Sparta (2022)

LASSET DIE KINDER ZU MIR KOMMEN

7,5/10


sparta© 2022 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, FRANKREICH, DEUTSCHLAND 2022

REGIE: ULRICH SEIDL

BUCH: ULRICH SEIDL, VERONIKA FRANZ

CAST: GEORG FRIEDRICH, FLORENTINA ELENA POP, HANS-MICHAEL REHBERG, MARIUS IGNAT, OCTAVIAN-NICOLAE COCIS U. A.

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Es wundert mich nicht, dass Ulrich Seidl mit dem Thema seines neuen Films und dessen Umsetzung in Rumänien auf Entrüstung stieß. Es ist schon gewaltig schwierig, sich mit Pädophilie in einem Film auseinanderzusetzen – wie schwierig kann es dann sein, all den Erziehungsberechtigten der für den Film gecasteten Kinder die höchst heiklen Umstände entsprechend zu verklickern. Es kann aber auch sein, dass Seidl wirklich etwas zu viel wollte. Zu viel Reality, zu viel Konfrontation. Zu viele echte Emotionen. Ich frage mich, wie Adrian Goiginger den jungen Jeremy Miliker dazu gebracht hat, so dermaßen die Klaviatur verzweifelter Gefühle zu bedienen, die sich in seinem Familiendrama Die beste aller Welten nicht nur mit Tränen, aber auch, Bahn brachen. Der Unterschied liegt darin, dass Miliker eben kein Laiendarsteller war, der einfach so von der Straße weg engagiert wurde. Bei Seidl dürfte das anders gewesen sein. Doch so genau weiß man das nicht. Der Spiegel veröffentlichte das eine, Profil das andere, der Falter behauptete wiederum das Gegenteil.

Es stimmt schon – es gibt die eine oder andere Szene, die eventuell – ohne den nötigen Kontext – durchaus verstörend wirken könnte auf Kinder, die einfach nur gerne vor der Kamera stehen wollen. Schlimmer als so manche Szenen in vielen anderen Filmen, in denen Kinder (mitunter im Horror-Genre) ihre Rollen spielen, sind sie aber nicht, wobei es immer darauf ankommt, wie gut Minderjährige gecoacht werden. Meine Einschätzung: Kann sein, dass so mancher Vormund wirklich nicht so genau gewusst hat (oder wissen wollte), was da abgeht. Letztendlich zeigt Sparta nichts, was kompromittierend sein könnte. Es sei denn, man will sich mit Pädophilie, dieser destruktiven sexuellen Störung, einfach nicht auseinandersetzen. Im Grunde wollte ich das auch nicht. Allein schon, weil in Bezug auf die Entstehung dieses Films Aussage gegen Aussage steht. Da ich aber kein Interesse daran hatte, jemanden vorzuverurteilen, dachte ich mir, mache ich mir selbst ein Bild. 

Seidls Film ist der zweite Teil eines Diptychons, das unter dem Titel Böse Spiele an manchen Festivals im Doppelpack gezeigt wurde, gemeinsam mit der Tragikomödie Rimini, welche von der Zeit nach dem Ruhm eines Schlagersängers namens Richie Bravo erzählt, dargestellt von Michael Thomas, der einen Bruder hat – nämlich Ewald. Dieser Ewald, gespielt von Georg Friedrich, ist der Protagonist von Sparta. Beide haben den in einem geriatrischen Pflegeheim dahindämmernden Vater gemeinsam (Hans-Michael Rehberg in seiner letzten Rolle, dessen Aufnahmen bereits 2017, kurz vor seinem Ableben, entstanden sind). Dieser Alte, ein ewiger Nazi, tritt in haargenau dieselben Szenen in beiden Filmen auf – sie sind das Bindeglied und die entsprechenden Intermezzi, die beide Werke in zeitlich auseinanderliegende Kapitel unterteilen.

Die Bedeutung des gebrechlichen Altnazis mit Rollator mag sich mit Ausnahme dessen, eben der Vater der beiden zu sein, nicht so richtig erschließen und wirkt mitunter etwas willkürlich eingesetzt. Abgesehen davon aber gelingt Seidl etwas, was ich ihm gar nicht zugetraut hätte: die behutsame, fast schon zärtliche Betrachtung eines Dilemmas. Sein langsam erzähltes, konzentriertes Psychogramm in wie immer akkurat arrangierten Bildern überzeugt durch eine gesellschaftskritische Meta-Ebene, die den psychischen Schaden eines Mannes einem anscheinend „gesunden“ patriarchalischen Menschen- und Erziehungsverstand gegenüberstellt. Letzterer ist praktisch nicht vorhanden. Was bleibt, ist die ambivalente Grauzone eines Kompromisses – oder die Chance, mit einer verhassten Veranlagung leben zu lernen und das Bestmögliche daraus zu lukrieren, zum Vorteil für die Kleinen.

Georg Friedrich ist für diese Rolle phänomenal gut geeignet. Sein Markenzeichen ist schließlich jenes des breiten Wiener Slangs, das so klingt, als wäre der alte Hase des österreichischen Films immer noch lieber ein Laiendarsteller, der tatsächlich erlebt, was er spielt und nicht spielt, was er erlebt. Anfangs mag das unfreiwillig komisch wirken, doch Friedrich ist eben Friedrich – und liefert im Laufe des Films eine fast nur in brüchigem Rumänisch gehaltene Performance ab, die durch Seidls fokussierte Regie vorurteilsfrei und glaubhaft bleibt. Sein innerer Kampf ist großes Schauspielkino, die Interaktion mit den Kindern voller Zuneigung, stets respektvoll und nie einen Schritt zu weit. Sparta ist ein Balanceakt, und er hält sich bis zuletzt in beeindruckendem Gleichgewicht, ohne Friedrich zum Täter und die Kinder zu Opfern werden zu lassen. Wenngleich sie von vornherein schon welche sind – nämlich die ihres eigenen sozialen Umfelds.

Sparta (2022)

Rimini (2022)

ENTERTAINMENT FÜR DIE AUSRANGIERTEN

6,5/10


rimini© 2022 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND, FRANKREICH 2022

REGIE: ULRICH SEIDL

BUCH: ULRICH SEIDL, VERONIKA FRANZ

CAST: MICHAEL THOMAS, TESSA GÖTTLICHER, HANS-MICHAEL REHBERG, CLAUDIA MARTINI, INGE MAUX, GEORG FRIEDRICH U. A.

LÄNGE: 1 STD 56 MIN


Ungefähr so könnten die Karrieren von Roy Black oder Gildo Rex zu Ende gegangen sein, bevor sie sich selbst ein Ende setzten. Mit Auftritten bei Möbelhauseröffnungen, Kaffeefahrten oder Tombolas irgendwo in der Mehrzweckhalle eines Pensionistenheims (nichts für ungut). Dass jeder Mensch, der sich dafür begeistern kann, es wert ist, vor ihm zu singen, sollte Performance-Künstlern wie Musikern und Sängern eigentlich klar sein, doch ist die Diskrepanz zwischen verschwenderischen Ruhmeszeiten und dem Zustand, wo sich kaum jemand noch nach dem Star von einst umdreht, viel zu groß, um resilient genug dafür zu sein. Der wohl polarisierendste Filmemacher Österreichs, Ulrich Seidl, hat sich mit Rimini dieser verhaltenen Götterdämmerung eines ehemaligen Bauchbinden-Toreros angenommen, um einen Blick auf die ausleiernden Mechanismen von Erfolg und einem damit einhergehenden Lebensglück zu werfen.

Glücklich sind seine Figuren meistens nicht. Ganz im Gegenteil. Doch es kann leicht sein, dass diese sich selbst zu einer Zwangsbeglückung verhelfen, die aus unbefriedigendem Sex, viel Alkohol und einem Seehundfellmantel bestehen, den zumindest Richie Bravo stehts über seinem Feinripp trägt, um in der Kälte von Italiens Badeort Rimini nicht zu erfrieren. Da fragt man sich natürlich: Wie jetzt? Bella Italia und Frost? Natürlich existieren diese beliebten Destinationen für Frau und Herr Österreicher auch außerhalb der Saison. Da die Hotels alle leer stehen, bieten zumindest manche Reiseveranstalter für die Zielgruppe 60+ spottbillige Ausflüge an, deren Highlights sich zur Vorabendzeit auf die Bühne des Speisesaals wuchten. Diese personifizierte Sternstunde der Schlagermusik ist Michael Thomas, stimmgewaltig und aufgesetzt charmant. Als nicht von allen vergessener Reserve-Udo Jürgens lässt er die Herzen reiferer Damen hoher schlagen und sich für manchen weiblichen Groupie auch bezahlen, der ihn gerne textilfrei sehen möchte. Ja, es gibt sie noch, die wirklichen Fans, unter anderem Inge Maux als promiskuitive Wuchtbrumme, die sich für Richie Bravo sogar zu einem Blow Job hinreissen lässt.

Womit wir wieder bei Seidls Vorliebe für ungeschönten Amateur-Sex wären, die sich in seinen Werken mal mehr, mal weniger bizarr präsentiert. Diesmal haben seine Intimitäten gar etwas Verletzliches, weniger Brutales, obwohl gefällige Schönheitsideale bewusst konterkariert werden, um dem Reality-Charakter zu entsprechen, der zumindest Rimini den Anschein verleiht, wir hätten es mit einer Wahrheit ohne Knautschzone zu tun. Das aber könnte ein Trugschluss sein. Die Geschichte spinnt sich zwar weiter, indem Richie Bravos verschollene Tochter auftaucht und Wiedergutmachung verlangt für alle die Jahre, in denen der Schnulzenkönig kein Geld hat springen lassen – dennoch verharrt Seidl in einer subjektiv empfundenen Zeitlosigkeit und beobachtet seinen immer wieder auf- und abgeisternden Vagabunden im Pelz, der unter einem Glassturz eine Welt auf dem Abstellgleis erkundet und an Orte gelangt, die er zwar kennt, die ihm aber Vertrautes aus früheren Zeiten zurückgeben.

Rimini ist längst impressionistisches Erwachsenenkino mit symbolischem Installationscharakter. Wenn Michael Thomas eiligen Schrittes in akkuraten Tableaus, die eine Art Endzeit imitieren, an Wind und Wetter ausgesetzten, afrikanischen Flüchtlingen vorbeiläuft, ohne sie eines Blickes zu würdigen, ist es so, als wären diese Menschen zu Stein erstarrt, als wären sie Skulpturen des Erinnerns, wie sehr hier Bedürfnisse ihren Wert verlieren. Das hat eine ganze eigene Atmosphäre, da gelingt Seidl tatsächlich so etwas wie eine ironische, selten sarkastische Sicht auf einen irreparablen Status Quo, der ganz am Ende auf tragikomische Weise wieder (und vielleicht gar eine neue) Ordnung schafft, nicht ohne ernüchternde Resignation.

Rimini (2022)

Sonne (2022)

ZEITVERTREIB MIT R.E.M.

5,5/10


sonne© 2022 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2022

BUCH / REGIE: KURDWIN AYUB

PRODUKTION: ULRICH SEIDL

CAST: MELINA BENLI, LAW WALLNER, MAYA WOPIENKA, THOMAS MOMCINOVIC, MARLENE HAUSER, MARGARETHE TIESEL U. A. 

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Hätte Universal Music den Welthit von Michael Stipe und Band nicht mit Freundlichkeit genehmigt, hätte dieses Langfilmdebüt von Kurdwin Ayub wohl den eigentlichen Star des Jugenddramas verloren: Losing My Religion erschallt in sämtlichen Variationen an irgendwelchen Orten in der goldenen Wienerstadt, in welcher Kulturen und Gesinnungen in einer wilden Mixtur und sich gegenseitig duldend koexistieren. Den Song hört man, ausbaufähig interpretiert von drei Maturantinnen, an kurdischen Festen oder aus dem Zimmer von Yesmin – sogar auf einer Hochzeit findet R.E.M.s zeitlose Nummer begeisterten Applaus – obwohl die Lyrics nicht gerade dafür geeignet sind, eine neue Verbindung zu feiern. Genauso wenig ist dieser Song dafür geeignet, wenn eine Muslimin gemeinsam mit ihren beiden Freundinnen, die anderer Konfession sind, sich aber dennoch in den Hidschāb werfen, einfach so zum Spaß einen auf Karaoke ohne Textablesen macht. Gut, es klingt ganz nett, andererseits aber auch wenig kraftvoll. Dafür lässt das bald auf Youtube gepostete Video einige gestalterische Raffinessen sehen – und wird ganz plötzlich zum Hit. Jetzt sind es nicht nur Yesmin, Nati und Bella, die sogar von Yesmins kurdischem Vater bewundert werden, sondern auch viele andere junge Leute, die sich zum Gesang hinreißen lassen – sei es nun im traditionellen Gewand islamischer Kultur oder eben nicht.

Während Yesmin also damit zu kämpfen hat, dass sie von ihren Freundinnen die Einzige ist, die diesen Stoff tagtäglich übers Haupt ziehen muss, geht ihr jüngerer Bruder ganz andere Wege, und zwar jene ohne Ziel und Verstand, die darauf hinauslaufen, dass dieser bald von der Polizei gesucht wird. Tja, und sonst? Sonst bietet Sonne einen ungeschönten, ungeschminkten und sehr direkten Blick auf eine Generation, die das Ende des Alphabets erreicht hat, ihren Platz in der Welt aber nicht definieren, geschweige denn ihre Wünsche und Träume artikulieren kann. In diesem Vakuum der Langeweile, des Sinnsuchens ohne Anhaltspunkte und des Abhängens auf Festivitäten köcheln so einige Impulse vor sich hin, die vielleicht aufgegriffen werden oder auch nicht. Oder gegen stereotypische Verhaltensmuster eingetauscht werden, die wohl eher die Generation Clueless vertreten, wenn Social-Media-Gadgets wie Elfenohren und Broccoli für kurze, aber schnell vergängliche Spaßmomente sorgen, die keine Nachhaltigkeit besitzen.

Kurdwin Ayub, geboren im Irak und in Wien nach der Flucht ihrer Familie aufgewachsen, verdient für ihren ersten Langfilm jedenfalls Respekt. Als selbst verfasstes Zeitportrait zwischen Smartphone-Displays und dem nachdenklichen Blicken von Hauptdarstellerin Melina Benli (von der wir wahrscheinlich noch viel mehr sehen werden, denn die Dame hat Talent) ist es sicher nicht einfach, hier die nötige Balance zu finden, um nicht nur auf Symptom-Ebene einen Zustand abzulichten – mit allerlei Klischees eben, die diese Altersgruppe plakatieren. Unterstützt von Ulrich Seidl, der seit jeher österreichische Befindlichkeiten mit hartem Realismus peitscht, folgt sie dann doch – und leider zu oft – den Empfehlungen des Maestros, anstatt sich davon loszulösen.

Für den eigenen Stil braucht es natürlich Zeit. Mal sehen, wie sie ihren zweiten Spielfilm Mond auslegen wird. In Sonne allerdings tritt die Geschichte auf der Stelle, setzt sich unentschlossen mit der muslimischen Jugendkultur auseinander, ohne tiefer in der Materie zu stochern und begnügt sich am Ende mit banalen Elementen gängiger Mädchenfilme, obwohl so manche – und vor allem eine – Wendung im Film viel mehr Aufmerksamkeit verdient hätte als Ayub ihr letztlich gegeben hat. Abgelenkt vom Schnickschnack diverser Smartphone-Apps, verliert sie den Kern der Geschichte immer mal wieder aus den Augen.

Sonne (2022)