Acid (2023)

AM TAG, ALS DER REGEN KAM

6/10


acid© 2023 Plaion Films


LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2023

REGIE: JUST PHILIPPOT

DREHBUCH: JUST PHILIPPOT, YACINE BADDAY

CAST: GUILLAUME CANET, LAETITIA DOSCH, PATIENCE MUNCHENBACH, MARIE JUNG, MARTIN VERSET, VALENTIJN DHAENENS, NICOLAS DELYS U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Manche Filme brauchen wirklich eine kleine Ewigkeit, um nach ihrer Festivalpremiere irgendwo einsehbar zu sein, findet das nun On Demand, auf DVD oder im Programm eines anderen Festivals statt. Der französische Wetterhorror Acid hat sich seit den Filmfestspielen in Cannes letzten Jahres knapp einen Sonnenumlauf lang durch die Untiefen filmischer Verwertungswelten gequält, um letztlich noch einmal einen Termin auf großer Leinwand zu ergattern, in diesem Fall im Rahmen der frühsommerlichen Slash ½ Festspieltage, die schon ordentlich Gusto machen sollten auf das große Rambazamba im kommenden September, wo für zehn Tage wieder mal alles Phantastische, Schräge und Bizarre fröhliche Urstände feiern darf. Acid wird, so ein Verdacht, ohne rechte Auswertung vom Kultursender Arte stiefmütterlich aufgenommen werden und im Nachtprogramm verschwinden – dabei bohrt das Werk in den offenen Wunden eines Klimawahnsinns, der uns Stürme, Dürren, Überschwemmungen und Gletscherschmelzen beschert. Gerade eben versinken Teile Brasiliens und Afghanistans im Regen, in Sumatra brechen Schlammlawinen sämtliche Türen ein. Wie es scheint, steht uns wieder ein bahnbrechend heißer Sommer bevor, in dem man nur schwer atmen kann, wenn man vor die Tür geht. Von so einer Affenhitze ist auch in Acid die Rede, und das Erschreckende dabei: Diese Temperaturen versengen bereits den knackfrischen Frühlingsmonat März. Das ganze Szenario wäre ohnehin schrecklich genug, wäre der im wahrsten Sinne des Wortes heiß ersehnte kühlende Niederschlag nicht einer, der alles vernichtet.

Wir erinnern uns gerne noch an Ridley Scotts Weltraumhorror Alien und den auf dem Raumfrachter Nostromo befindlichen Wüterich, dessen Blut sich als Säure durch die Ebenen des Schiffes frisst. Nimmt man diese toxische Anomalie und potenziert sie auf die Größe eines kontinentalen Wetterphänomens, wird das hierzulande gern verwendete geflügelte Wort „I bin ja nicht aus Zucker“, welches eigentlich den Mut des Kleinbürgers veranschaulichen sollte, völlig schirmlos in den Regen hinauszugehen, nochmal gründlich hinterfragt. Denn in Acid läuft alles Organische und Anorganische plötzlich Gefahr, auf Nullkommanichts zersetzt zu werden, so sauer scheint der bedrohlich dunkelgraue Himmel auf all das zu sein, was darunter um sein Leben rennt. Als wäre das alles ein gebündelter Zorn der Götter, eine letzte biblische Plage, so lässt der Niederschlag nichts und niemanden unberührt. Inmitten dieser landesweiten Katastrophe suchen Guillaume Canet und seine Familie Schutz vor den gefräßigen Zombietropfen, die Mauerwerk zerbröckeln und Karosserien blitzartig erodieren lassen. Es zischt und dampft und zersetzt sich der Boden, die nachvollziehbare Wirksamkeit der tödlichen Säure für all jene, die im geschützten Auditorium im Trockenen sitzen, garantiert Regisseur und Drehbuchautor Just Philippot mit dezent eingesetzter CGI.

Von einem Desastermovie, wie sie Roland Emmerich zum Beispiel mit seinem winterharten The Day After Tomorrow gerne auf die breite Leinwand wuchtet, ist Acid aber weit entfernt. Während Emmerich den unkaputtbaren Glauben an familiären Zusammenhalt und das Überleben der idealisierten Familie hochhält, liegt Philippot nichts daran, seinen Survivalhorror einer geschmeidigen Zuversicht unterzuordnen. Acid gerät zum ernüchternden und weitestgehend recht resignierenden Niederschlags-Nihilismus. Opfer werden gebracht, die, legt man Wert auf unantastbare Gesetzmäßigkeiten, gar nicht passieren dürften. Zumindest nicht so, wie sie Philippot in recht explizierter Schrecklichkeit den verheerenden Unwirtlichkeiten aussetzt. Vielleicht liegt in dieser wenig zimperlichen Radikalität, in welcher Mama, Papa und Tochter ins Trockene hechten, gar so etwas wie die Lust an der bleischweren Überzeichnung. Ob Niederschlag jemals einen derartigen Säuregrad erreichen könnte, um einen ganzen Kontinent wegzuätzen, mag diskussionswürdig sein. Doch wie bei Emmerich, der sich um zeitlich akkurate Abfolgen von Wetterumschwüngen auch nicht recht geschert hat, mag Philippot lieber den völlig unplausiblen Worst Case als gegeben hinnehmen wollen. Denn nur mit überspitzten Darstellungen einer hoffnungslos ruinierten Welt lässt sich die kinoaffine Menschheit vielleicht wachrütteln. Andererseits: Auf diese Weise muss sich Acid die Kritik gefallen lassen, in einer gewissen Monotonie zu schwelgen. Das allein schon das Kolorit des Films stets in ermüdendem regennassen Grau für kraftlose Längen sorgt, wird nur noch bestärkt durch einen wie bei Katastrophenfilmen eben so üblichen dünnen Plot, der nichts anderes im Sinn hat, als seine Protagonisten von Pontius zu Pilatus zu schicken. Wirklich raffiniert wird Acid nie, der Film zeigt lediglich und völlig aus der Luft gegriffen, wie schlimm es werden kann. Lustig ist das nicht, spektakulär eigentlich auch nicht, und nicht mal das Bröckeln ganzer Betonbrücken feiert das Genre eines europäischen Blockbusterkino. Der Kampf ums Überleben geht im deprimierenden Prasseln eines kataklystischen Regens unter, Schlechtwetter sorgt für schlechte Stimmung, der erfrischende Wind, der den Film in eine andere Richtung geblasen hätte, bleibt aus.

Acid ist schwarzseherischer Ökohorror, radikal und ungefällig, was man dem Film zugutehalten kann. Andererseits tritt der Trübsinn auf der Stelle, das Drama bläht sich auf, und zieht der Regen mal weiter, freut sich niemand auf den Sonnenschein, der stets danach folgt.

Acid (2023)

Girl

I AM WHAT I ´M NOT

7,5/10

 

girl© 2018 Menuet

 

LAND: BELGIEN 2018

REGIE: LUKAS DHONT

CAST: VICTOR POLSTER, ARIEH WORTHALTER, VALENTIJN DHAENENS U. A. 

 

Die Regenbogenparade wird heuer leider ausfallen, der Live Ball sowieso, denn den gibt es nicht mehr. Dass beides aber prinzipiell möglich wäre und in unserer Verfassung nicht verboten ist, dass sogar gleichgeschlechtliche Ehen möglich sind und sich Homosexuelle nicht zu verstecken brauchen, ist lobenswert, sollte aber ohnehin selbstverständlich sein. Ist man homosexuell, so stößt man zumindest hierzulande oder in Staaten mit höherer Bildung und einer offenen Demokratie mal prinzipiell nicht auf Schwierigkeiten. Richtig schwierig wird es aber dann, wenn es gar nicht mal vorrangig um sexuelle Orientierung geht, sondern darum, im falschen Körper zu sein: zum Beispiel Männer, die sich als Frau fühlen und auch so leben wollen. Dabei reicht es einfach nicht, nur feminine Kleidung zu tragen. Der Körper selbst muss zu einer Frau gehören. Wir erinnern uns an Eddie Redmayne. Im Künstlerdrama The Danish Girl verkörpert der Oscar-Preisträger den Maler Einar Wegener, der sich in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts als erster Mensch einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat. Damals völliges Neuland, unerprobt und höchst riskant. Eine Operation in zwei Teilen, wobei die erste gut verlief, die zweite jedoch tödlich. Mittlerweile geht das ganze natürlich besser. Und ein Mann kann tatsächlich zur Frau werden.

Eine ungefähre Antwort auf dieses historische Biopic hat sich das Filmland Belgien zurechtgelegt, aus dem es relativ wenige Lebenszeichen gibt, wenn es um laufende Bilder geht. Dieses Lebenszeichen aber ist garantiert nicht zu übersehen. Unter der Regie von Lukas Dhont ist ein Coming of Age-Drama entstanden, dass nicht nur die Tücken des Erwachsenwerdens als Halbwaise und den Ehrgeiz einer Ballerina beim Erlernen des Spitzentanzes dokumentiert, sondern auch ganz intensiv und völlig unvoreingenommen die Psychologie eines Jungen skizziert, der unbedingt, um alles in der Welt und am besten gestern als Frau verstanden werden will. Dieser Junge aber, dieser androgyne Teenager namens Victor Polster, ist eine schauspielerische Offenbarung. Wüsste man nicht, dass es sich bei diesem Mädchen namens Lara eigentlich um einen jungen Mann handelt – man würde es noch viel weniger glauben als bei Eddie Redmayne, obwohl selbst der schon als Frau überzeugend war. Da Polster, eigentlich Tänzer, mit diesem Film als Schauspieler völliges Neuland betreten hat, und eigentlich durch Zufall von Regisseur Dhont entdeckt und für den Film gewonnen wurde, lässt sich sein Gesicht nirgendwo anders zuordnen. Lange blonde Haare, ein charmantes Lächeln. der Blick: unsicher, vorsichtig, manchmal aber auch willensstark. Den Willen allerdings braucht Lara. um diesen Wandel zu einer neuen Identität mit letzter Konsequenz durchzubringen. Zwischendurch hat man den Verdacht, Lara würde mit ihrem Schicksal hadern. Woran das Ganze aber fast scheitert, ist die Ungeduld und der fast schon selbstkasteiende Anspruch, in für alle anderen überzeugender Perfektion dieser neue andere Mensch zu sein. Dieses Streben nach geschlechtlicher Perfektion spiegelt sich auch in der Kunst des erwähnten Spitzentanzes, der beinhartes Training erfordert, und dessen Erlernen ungefähr genauso verlockend erscheint wie in Black Swan. Blutige Zehen, ausgemergelte Körper. Drill und physische Disziplin. Warum sich so etwas antun? Da muss was anderes dahinter stecken, etwas Tieferliegendes, Psychologisches. Bei Lara ist es sonnenklar.

So viel Fingerspitzengefühl für ein Thema wie dieses muss ein Filmemacher erst aufbringen. Girl ist ein behutsames, ungemein einfühlsames und dank Victor Polsters nuanciertes Spiel ein höchstgradig überzeugendes Psycho- und Sexualdrama, welches die Notlage eines Transgender in all seiner Dringlichkeit erfasst und bis zur letzten verzweifelten Maßnahme schreitet, ohne plakativ zu werden. Ein schmerzhafter, irreversibler Schritt in ein neues Leben, glaubhaft geschrieben und erstaunlich gut gespielt.

Girl