Trees of Peace

ESCAPE ROOM IM GENOZID

5/10


treeofpeace© 2022 Netflix


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: ALANNA BROWN

CAST: ELIANE UMUHIRE, CHARMAINE BINGWA, ELLA CANNON, BOLA KOLEOSHO, TONGAYI CHIRISA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 37 MIN


Das systematische Töten von bis zu einer Million Menschen von April bis Juli des Jahres 1994 zählt zu den schlimmsten Verbrechen, die Menschen einander antun können. Natürlich – systematische Säuberungen gab es andernorts auch, so gesehen in Kambodscha oder Serbien. In Ruanda aber ist passiert, was niemand jemals vermutet hätte und was diese Abscheulichkeiten in einem noch schrecklicheren Licht zeigt: Die Bereitschaft ganz normaler, rechtschaffener Menschen, langjährige Freunde, Familienmitglieder und Kinder einfach dahinzuschlachten. Und das nicht nur aus Zugzwang. Der knochenharte Horror steckt hier im vorsätzlichen Tun und im plötzlichen Verrat an Werten und Gewissen.

Angesichts dieser Tragödie bleiben Filmreihen wie The Purge zynisches Entertainment. Wenn so etwas tatsächlich passiert, lässt sich das kaum verfilmen. Umso dringender Ruandas Motivation, das Trauma sofort aufzuarbeiten. Filme wie Hotel Ruanda, Sometimes in April oder Trees of Peace tragen mitunter dazu bei, sich proaktiv neuen Ufern zuzuwenden – weil niemand wegsehen oder so tun will, als wäre er nicht dabei gewesen.

In Trees of Peace ist das Grauen – so wie in Stefan Ruzowitzkys Die Fälscher – vorwiegend indirekt wahrzunehmen. Doch das macht der Intensität keinen Abbruch. Das Flehen, Schreien und Metzeln ist nicht zu überhören, wenngleich dosiert genug, damit einem nicht übel wird. Den vier Frauen, die sich in einem gerade mal 2x2m großen Kellerloch fast 3 Monate lang versteckt halten, fordert die Angst ums Überleben so gut wie alles ab. Es sitzen sich eine schwangere Hutu namens Annick, welcher der Keller des Hauses gehört, ein Tutsi-Mädchen, eine Tutsi-Nonne und eine Amerikanerin gegenüber. Sie harren und warten und bangen. Ab und an kommt Annicks Ehemann vorbei und bringt Nahrung. Der Zugang zum Keller lässt sich nur von außen öffnen, die vier Frauen sind vorübergehend lebendig begraben, haben nur ein kleines Fenster, vor welchen sich ab und an fürchterliche Dramen abspielen. Und jede der hier Anwesenden trägt zusätzlich noch seinen eigenen erlebten Schrecken aus Kindheit und Alltag mit sich herum, der in diesem Genozid die Chance sieht, die Resilienz jeder einzelnen der Eingesperrten auf die Probe zu stellen.  

Autorenfilmerin Alanna Brown hat hier zwar keinen Film auf wahren Begebenheiten inszeniert, bezieht sich aber auf ähnliche Berichte vieler Überlebender, die Dank eines ähnlich guten Verstecks wie diesem der Hinrichtung entgehen konnten. Mir fällt hier unweigerlich Anne Frank und ihre Familie ein, die dieses Glück leider nicht hatten und denunziert wurden. Leicht hätte es diesen vier Frauen ebenso ergehen können, doch Browns Film will Hoffnung schöpfen und nicht nehmen. Eine noble Sache, da kann ich nichts dagegen sagen – andererseits aber erhält das durchaus gewagt angelegte Survival-Kammerspiel trotz all der vermittelten, schwer erträglichen Gewalt einen frommen, geradezu phrasenhaften Idealismus, der manchmal recht dick aufträgt. Im Gegensatz dazu nimmt sich Alanna Brown mit ihrem Konzept der konsequenten Isolation, die sie kaum durchbricht, einige inszenatorische Möglichkeiten. Sie hätte wohl vorgehabt, ihre vier Protagonistinnen wahrhaftig an ihre Grenzen gehen zu lassen – stattdessen bleiben die Konflikte nicht auserzählt, die Dialoge beschwichtigend, das Gute im Menschen auf Abruf verfügbar.

Die Geschichte, um die es hier geht, bleibt in seiner Unfassbarkeit, ganz so wie der Holocaust, ein niemals wegtherapierbares schwarzes Loch. Am Ereignishorizont lässt es sich gerade mal innehalten. Trees of Peace bleibt dort in seiner Zeitkapsel auf Warteposition, ist gut gemeint und sicher auch aufrichtig – überbrücken kann Brown die spielfilmlange Laufzeit lediglich mit wiederkehrenden Motiven und wenig erhellenden Erkenntnissen.

Trees of Peace

I, Tonya

DREIFACHER AXEL AUF DÜNNEM EIS

7/10

 

I_Tonya© 2018 DCM

 

LAND: USA 2017

REGIE: CRAIG GILLESPIE

MIT MARGOT ROBBIE, SEBASTIAN STAN, ALLISON JANNEY, MCKENNA GRACE U. A.

 

Lillehammer 1994 – nur in Bruchstücken kann ich mich an jene Ausgabe der Olympischen Winterspiele erinnern. Woran ich mich wirklich erinnern kann, ist Katharina Witt – warum auch immer. Und tatsächlich sieht man die Eiskunstläuferin in Craig Gillespie´s True-Story-Farce zumindest eine Sekunde lang auf einer einmontierten Archivaufnahme. Das ist dann aber auch schon der einzige persönliche Bezug zu zeitnahen, realen Ereignissen – und ich weiß nicht, ob der ganze Skandal rund um Tonya Harding auch wirklich bis in die Medienlandschaft Österreichs so flächendeckend vorgedrungen ist. Das war wohl nur Sportinteressierten bekannt. Da kenn ich in meinem Bekanntenkreis so einige, und die gelten sowieso längst als fixer Telefonjoker für einen möglichen Auftritt in der Millionenshow. Die würden auch wissen, ohne I, Tonya gesehen zu haben, womit diese junge Dame damals in Verbindung gebracht wurde – mit dem vor Gericht ausgefochtenem Vorwurf, eine Konkurrentin mithilfe von grenzdebilen Schlägertypen per Schlagstock außer Gefecht gesetzt zu haben. Also zumindest das Knie von Nancy Kerrigan. Was Kerrigan´s Karriere letzten Endes zumindest bis Lillehammer glücklicherweise nicht wirklich geschadet hat, der Karriere von Tonya Harding allerdings schon.

Dabei kommt die in Intervallen des Ehrgeizes aufblühende Blondine völlig unverschuldet zum Handkuss. Das beteuert sie jedenfalls. Also das beteuert Margot Robbie, in Gestalt einer gesetzten, in den zynischen Winkel gedrängte Tonya, die ein fiktives Interview gibt. Und nicht nur sie kommt zu Wort – auch ihr Liebhaber, ihr größenwahnsinniger Bodyguard (so einen Bodyguard habt ihr noch nicht gesehen) und die Schreckschraube namens Mutter, die stets betont, ihrem unfähigen Kind die größte Mutterliebe überhaupt zugestanden zu haben. Allison Janney spielt das verknöcherte Hassobjekt mit Hingabe. Außer Flüchen, Drill und Liebesentzug hat die kettenrauchende Matrone für ihre Tochter sichtlich nichts übrig. Vertrauensvorschuss an der Kassa. Da kann man sich als Kind entweder völlig zurückziehen und sich selbst als wertlos empfinden – oder man trotzt der dauerbeschallenden Demotivation und zeigt, was in einem steckt. Harding hat das versucht. Ohne aber die Rechnung mit ihrem Ehemann zu machen. Der schnauzbärtige Schlägertyp lässt sich mit dem hübschen Sportsternchen Tonya auf eine Never Ending Lovestory ein – im Grunde auf eine ähnliche Hassliebe wie jene mit der alles in den Dreck ziehenden Übermutter. Auf Blutergüssen folgt traute Zweisamkeit. Eine Amour fou, die schon ziemlich bezeichnend ist für ein Leben, das letzten Endes zum Scheitern verurteilt sein muss. Da reißt auch ein dreifacher Axel nur kurzzeitig das Leben der im Grunde ehrgeizigen Sportlerin aus dem verkorksten Alltag. Weil man nur so kann, wie die anderen wollen. Und Harding kann wieder mal nichts dafür.

Ein Biopic rund um ein Attentat im Schlittschuhmilieu – das ist normalerweise ein Plot, den Studios dahergelaufenen Filmemachern und Drehbuchautoren nachschmeißen müssten. Nicht aber, wenn solch eine auf den ersten Blick schale Geschichte dermaßen pfiffig aufbereitet wird. Da sieht man wieder, dass die Faszination eines Stoffes, der nur bedingt was hergeben kann, davon abhängt, wie man ihn erzählt. Autor Steven Rogers hat ein Musterbeispiel dafür abgeliefert, wie biografische Puzzleteile zu einem schnittigen Ganzen komponiert werden können. Aus der Chronik eines Scheiterns lassen sich Filme wie The Wrestler machen – tristes Sozialdrama, autoaggressive Lebensüberdrüssigkeit. Oder Filme wie I, Tonya. Realsatire, aufbereitet wie eine Episode Gossip-TV. Eine semidokumentarische Ironie des Schicksals, so absurd, man glaubt es kaum. Craig Gillespie (Lars und die Frauen) schaltet niemals auf resignierendes Pathos. Margot Robbie´s Interpretation von Tonya Harding ist aufmüpfig, trotzig, durchaus jammernd und unschuldig an allem – womöglich ist das aber der einzige Selbstschutz, den Robbie ihrer Tonya gewährt – und der sich ausnehmend glaubhaft einsetzen lässt. Die Harley Quinn des DC-Universums ist auch ohne Baseballschläger, dafür aber mit scharfkantigen Schlittschuhen eine Haudrauf-Person, die sich in Wahrheit immer nur selbst schlagen lässt. Von jenen, deren sporadische Nähe alle Entbehrungen vergessen lässt. Ein gelungenes Portrait, und nicht weniger gelungen Sebastian Stan und Allison Janney, herrlich garstig und eigennützig um das Geheimnis eines Erfolges ringend, dass sie selber nie haben werden.

Zwischen gefakten Fernsehinterviews und Spielszenen sorgt dieses Beispiel, wie sehr man dem Undank des Lebens trotzen kann, für kopfschüttelndes Staunen und seltsam schadenfroher Neugier. I, Tonya unterhält dort, wo es eigentlich nichts zu lachen gibt. Eine eisglatte, unerhörte Satire, teils frei erfunden, und trotzdem nah am Leben. Ein Film wie ein Sturz auf dem Eis. Es schmerzt, man rappelt sich auf – und lächelt. Und bestenfalls ist nichts gebrochen.

I, Tonya