalisierung des Abenteuerspiels wäre nicht zwingend notwendig gewesen. Gut, aber damit steht und fällt das Konzept des vorliegenden Filmes. Denn diesmal wird nicht nur Robin Williams alias Alan Parrish in die gefährliche Dschungelwelt hineingesogen – diesmal sind es alle, die mitspielen. Was ganz witzig ist, denn die Schüler, die während des Nachsitzens das mysteriöse Spiel in die Finger kriegen, werden in der virtuellen Welt so ziemlich gegen ihren Typ besetzt. Die Tussi vom Dienst ist ein übergewichtiger Kartograph mit Kniestrümpfen und Tropenhelm, der Schüchti aus der letzten Bank ein zwei Meter großer, muskelbepackter Hüne, der so gut wie alles kann und keine Schwächen hat, und der sportaffine lange Lulatsch ein abgezwickter Zoologe, der dem frohgemuten Dwayne Johnson fast nur bis zur Brust geht.

Damit hätten wir aber schon den Reiz des neuen Abenteuers beschrieben. Jumanji: Willkommen im Dschungel ist komödiantisches Schauspielkino voller fehlbesetzter Avatare, die die neugewonnene Situationskomik aufgrund all ihrer Unbeholfenheit für sich entdecken. Das ist manchmal wirklich saukomisch, manchmal aber – und das im Laufe des Films des Öfteren – seufzt man wissend und maximal nur noch schmunzelnd. Das Szenario selbst, die Geschichte hinter dem Spiel, bleibt mit ihrem Einfallsreichtum weit hinter dem Jaguarberg zurück. Ob Elefanten, Raubkatzen oder schnappende Krokodile – der Kniff mit der Kohärenz von Dschungelwelt und Realität fehlt hier ganz. Und genau das war aber der Reiz des unberechenbaren Originals. Vollends digitalisiert, erreicht das Jumanji von heute mit Ausnahme einiger weniger kreativer Momente den Reiz eines öffentlich begehbaren Dschungelzoos – Jurassic World lässt grüßen, allerdings ohne Dinos. Das würde ich mir in natura fraglos gerne ansehen – im Kino erwarte ich mir dann schon noch etwas mehr als eine klamaukige Gruppenführung durch die Botanik.

Jumanji: Willkommen im Dschungel

Das Talent des Genesis Potini

DIE ZUKUNFT IST SCHWARZWEISS

7/10

 

genesispotini

REGIE: JAMES NAPIER
MIT CLIFF CURTIS, JAMES ROLLESTON, WAYNE HAPI

 

Schon mal was vom Kino Polynesiens gehört? Jetzt werden sich sicher einige an Pixar´s Südseeabenteuer Vaiana erinnern. War zwar kein polynesischer Film, zeigte aber ganz klare Referenzen zur Mythologie des Inseldreiecks, welches sich von Neuseeland im Südwesten bis zu Hawaii im Norden und den Osterinseln im Osten spannt. Ja, Neuseeland gehört geografisch zu Polynesien. Die Fantasyepen nach Tolkien wurden schließlich, wie wir alle wissen, unter der Regie eines waschechten Neuseeländers, nämlich Peter Jackson, als amerikanisch-neuseeländische Koproduktion vor der atemberaubenden Kulisse heimischer Landschaften in Szene gesetzt. Doch Neuseeland hat noch eine ganz andere kinematographische Stärke, die sich vom Kulissendasein deutlich abhebt und auch distanziert. Das Land der Maori bietet schon seit jeher Independentkino vom Allerfeinsten. Wer Lee Tamahori´s Ureinwohnerdrama Die letzte Kriegerin oder Niki Caro´s Walmythos Whale Rider bislang noch nicht gesehen hat, sollte dies schleunigst nachholen. Und vielleicht auch gleich Das Talent des Genesis Potini auf die Watchlist setzen. Denn das Psycho- und Sozialdrama, im Original unter dem Titel The Dark Horse hierzulande nur im Retail-Sektor erschienen, erzählt die wahre Geschichte eines psychisch labilen Schach-Genies, der sozial benachteiligten Kindern mit dem Königsspiel aus ihrer alltäglichen Lethargie verhilft.

Natürlich – in unseren Breiten kennt keiner Genesis Potini, vielleicht nur eingefleischte Schach-Nerds. Wenn’s hochkommt, bleibt uns nur der Name Bobby Fischer oder vielleicht Kasparow in Erinnerung. Doch das Spiel hat auch auf der anderen Seite der Welt zu lebensverändernden Maßnahmen geführt. Und die Geschichte ist es allemal wert gewesen, verfilmt worden zu sein. Vor allem, weil es nicht nur das Portrait eines Grenzgängers ist, sondern auch, und das hat der Film mit einigen Werken aus dem Land des Kiwis gemein, das Sozialportrait eines Landes, indem die kulturelle Identität der Maoris zusehends schwindet und ein Teil der indigenen Bevölkerung aufgrund gesellschaftlicher Benachteiligung den Weg der Verdammnis wählt. In diesem Gefüge der sich abstoßenden und anziehenden Kräfte ist es nur eine Frage des emotionalen Gleichgewichts, die Gratwanderung zwischen Bandenkriminalität und rosiger Zukunftschancen zu meistern. Wenn Genesis Potini sich selbst dazu ermahnt, positiv zu denken, so ist das eine elegante Metapher auf den Istzustand des kulturellen Erbes Polynesiens, das nicht nur durch Schnitzkunst und Tattoos Gehör verschafft. Wer genau hinhört, wird die Legende von Māui mit seinem verzauberten Angelhaken zu hören bekommen. Vaiana lässt grüßen.

Cliff Curtis, dessen Gesicht man irgendwo schon das eine oder andere Mal gesehen hat, haucht seiner authentischen Figur behutsam ohnmächtig-mächtiges Leben ein. James Napier´s entschleunigtes Spielfilmdebüt nimmt sich anfangs viel Zeit, um die Story ins Rollen zu bringen. Die familiären Konflikte, die sich gegen Endes ihre Bahn brechen, lassen den Zuseher mit Sicherheit nicht unbeteiligt zurück. Das Leben des Genesis Potini ist sehenswertes Coming of Age und Sozialkino aus Neuseeland – spirituell, speziell und irgendwie anders.

Das Talent des Genesis Potini

The Great Wall

AUF DER MAUER, AUF DER MAUER…

6/10

 

greatwall

Regie: Zhang Yimou
Mit: Matt Damon, Pedro Pascal, Willem Dafoe

 

Alle Kenner der Game of Thrones-Saga wissen – die Mauer im Norden schützt Westeros vor den Wildlingen und den Weißen Wanderern. Wie gut und wichtig so eine Mauer sein kann, beweist der mönchartige Orden der Nachtwache, gewandet in ästhetisch-unbuntem Schwarz, spaßbefreit und grimmig. So eine Mauer gab und gibt es auch in unserer Welt. Zwar längst nicht so hoch, aber ich schätze mal viel länger. Und am Wehrgang tummeln sich ganz andere Leute, nämlich Krieger in atemberaubend kunstvollen, knallbunten Rüstungen. Blau, Grün und Rot, schillernd und blank poliert. Fast wie die extraterrestrischen Outfits aus dem neuen Power Rangers-Film. Nur mehr davon, viel mehr. Und wozu das Ganze? Wozu dieser Aufwand, diese gigantische Verteidigungsanlage auf einer Mauer, durch die der Illusionist David Copperfield bereits hindurchgegangen ist?

Dazu muss man wissen – wir befinden uns zeitlich gesehen im letzten Drittel des Mittelalters, wo das Wissen um das berüchtigte, in China boomende Schwarzpulver seine Runde macht. Und man muss auch wissen – bei Zhang Yimou´s Monstergemetzel handelt es sich angeblich um eine von vielen Legenden, die sich um die große Mauer ranken. An dem Oscarpreisträger und Regisseur von Meisterwerken wie Hero oder Rote Laterne ist das Blockbusterkino aus dem Westen jedenfalls seine Spuren hinterlassen. Womöglich hat Yimou an der Revival-Schwemme der Monstergiganten doch irgendwie Gefallen gefunden. Zumindest haben es fernöstliche Filmproduzenten geschafft, gemeinsam mit Universal Pictures den Regie-Altmeister ins Boot zu holen. Jemand, der weiß, wie man Schlachtengetümmel ähnlich einem Kostümballett in Szene setzt, Martial Arts zur überstilisierten Kunst erhebt und Pfeilregen in mathematischer Symmetrie perfekt choreographiert.

Dieses Know-How braucht man, denn in The Great Wall trifft Marco Polo auf Pacific Rim. Die unerschöpfliche Herde an Kreaturen, die die sagenumwobene Mauer erklimmen wollen, um ins altchinesische Königreich zu gelangen, ist in ihrer Biomasse mit Guillermo del Toro´s Giganten aus dem Meer fast gleichzusetzen. Das uralte Bauwerk stemmt sich wie Helms Klamm aus Tolkiens Herr der Ringe den blutgierigen Vierbeinern entgegen. Inmitten des zähnefletschenden Herdentriebs thront die Königin – ein formschönes wie grausames Wesen, bewacht von drachenartigen Leibwächtern, die das auf Vibra-Call kommunizierende Geschöpf mit ausfahrbaren Nackenschildern vor den brennenden Katapultgeschossen der Menschen schützt. Das Design der zahnbewehrten Kreaturen erinnert frappant an Del Toro´s Ideenfundus, und die Gefechte auf der Mauer sind bunt, blutig, bis zum Abwinken glorifiziert und mit eleganten Frozen Stills durchsetzt. Das haben wir schon bei Hero mit heruntergeklappter Kinnlade beobachten können, da zeigt uns der Film zwar nichts Neues, aber gern Gesehenes. Weta-Effekte sind es keine, doch die Ausstattung macht es wieder wett. Allerdings – Matt Damon und „Prinz Oberyn“ Pedro Pascal als zottelige Abenteurer, die dann noch auf einen sinisteren Willem Dafoe stoßen, wirken tatsächlich wie schlecht geschminkte Auslandsreisende ohne Ortsplan. Damons unterfordertes Spiel in diesem üppigen Monumental-Trash weicht nur gelegentlich einem Staunen, das der exotischen Extravaganz geschuldet ist. Warum der talentierte Mr. Ripley als Quotenamerikaner das asiatische Kino auch für den Westen zur Salonfähigkeit verhelfen muss, erklärt sich womöglich aus dem Revival der Kaiju-Fantasy und der immer enger werdenden, wirtschaftlichen Zusammenarbeit der amerikanischen mit den asiatischen Produktionsstudios. Geteilte Kosten sind halbe Kosten. Da können sich westliche Schauspieler wie Matt Damon oder Willem Dafoe durchaus erkenntlich zeigen. Was sie auch tun – halbherzig und als launige Groschenroman-Charaktere, eng verwandt mit den Filmfiguren der Karl May-Abenteuer.

Wen das nicht stört, und wer schon immer triviales Retro-Abenteuer im Popcornkino der frühen Sechziger mit einer Monster-Apokalypse kombiniert sehen wollte – der sollte sich The Great Wall nicht entgehen lassen. Dabei ist das Geheimnis um die Tao Ties, wie die Viecher genannt werden, ja gar nicht mal so unoriginell. Und sollte demnächst eine Besichtigung des achten Weltwunders anstehen, wäre der Film während des Fluges nach China nicht nur Zeitvertreib, sondern auch eine passende Einstimmung der pittoresken Art.

The Great Wall

Elliot, der Drache

DER DRACHE IN MEINER GARAGE

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elliott

Drachen gibt es wirklich. Oder zumindest wünschte ich, es wäre so. Als bekennender Liebhaber der geflügelten, schier unbezwingbaren Wesen muss ich wohl daran glauben und zugeben: ja, in meiner Garage lebt ein Drache (wenn ich eine solche hätte). Unsichtbar, schwebend, sich jedem wissenschaftlichen Nachweis entziehend. Der Astrophysiker Carl Sagan hat sich in seinem Buch über Aber- und Gottesglaube erstmals dieses Gleichnisses bedient. Das für niemanden ersichtliche Wunderwesen steht für die Tatsache, dass etwas, dessen Existenz oder auch Nicht-Existenz nicht bewiesen werden kann, für die Forschung so gut wie nicht von Bedeutung ist, es aber auch nicht zu 100 % ausgeschlossen werden könne. Eine Restwahrscheinlichkeit gibt es immer noch, wenn auch tendenziös unmöglich. Achselzuckend können wir aber immerhin noch weiter in der Vorstellung schwelgen, dass Drachen existieren, ebenso wie Nessie, Bigfoot oder Mokele Mbembe, der sagenhafte Brachiosaurier aus dem Kongobecken. Oder eben Elliot.

Nein, Elliot existiert natürlich nicht wirklich – er ist eine Zeichentrickfigur aus dem Hause Disney, die erstmals 1977 auf der Kinoleinwand zu sehen war und als grüner, moppeliger Drache Merchandising-Artikel wie kindgerechtes Bettzeug zieren durfte. Ja, Elliot war ein gutmütiges, zeitloses Wesen aus Farbe und Pinsel, das jedes Kind gerne zu seinen Freunden gezählt hätte. Fast 40 Jahre später wurde aus Elliot, dem Schmunzelmonster mit der violetten Struppelfrisur ein mythisches Wesen, dass sich in den Wäldern Nordamerikas verbirgt, unsichtbar werden kann und sich mit einem verwaisten Jungen anfreundet, den er vom Kleinkindalter an hegt, pflegt und beschützt. Dieser Junge namens Pete ist eine an Kipling´s Mowgli angelehnte Figur, die allerdings, statt sich in ein Wolfsrudel einzugliedern, einfach mit einem grünen, felligen, enorm gutmütigen Drachen vorliebnimmt. Pete´s Dragon, wie David Lowery´s Film aus dem Jahr 2016 im Original betitelt wird, hat mit der Zeichentrick-Vorlage von damals nur mehr sehr wenig zu tun. In diesem berührenden Fantasyfilm für die ganze Familie bekommen mitunter nicht nur Kinder feuchte Augen, auch junggebliebene Eltern, die ihrem Nachwuchs seit dem Kleinkindalter an allerhand Sagen und Märchen vorgelesen haben und es auch heute noch tun, können derartige Szenarien durchaus zu schätzen wissen. Drachen, vor allem wohlig pelzige Moosmonster wie dieser perfekt animierte Charakter, erweichen sogar die Herzen zynischer Realisten. Wie schön wäre es, gäbe es so ein Wesen tatsächlich. Elliot, der Drache macht die Probe aufs Exempel und begeistert als straff inszeniertes, liebevoll gestaltetes und moderat dramatisches Abenteuer Jung und Alt. Der geheimnisvolle Lebensraum Wald als Rückzugsort seltener Arten lädt als Schauplatz des Ökomärchens dazu ein, den Zauber des Verborgenen und Unbekannten mit geradezu kindlicher Unbefangenheit zu erfahren. Irgendwie beruhigend, dass vielleicht noch nicht alles Magische auf unserem Planeten rationaler Nüchternheit zum Opfer gefallen ist. Und dass das Phantastische im Alltag manchmal immer noch zum Greifen nah sein kann.

Hier ist Disney eine Realverfilmung gelungen, die sich wirklich sehen lassen kann. Oder sagen wir lieber: die Neuinterpretation eines Kultcharakters. Der Autounfall zu Beginn des Filmes sowie die Szenen der Drachenjagd könnten ein allzu junges Publikum vielleicht etwas verstören – in seiner Gesamtheit aber ist diese rundum gelungene, spannende und herrlich bebilderte Fantasy ein positives Erlebnis, das den nächsten Familienausflug im Wald mit etwas anderen Augen sehen lässt. Mit den Augen des grenzenlos Vorstellbaren.

Elliot, der Drache