Napoleon (2023)

EUROPA IM SCHATTEN DES ZWEISPITZ

8/10


Napoleon© 2023 Apple TV+


LAND / JAHR: USA, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: RIDLEY SCOTT

DREHBUCH: DAVID SCARPA

CAST: JOAQUIN PHOENIX, VANESSA KIRBY, TAHAR RAHIM, LUDIVINE SAGNIER, IAN MCNEICE, RUPERT EVERETT, BEN MILES, PAUL RHYS, ERIN AINSWORTH, SAM TROUGHTON, JANNIS NIEWÖHNER U. A.

LÄNGE: 2 STD 38 MIN


Würde man eine weltweite Umfrage starten mit dem Ziel, herauszufinden, welche Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte wohl am geläufigsten sind, dann wäre neben Adolf Hitler, Julius Cäsar und vielleicht noch Kleopatra natürlich Napoleon mit dabei. Vielleicht auch deswegen, weil dieser Merkmale an sich trägt, die unverwechselbar sind: kleine, gedrungene Statur, fransiges Haar, darüber stets ein Zweispitz, den er vermutlich nur zum Schlafen abgelegt hat. Die rechte Hand steckt dabei im Gewand, eine klassische Geste. Der in Korsika geborene Feldherr wird zum Lehrmeister vieler kommender Strategen, es ist eine Mischung aus Bauernschläue, Scharfsinn und jovialer Bärbeißigkeit, die ihn mit allen übrigen Regenten des europäischen Kontinents zum Handshake verhalf und auch gegen diese antreten ließ. Dieser Wicht mit Wirkung, dieser politische Glückspilz, der sich selbst zum Kaiser von Frankreich krönen ließ, darf nun, unter der Regie von Ridley Scott, nochmal in bester Risiko-Manier von West nach Ost über Europa fegen. Und ehrlich: Wer sonst hätte sein Wirken noch verfilmen können? Vielleicht Stanley Kubrick. Dieser hatte schließlich schon Sämtliches an Material zusammengetragen, und es wäre auch nach Eyes Wide Shut vermutlich sein nächstes Projekt gewesen. Hätte er wohl Joaquin Phoenix in der engeren Auswahl gehabt? Könnte sein.

Der Oscarpreisträger – diesmal nicht so abgemagert wie als Joker, sondern als untersetzter, dreister Tausendsassa – trägt von Anfang bis zum Ende die Miene eines hasardierenden Pragmatikers (sofern dies überhaupt zusammengeht). Ridley Scott veredelt ihn mit seinem Zweispitz, wo es nur geht. Es sind die Schattenrisse, es sind die Blicke hinter seinem Rücken nach vorn, wenn er bei der Drei-Kaiser-Schlacht bei Austerlitz oder letzten Endes bei Waterloo die Szene betritt und sich aus seinem Unterstand schält, meist in grauem Mantel. Er braucht nur die Hand zu heben, schon donnern die Kanonen. Irgendwann reicht ein kaum merkbares Nicken – und die Armee versteht.

Um eine ganze europäische Epoche unter einen Filzhut zu bekommen, dazu braucht es Zeit. Viel Zeit. Denn es ist ja nicht nichts, was hier alles geschieht, seit Marie Antoinette ihren Kopf verloren hat. Allerhand spielt sich da ab, Staatsstreiche und Tumulte, Umstürze und jede Menge Schlachten. Das alles will seinen Platz in einem Film fürs Auge finden. Und soll gleichermaßen dazu bewegen, dem dadurch erwachten Interesse an Geschichte später ganz von selbst nachzugehen. Es wäre verlorene Liebesmüh gewesen, hätte Scott den Film in ganzer Länge ins Kino gebracht. Kolportiert ist diese mit über vier Stunden – um die Säle zu füllen, sind es nun zweieinhalb, und selbst da hat man schon das Gefühl, angesichts der Fülle weltbewegender Eckdaten alles schon konsumiert zu haben. Hat sich Scott da nicht etwas übernommen? Wäre eine Miniserie nicht besser gewesen? Nein. Denn Napoleon gehört auf die große Leinwand. Niemand anderer kann Schlachten so dermaßen mitreißend inszenieren wie er. Bei niemandem sonst wird Geschichte zum massentauglichen Großevent. Mit der Darstellung der Schlacht bei Austerlitz sprengt Scott wieder mal alles bisher Dagewesene. So und nicht anders muss das gewesen sein, denkt man sich – vermengt mit allerlei Pathos, historischer Verklärung und als lebendig gewordenenes Ölgemälde.

Diesen zweieinhalb Stunden merkt man an, dass sie geschnitten sind. Doch was soll man sonst tun, außer zu kürzen. Zwischen der Herrschaft als Konsul und der Krönung zum Kaiser fehlt schon mal so einiges, und auch die Schlacht bei Waterloo lässt einige Fakten außen vor. Vielleicht finden wir diese dann später auf Apple+. Mit ziemlicher Sicherheit gehen die biographischen Aspekte  Napoleons dadurch um einiges tiefer. Denn mit Phoenix‘ Darstellung des Machtmenschen kann, muss man aber nicht zufrieden sein.

Warum Bonaparte tut, was er getan hat, bleibt ein Rätsel. Klar ist: Joséphine ist seine große Liebe, es drängt ihn nach einem Thronfolger, es zieht ihn höchstpersönlich immer wieder aufs Schlachtfeld. Wie er tickt, was er denkt – das alles bleibt popkulturelle Ikone, er selbst sein eigenes Merchandising. Phoenix, natürlich Meister seines Fachs, kann diesem gigantischen Ego, dieser Weltfigur, kaum Herr werden. Er begnügt sich mit einer konstanten Performance, die wenig Regung zeigt, sich kaum entwickelt, das Exil in St. Helena ähnlich hinnimmt wie den Befehl der französischen Regierung anno 1793, die Hafenstadt Toulon zu erobern. Im Vergleich dazu ist Vanessa Kirby die emotionale Kraft in diesem Film, wenn sonst nichts allzu Zwischenmenschliches bleibt, da die Eckpfeiler der Politik alles dominieren. Umso mehr nutzt Scott das private Glück und Elend eines Zweiergespanns, was manchmal zu sehr das Gleichgewicht zwischen Geschichtsgewitter und üppiger Romanze kippen lässtt.

Napoleon ist keine akkurate Chronik der Ereignisse. Vieles ist bekannt, vieles aber auch auf Entertainment gebürstet. Nichts anderes hat Ridley Scott jemals gemacht. Man siehe nur 1492, Königreich der Himmel oder Exodus. Seine Leidenschaft ist es, bewegte Bilderbücher zu kreieren, Schlachten nachzustellen, vergangene Zeiten in verschwenderischer Ausstattung und ohne Scheu vor Massenszenen zum Leben zu erwecken. Im Kino ist es so, als wäre man mittendrin, statt nur dabei. Es sind epische Momente, die man lange nicht vergisst. Sie erzeugen Gänsehaut und Respekt vor Legenden, die längst ihre realen Personen hinter sich gelassen haben. Wie es wirklich war, liest man besser nach. Beide gemeinsam aber, Film und Recherche, werden zum Erlebnis Geschichte.

Napoleon (2023)

Tetris (2023)

DIE SCHLACHT UM DEN KUCHEN

8/10


Tetris© 2023 Apple TV+


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN, USA 2023

REGIE: JON S. BAIRD

BUCH: NOAH PINK

CAST: TARON EGERTON, NIKITA JEFREMOW, TOBY JONES, ROGER ALLAM, ANTHONY BOYLE, TOGO IGAWA, KEN YAMAMURA, BEN MILES, SOFJA SERGEJEWNA LEBEDEVA, MATTHEW MARSH U. A. 

LÄNGE: 2 STD


Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie damals, Ende der Achtziger, der wohlhabendste Junge unserer Peer Group den Gameboy in Händen gehalten hat, kurz nachdem diese Wundertüte anfing, die Schaufenster zu dominieren. Wie sind wir nicht alle mit den Köpfen über dem kleinen Display gehangen und haben zugesehen, wie Super Mario, völlig farblos und in 8-Bit, über seine Hindernisse hopste. Wie haben wir uns dem Besitzer des staunenswerten Teils angebiedert, um auch mal, für fünf Minuten nur, das sagenumwobene Tetris zu spielen. Wer die Viererkette kleiner Quadrate formschön in die immer höher werdende Mauer einpassen konnte, war der Held schnellen Denkens und räumlicher Erfassungsgabe. Dieses Tetris – so simpel es auch anmutet, war ein Suchtfaktor sondergleichen. Und ist es auch heute noch. Einfach die Klötzchen zusammenbringen, immer und immer wieder. Keep it simple: Bei Spielen oberstes Gebot. Niemand will, dass sein Hirn raucht, aber jeder will, dass die Daumen rauchen, wenn die Tasten, die in alle Himmelsrichtungen gehen, richtig schön ausleiern vor lauter Beanspruchung.

So einfach und gleichsam genial Tetris auch sein mag – so konfus, verwirrend und komplex ist seine Entstehungsgeschichte. Damit will ich aber nicht sagen, dass der Weg zum Entwurf des Spiels damit gemeint ist, sondern viel mehr der lange Weg zu Marktfindung, sprich: Wer auf dieser großen weiten Welt des Entertainments hat am Ende des Tages den Zuschlag für die Rechte des Spiels ergattert?

Aha, es geht um Lizenzen. Da könnte einem das große Gähnen kommen. Wie kann ein Film funktionieren, der sich lediglich mit den wirtschaftlichen Aspekten eines Kultspiels beschäftigt? Kommt man da als Laie überhaupt mit? Und lässt sich so ein Film auch entsprechend aufpeppen, ohne die True Story zu verfälschen? So unmöglich es auch klingen mag, aus Tetris einen Film zu machen, so sehr beeindruckt das Ergebnis: Der auf Apple TV+ erschienene Origin-Streifen eines heißgeliebten Zeitvertreibs schafft es tatsächlich, als packende Polit- und Thrillerdramödie die Zeit vergehen zu lassen wie im Flug. Ganz so wie das Spiel selbst. Und schon ist Abend, und wir haben nichts anderes gemacht als Klötzchen einzupassen, damit fertige Zeilen verschwinden. Am besten gleich ganze Reihen auf einmal.

Taron Egerton, der mit seiner Darstellung des Skispringers Eddie the Eagle seine beste Performance gleich vom Start weg einsacken konnte, darf diesmal wieder als idealistischer Improvisateur mit der Eloquenz eines Saul Goodman ein Abenteuer meistern, dass auf den ersten Blick gar nicht mal ein solches verspricht. Und dennoch: Hier, in Tetris, erfahren wir innerhalb von vier Levels, die als Pixel-Intro erscheinen, wie der Software-Entwickler Henk Rogers eine Lücke im Lizenzsystem für Tetris entdeckt und in den Zeiten kommunistischer Supernovae in Moskau aufschlägt, um den Eigentümern des Spiels ein Angebot zu machen, dass sie nicht ablehnen können. Rogers setzt schließlich aufs große Pferd, genannt Gameboy. Da Handheld-Computer bislang noch nicht so salonfähig waren, ist das die Chance des Lebens, hier einzuhaken. Doch: In Russland sind Kapitalisten aus dem Westen nicht gern gesehen, dahinter steckt aus deren Sicht stets Spionage. Henk wird observiert und bedrängt. Nebenbei rücken auch Mirrorsoft unter dem Vorsitz von Robert Maxwell (der später in Konkurs gehen sollte) und der Lizenz-Unternehmer Robert Stein (herrlich verzweifelt: Toby Jones) an, um Rogers den Deal wegzuschnappen.

Bei Streamingriesen wie Netflix oder Apple TV+ haben Filmemacher viel mehr freie Hand als in der Studiobranche, die fürs Kino auswerten muss. Bei Filmen mit Streaming-Start, so scheint mir, geht es mehr um die Sache an sich als nur um Profit. So entstehen Filme wie Tetris, die sich an ihrem eigenen Thema brennend interessiert zeigen und auf jede weitere Szene selbst neugierig genug sind, um die Spannungskurve oben zu halten. Unterlegt mit dem eingängigen Soundtrack des Kultspiels in verschiedenen Stilinterpretationen, spendiert der sorgfältig komponierte True-Story-Mix reueloses Vergnügen in Sachen Profit, Gier und politischem Umbruch. Wie John S. Baird (u. a. Stan & Ollie) und Skriptautor Noah Pink (Genius) Zeitenwende, Techno-Revolution und kuriose Wirtschaft auf einen Nenner bringen, ist ein Balanceakt, der bis zum Abspann gelingt.

Tetris (2023)