Archiv der Zukunft (2023)

SAMMELN, UM DIE WELT ZU VERSTEHEN

6/10


Archiv_der_Zukunft© 2024 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2023

REGIE / DREHBUCH / KAMERA: JOERG BURGER

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Es ist ein altehrwürdiger, fast schon heiliger Ort. Ein Prachtbau der Erkenntnis und des Imperativs für Ordnung und Übersicht. Als Ist-Zustand ist diese Ordnung längst nicht erreicht. Es scheint, als spräche aus dem Chaos eine Stimme zu uns, die zum Inhalt hat: Mensch, erkenne!

Die Rede ist vom international renommierten Naturhistorischen Museum in Wien, dass wir vermutlich alle aus unserer Kindheit kennen, wenn so manches rekonstruierte Skelett diverser Dinosaurier auf uns Dreikäsehochs herabgeblickt oder anderes fein säuberlich präparierte Getier uns in Staunen versetzt hat. Mit dem NHM, so die Abkürzung, verbindet mich nicht nur die eigene Kindheit oder die begleitete Kindheit des eigenen Nachwuchses, das in diesen Hallen gerne Stunden voll kindlicher Ehrfurcht verbracht hat. Mit dieser Institution verbindet mich auch mein Werdegang als Grafik-Designer, hatte ich mir doch als abschließendes Thema für meine Diplomarbeit die Corporate Identity selbiger zur Brust genommen. Warum ich damals nicht darauf gekommen war, als visualisiertes Logo vielleicht einen DNA-Strang zu verwenden, bleibt mir ein Rätsel. Stattdessen stellte ich den erkennenden Menschen als nacktes, kleines, sich windendes barockes Lebewesen in den Mittelpunkt, entnommen aus dem Kuppelfries des historistischen Baus, der sich mehr oder weniger selbst sieht, indem er auf das Kunsthistorische blickt, dazwischen Maria Theresia als aufgedonnerte Universalherrscherin.

Archiv der Zukunft blickt hospitierend hinter die Kulissen der Ausstellungssäle und dem, was alle Welt sonst so sieht. Viel wichtiger für diesen Hort des Wissens ist das, was genau dort abgeht, wo niemand sonst vorbeikommt, es sei denn, er bucht eine Führung ins Unterbewusstsein eines bis unter die hohe Decke vollgestopften Gebäudes, um voller Respekt und vielleicht auch mit etwas Verwunderung auf jahrhundertealte Sammlungen zu blicken, die in alten Ladenkästen und Archivboxen vor sich hindämmern und je nach wissenschaftlicher Anfrage von überall auf der ganzen Welt aus dem Schlaf geholt werden. Der Filmemacher Joerg Burger, unter anderem bekannt für das Fotografinnenportrait Elfi Semotan, Photographer, macht Stippvisiten in all die Teilbereiche des Hauses, das geht von Grundlagenforschung über Taxonomie und Taxidermie bis hin zu den Fachbereichen Zoologie, Botanik und Mineralienkunde. Auch für Archäologen ist da einiges dabei, und wenn die kleine, pummelige Gestalt der Venus von Willendorf mit etwas Ähnloichem wie einem MRT-Scanner durchleuchtet wird, so ist das Abenteuer Forschung aus erster Hand. Diese Leidenschaft lässt sich schon auch erspüren, obwohl Burger eher nüchtern an die Sache herangeht. Er selbst beobachtet und stellt Fragen, die wir nicht hören. Es ist ihm auch nicht wichtig, wer in seinem Film zu Wort kommt, man kann sich schließlich denken, dass Gelehrte es sind, die über ihr Tun referieren. Manches davon ist hochkonzentrierte Büroarbeit, es sind mitunter staubtrockene, monotone Arbeiten, zum Wohle der Allgemeinheit und der Ordnung, die nicht mal ansatzweise geschaffen wurde, sind doch über Jahrhunderte hinweg Naturalien mehr oder weniger respektlos in diverse Sammlungen verbannt worden, die erst jetzt so richtig gesichtet werden. Das Chaos regiert die Forschung, die Forschung stemmt sich dem nicht enden wollenden Hinabrollen des Felsens von Sisyphos entgegen, und auch wenn viele da hinter ihren vollgestopften Schreibtischen an einen Strang ziehen – es wird nicht weniger.

Die Natur hat viel zu bieten, erklärt Burger, ohne es zu erwähnen. Und für jedes Fachgebiet lässt sich eine gewisse Faszination lukrieren. Es ist das Entdecken und Begreifen, das so glücklich macht, und tatsächlich wirken Burgers Gesprächspartnerinnen und -partner freudig-entspannt, jedoch nicht begeistert. Das monotone Klassifizieren ist eine Sache, die andere ist der rote Faden des Films, wenn es darum geht, das Skelett eines Dinosauriers zu rekonstruieren und so aufzubereiten, dass er im Schauraum auch die Jüngsten abholen kann. Mit moderner Technik lässt sich vieles hinkriegen, was früher unmöglich war oder länger gebraucht hätte. Ein 3D-Drucker scheibt unter Ächzen einen ganzen Dino-Schädel aus dem Rechner. Vieles jedoch bleibt analog und mutet an wie vor hundert Jahren, wenn Feldforscher ihre Bälger beschriften, fein säuberlich auf ein Stückchen Papier, auf dass es im Laufe der Jahrzehnte genauso eine Patina trägt wie jene, die noch zu Kaiserszeiten hingefriemelt wurden.

Archiv der Zukunft gibt Einblick und Rückblick, macht auch nicht davor Halt, sich selbst und seine Geschichte kritisch zu betrachten und Unbequemes zu erwähnen. Das Lamento über ein viel zu knappes Budget fällt immer und immer wieder, es ist, als wäre Burgers Film ein Spendenaufruf an alle oder gar eine Botschaft ans Ministerium für Wissenschaft und Bildung. Dazwischen wird weiter emsig geputzt, gereinigt und klassifiziert. Mit der Zeit wird auch dieser Blick hinter die Kulissen von einer staubigen, nach Spiritus, Kalk und Papier riechenden Trockenheit heimgesucht. Viel Pepp hat Archiv der Zukunft nicht. Es zeigt, was es zeigt, manchmal gar zu wenig, und filmisch betrachtet ist der andere Blick, den Filmemacher ihrem Werk zugestehen, hier nicht von Wert. Sein Einblick in ein Museum von Welt gerät manchmal zur Diashow, und dann wieder zum nüchternen Lehrfilm mit wenigen Extras – fast, als wäre alles eine längst fällige Widmung all derer, die amtlich und ehrenamtlich ihre Zeit und mehr als das investieren, um das prachtvolle Leben rundherum zu beleuchten und wertzuschätzen. Ambitioniert ist das, keine Frage. Und ja, auch recht interessant. Nur den frischen Wind, der durchs Gebäude wehen sollte, lässt Burger außen vor.

Archiv der Zukunft (2023)

Ammonite

WAS IM VERBORGENEN LIEGT 

7/10


ammonite© 2021 Tobis


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2020

BUCH / REGIE: FRANCIS LEE

CAST: KATE WINSLET, SAOIRSE RONAN, GEMMA JONES, FIONA SHAW, JAMES MCARDLE, ALEC SECAREANU U. A. 

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


Das Suchen in und zwischen den Steinen nach fossilen Zeitzeugen hat zweifelsohne Suchtpotenzial. Es ist wie das Finden von Schätzen, die keiner vergraben hat. Aus eigener Erfahrung reicht es schon zum Freudentaumel, beim Aufklopfen alter Schiefertafeln fossile Schlangensterne zu entdecken. Wie muss es wohl Mary Anning ergangen sein, einer Hobby-Paläontologin aus Lyme Regis an der Südküste Englands? Für sie waren Schlangensterne wohl eher nur Beiwerk, während sie bereits mit 12 Jahren den Schädel eines Ichthyosauriers freilegen konnte. Wenig später wurde das Relikt im British Museum ausgestellt. Und so ging es weiter. Suchen, ausgraben, freilegen, präparieren. Von Ammoniten über Schnecken- und Muschelschalen bis zu anderen Wirbeltieren, die da an den Klippen des Küstenstrichs nur noch auf ihre Entnahme warteten. Und es sicherlich auch heute noch tun.

Doch um wissenschaftliche Sensationen geht es in Ammonite von Francis Lee natürlich nur peripher. Genauso wenig, wie das britische Archäologendrama Die Ausgrabung vorrangig vom Freilegen eines Wikingerschiffs erzählt. Viel eher gehen diese Filme auch der Frage nach: wie sieht das Gefühlsleben von Leuten aus, deren Bestimmung im Entdecken und dem Streben nach Wissen liegt? Bei Mary Anning, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts tatsächlich gelebt hat, liegt dieses Tun aber auch in einer gewissen Notwendigkeit. Lees Film nimmt an, dass sie mit sich, ihrer Mutter und ihren Versteinerungen einem gewohnten sozialen Umfeld ferngeblieben war. Könnte so sein, weiß man aber nicht. Auch ist die Beziehung zwischen Anning und der Gattin des Paläontologen Roderick Murchison ein Umstand, der anscheinend frei erfunden wurde. Da es hier in erster Linie nicht um eine biographische Aufarbeitung von Annings Leben geht, sondern vielmehr um die Darstellung einer gleichgeschlechtlichen Beziehung, hat Ammonite ganz andere Ambitionen.

Murchison, ein großer Fan von Annings Arbeit, bittet diese, für einige Zeit auf seine psychisch labile Gattin Charlotte aufzupassen, die an der guten Meeresluft zu neuen Kräften kommen soll. Anning selbst, als mürrische, unnahbare, schroffe Person dargestellt, gibt trotz großzügiger finanzieller Entschädigung widerwillig, aber doch, dem Ansinnen nach. Entsprechend gereizt und angespannt ist die Situation auch zwischen den beiden Frauen, doch als die blasse junge Dame plötzlich erkrankt, ändert sich alles.

Wer sich noch an Jane Campions Meisterwerk Das Piano erinnern kann, dürfte erahnen können, welche Melancholie und naturalistische Opulenz Ammonite aufweisen könnte. Für Kameramann Stéphane Fontaine, der zu Jacques Audiards Filmteam zählt, sind die Kostüme der Spätromantik, das Wetter als Äußerung unberechenbarer Gefühlsregungen und die Gezeiten ein scheinbar grenzenloser Spielraum für bewegte Close Ups, Interieur im Kerzenlicht und der Inhärenz einer ruhelosen, neugierigen, spontanen Natur. Käfer und Krabben queren so manche Szenen, der feine Staub beim Präparieren der alten Knochen durchsetzt die Luft. Es ist ein Film aus einem Zeitalter, in dem Naturwissenschaften alle Welt verblüffen und begeistern konnte. Dazwischen aber etwas, das gar nicht in die Zeit passt: eine Liebe zwischen zwei Frauen. Dabei errichtet Kate Winslet in mimischer Feinarbeit, mit zaghaften Blicken und nur ganz selten einem Heben der Mundwinkel das Portrait einer verschlossenen, gekränkten und schwierigen Person, mit Mut zu unvorteilhaftem, ungefälligem Gebaren. Saoirse Ronan, sowieso meist eine Offenbarung in ihrem Spiel, darf auch hier wieder jene Rollen aus der Gesellschaftshistorie interpretieren, wofür sie so geeignet ist. Ronan ist gleichsam aufgeschlossen, provokant, aber auch ganz dem Zeitbild entsprechend. Zündstoff, der aus reiner Zuneigung mehr macht. Dieses vorsichtige Herantasten zwischen Spitzenmode, der Freigiebigkeit einer erzählerischen Natur und nackter Haut gerät zum gemäldegleichen, geschmackvollen Historienfilm, der biographische Aspekte mit queerer Progressivität verknüpft.

Ammonite