Napoleon (2023)

EUROPA IM SCHATTEN DES ZWEISPITZ

8/10


Napoleon© 2023 Apple TV+


LAND / JAHR: USA, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: RIDLEY SCOTT

DREHBUCH: DAVID SCARPA

CAST: JOAQUIN PHOENIX, VANESSA KIRBY, TAHAR RAHIM, LUDIVINE SAGNIER, IAN MCNEICE, RUPERT EVERETT, BEN MILES, PAUL RHYS, ERIN AINSWORTH, SAM TROUGHTON, JANNIS NIEWÖHNER U. A.

LÄNGE: 2 STD 38 MIN


Würde man eine weltweite Umfrage starten mit dem Ziel, herauszufinden, welche Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte wohl am geläufigsten sind, dann wäre neben Adolf Hitler, Julius Cäsar und vielleicht noch Kleopatra natürlich Napoleon mit dabei. Vielleicht auch deswegen, weil dieser Merkmale an sich trägt, die unverwechselbar sind: kleine, gedrungene Statur, fransiges Haar, darüber stets ein Zweispitz, den er vermutlich nur zum Schlafen abgelegt hat. Die rechte Hand steckt dabei im Gewand, eine klassische Geste. Der in Korsika geborene Feldherr wird zum Lehrmeister vieler kommender Strategen, es ist eine Mischung aus Bauernschläue, Scharfsinn und jovialer Bärbeißigkeit, die ihn mit allen übrigen Regenten des europäischen Kontinents zum Handshake verhalf und auch gegen diese antreten ließ. Dieser Wicht mit Wirkung, dieser politische Glückspilz, der sich selbst zum Kaiser von Frankreich krönen ließ, darf nun, unter der Regie von Ridley Scott, nochmal in bester Risiko-Manier von West nach Ost über Europa fegen. Und ehrlich: Wer sonst hätte sein Wirken noch verfilmen können? Vielleicht Stanley Kubrick. Dieser hatte schließlich schon Sämtliches an Material zusammengetragen, und es wäre auch nach Eyes Wide Shut vermutlich sein nächstes Projekt gewesen. Hätte er wohl Joaquin Phoenix in der engeren Auswahl gehabt? Könnte sein.

Der Oscarpreisträger – diesmal nicht so abgemagert wie als Joker, sondern als untersetzter, dreister Tausendsassa – trägt von Anfang bis zum Ende die Miene eines hasardierenden Pragmatikers (sofern dies überhaupt zusammengeht). Ridley Scott veredelt ihn mit seinem Zweispitz, wo es nur geht. Es sind die Schattenrisse, es sind die Blicke hinter seinem Rücken nach vorn, wenn er bei der Drei-Kaiser-Schlacht bei Austerlitz oder letzten Endes bei Waterloo die Szene betritt und sich aus seinem Unterstand schält, meist in grauem Mantel. Er braucht nur die Hand zu heben, schon donnern die Kanonen. Irgendwann reicht ein kaum merkbares Nicken – und die Armee versteht.

Um eine ganze europäische Epoche unter einen Filzhut zu bekommen, dazu braucht es Zeit. Viel Zeit. Denn es ist ja nicht nichts, was hier alles geschieht, seit Marie Antoinette ihren Kopf verloren hat. Allerhand spielt sich da ab, Staatsstreiche und Tumulte, Umstürze und jede Menge Schlachten. Das alles will seinen Platz in einem Film fürs Auge finden. Und soll gleichermaßen dazu bewegen, dem dadurch erwachten Interesse an Geschichte später ganz von selbst nachzugehen. Es wäre verlorene Liebesmüh gewesen, hätte Scott den Film in ganzer Länge ins Kino gebracht. Kolportiert ist diese mit über vier Stunden – um die Säle zu füllen, sind es nun zweieinhalb, und selbst da hat man schon das Gefühl, angesichts der Fülle weltbewegender Eckdaten alles schon konsumiert zu haben. Hat sich Scott da nicht etwas übernommen? Wäre eine Miniserie nicht besser gewesen? Nein. Denn Napoleon gehört auf die große Leinwand. Niemand anderer kann Schlachten so dermaßen mitreißend inszenieren wie er. Bei niemandem sonst wird Geschichte zum massentauglichen Großevent. Mit der Darstellung der Schlacht bei Austerlitz sprengt Scott wieder mal alles bisher Dagewesene. So und nicht anders muss das gewesen sein, denkt man sich – vermengt mit allerlei Pathos, historischer Verklärung und als lebendig gewordenenes Ölgemälde.

Diesen zweieinhalb Stunden merkt man an, dass sie geschnitten sind. Doch was soll man sonst tun, außer zu kürzen. Zwischen der Herrschaft als Konsul und der Krönung zum Kaiser fehlt schon mal so einiges, und auch die Schlacht bei Waterloo lässt einige Fakten außen vor. Vielleicht finden wir diese dann später auf Apple+. Mit ziemlicher Sicherheit gehen die biographischen Aspekte  Napoleons dadurch um einiges tiefer. Denn mit Phoenix‘ Darstellung des Machtmenschen kann, muss man aber nicht zufrieden sein.

Warum Bonaparte tut, was er getan hat, bleibt ein Rätsel. Klar ist: Joséphine ist seine große Liebe, es drängt ihn nach einem Thronfolger, es zieht ihn höchstpersönlich immer wieder aufs Schlachtfeld. Wie er tickt, was er denkt – das alles bleibt popkulturelle Ikone, er selbst sein eigenes Merchandising. Phoenix, natürlich Meister seines Fachs, kann diesem gigantischen Ego, dieser Weltfigur, kaum Herr werden. Er begnügt sich mit einer konstanten Performance, die wenig Regung zeigt, sich kaum entwickelt, das Exil in St. Helena ähnlich hinnimmt wie den Befehl der französischen Regierung anno 1793, die Hafenstadt Toulon zu erobern. Im Vergleich dazu ist Vanessa Kirby die emotionale Kraft in diesem Film, wenn sonst nichts allzu Zwischenmenschliches bleibt, da die Eckpfeiler der Politik alles dominieren. Umso mehr nutzt Scott das private Glück und Elend eines Zweiergespanns, was manchmal zu sehr das Gleichgewicht zwischen Geschichtsgewitter und üppiger Romanze kippen lässtt.

Napoleon ist keine akkurate Chronik der Ereignisse. Vieles ist bekannt, vieles aber auch auf Entertainment gebürstet. Nichts anderes hat Ridley Scott jemals gemacht. Man siehe nur 1492, Königreich der Himmel oder Exodus. Seine Leidenschaft ist es, bewegte Bilderbücher zu kreieren, Schlachten nachzustellen, vergangene Zeiten in verschwenderischer Ausstattung und ohne Scheu vor Massenszenen zum Leben zu erwecken. Im Kino ist es so, als wäre man mittendrin, statt nur dabei. Es sind epische Momente, die man lange nicht vergisst. Sie erzeugen Gänsehaut und Respekt vor Legenden, die längst ihre realen Personen hinter sich gelassen haben. Wie es wirklich war, liest man besser nach. Beide gemeinsam aber, Film und Recherche, werden zum Erlebnis Geschichte.

Napoleon (2023)

Die Gangster Gang

IST DER RUF ERST RUINIERT

6/10


gangstergang© 2022 DreamWorks Animation LLC. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: PIERRE PERIFEL

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): SAM ROCKWELL, MARC MARON, AWKWAFINA, CRAIG ROBINSON, ANTHONY RAMOS, RICHARD AYOADE, ZAZIE BEETZ U. A. 

MIT DEN STIMMEN VON (DEUTSCHE SYNCHRO): SEBASTIAN BEZZEL, KURT KRÖMER, JOYCE ILG, FYNN KLIEMANN, JANNIS NIEWÖHNER, MAX GIERMANN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Mit den Wölfen ist es in Österreich so eine Sache. Erstaunlicherweise scheint sich Meister Isegrim zwischen Berg und Tal wieder anzusiedeln und plant dabei nicht, Hühnerställen oder Ähnlichem aus dem Weg zu gehen. Das ärgert den Landwirt, doch was soll man tun – der Wolf tut auch nur, was er tun muss, macht das alles nicht mit Absicht und wäre viel lieber ganz weit weg vom grimmigen Homo sapiens, der keine Gefangene macht, wenn es darum geht, seinen Profit zu sichern. Anderswo hört man wieder lautes Igitt, wenn’s um Spinnen geht, dabei sind die ja ganz nützlich. Haben nunmal acht Beine, was soll’s. Des Menschen Neid an den vielen Extremitäten wird’s wohl nicht sein, der ihn dazu verleitet, Tiere wie diese einfach tot zu schlagen. Oder Schlangen – erst letztes Jahr vermehrt aus dem Abfluss gekrochen, dabei aber alles gar nicht giftig. Zumindest hierzulande nicht. Auf eine Buschmaster treten will ich aber dennoch nicht.

All diese Tierchen sind nun in einer ungleichgewichtigen Alternativwelt, in der hauptsächlich Menschen dominieren und Animalisches zur Minderheit zählt, die Antihelden eines Animationsfilms, der immerhin versucht, die zu sprechenden Fabelgestalten mutierten Reptilien, Säugetiere, Spinnen und Fische (die kein Wasser benötigen) von der Unbeliebtheitsskala zu entfernen und in gewisser Weise zu rehabilitieren. Doch anfangs sind sie das, was sie in den Augen vieler eben sind: Bad Guys. Diese Bande beherrscht das Handwerk des Bankraubs aus dem FF, kennt Tricks und das richtige Timing und führt die Polizei, angeführt von einer jähzornigen Wuchtbrumme, stets an der Nase herum. So beliebt wie das föhnfrisierte Meerschweinchen namens Professor Marmelade werden die fünf schließlich sowieso nie, also heißt es frei nach dem Motto Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert: Zu tun, was Böse eben tun müssen. Bis sie schließlich geschnappt werden und von Frau Reineke Bürgermeister eine letzte Chance erhalten, um nicht hinter Schloss und Riegel zu landen: Sie müssen Gutes tun. Was leichter getan als gesagt ist, denn so tun als ob ist für Wolf & Co keine Kunst mehr, vor allem dann nicht, wenn wertvolle Kunst im Rahmen einer Preisverleihung sowieso in deren Händen landen wird.

Wie der Wolf seinen Charme ausspielt, wie der Piranha alles vom Zaun brechen will und wie die Schlange so sehr davon überzeugt ist, einfach nur fies sein zu müssen: In Die Gangster Gang (im Original: The Bad Guys) obsiegt der Charakter über das Image, dass die anderen einem geben. Das ist ein resoluter Ansatz in einer turbulenten Krimikomödie für fast alle Altersklassen, die mit den Vorurteilen spielt und niemanden das sein lässt, was er von Anfang an genötigt wird, darstellen zu müssen. Rollenbilder, nicht nur männliche oder weibliche, bekommen in einer moralisch augenzwinkernden Mär neuen Anstrich. Das zeigt sich in einem gewinnenden Zeichenstil, der in seiner knackigen Hektik an den cartoonhaften Zickzackkurs aus Ich: Einfach unverbesserlich erinnert, dafür aber viel mehr die Struktur handkolorierter Figuren behält, ist Die Gangster Gang ein durchaus vergnügliches, mit Krimi-Zitaten ausgeschmücktes Abenteuer, wenngleich dieses auch in ihrem Bemühen, Haken zu schlagen, gerade dadurch vorhersehbar bleibt. Und von Meerschweinen, so knuffig sie auch sein mögen, hat man nach diesem Pelztier-Overkill hier vielleicht mal für eine Weile genug.

Die Gangster Gang

München – Im Angesicht des Krieges

WAS DER FÜHRER IM SCHILDE FÜHRT

6/10


muenchen© 2022 Netflix


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2021

REGIE: CHRISTIAN SCHWOCHOW

CAST: GEORGE MACKAY, JANNIS NIEWÖHNER, JEREMY IRONS, ALEX JENNINGS, ROBERT BATHURST, SANDRA HÜLLER, ULRICH MATTHES, AUGUST DIEHL, LIV LISA FRIES U. A.

LÄNGE: 2 STD 11 MIN


Nein, dieser Film hat nichts mit Steven Spielbergs gleichnamigem Terrordrama zu tun. In München haben sich nebst der Olympia-Tragödie noch ganz andere Sachen abgespielt. In München hat stattgefunden, was sich einer wie Adolf Hitler wohl immer erträumt hat: Der Moment, wenn Großmächte wie Frankreich, Italien und Großbritannien höflich vor dem Blender der Massen in die Knie gehen. Das wird für den Mann aus Braunau der Anfang einer langen Reihe diverser Triumphe gewesen sein, und zwar auf dem Rücken der Tschechoslowakei, die zu diesem sogenannten Münchner Abkommen nicht mal eingeladen war. Der Krieg wurde zu diesem Zeitpunkt zumindest mal um ein Jahr nach hintern verschoben, kam aber dann doch – Verträge hin oder her. Die eigneten sich für Nazis maximal zur Verwendung im Sanitärbereich. Macht braucht keine Unterschriften, das wird einer wie Neville Chamberlain in seiner naiven Vorstellung von der Welt auch bald bemerkt haben. 1939 war‘s dann soweit, mit dem Einmarsch in Polen. Bis dahin hat es wohl geheissen: Abwarten und Tee trinken, und zwar nicht nur für die Briten.   

Diesem historischen Gipfeltreffen hat Romanautor Robert Harris (u. a. Enigma oder Intrige – von Polanski großartig verfilmt) eine etwas triviale Spionagegeschichte rund um zwei Kommilitonen aus Oxford angedichtet. Der eine ein Deutscher, der andere waschechter Brite. Beide liegen sich 1932 politisch gesehen in den Haaren und legen ihre Freundschaft auf Eis, sechs Jahre später treffen sie sich wieder, um irgendwie die Welt zu retten, was ein bisschen an die Sache mit den Plänen für den Todesstern erinnert. Der eine ist Sekretär des britischen Premierministers, der andere ein Diplomat unter der Fuchtel Hitlers, der aber ein doppeltes Spiel spielt, da er plant, den Führer zu stürzen. Der Sache kommt er schließlich deutlich näher, als ihm Dokumente zugespielt werden, in welchem die gesamte zukünftige Agenda Hitlers für Europa aufgelistet steht. Ein brisantes Schriftstück, welches den Zweiten Weltkrieg womöglich vereiteln hätte können. Nur: das Schriftstück hat es nie gegeben, es ist Fiktion – das Münchner Abkommen und den daraus resultierten Friedensvertrag allerdings schon. Dabei bleibt fraglich, ob München – Im Angesicht des Krieges nicht wohl eher die Darstellung einer alternativen Realität widerspiegelt als Europas Geschichte.

Es gibt unzählige Romane dieser Art, die alle irgendwann aus den Wühltischen irgendwelcher Buchdiskonter gegraben werden können. Harris Werk scheint da eines von vielen zu sein, die allein aufgrund des Auftretens von Hitler ihren historischen Kontext gesichert wissen. Aber so viel Fairness muss sein: Neville Chamberlain ist auch mit dabei. Und wird durch Charaktermime Jeremy Irons würdig vertreten. Christian Schwochow, der mit der Siegfried Lenz-Verfilmung Deutschstunde einen bemerkenswert stimmigen Beitrag zum deutschen Kino geleistet hat, mit Je Suis Karl aber wiederum weniger, weiß den Briten als politischen Charakterkopf greifbar in Szene zu setzen – Oldmans Churchill-Maskerade aus Die dunkelste Stunde ist da nicht viel besser. Jannis Niewöhner tut sich da sichtlich schwerer, ebenso August Diehl, der schon wieder einen Nazi spielen muss, und zwar sehr stereotyp und in aufsässiger Tarantino-Manier. Und: George MacKay, bekannt aus Sam Mendes Kriegsfilm 1917, darf auch hier wieder Botschaften überbringen und sich in gewisser Weise ebenfalls durch feindliche Linien ducken. Die gehetzte Panik steht ihm gut, und im Gegensatz zu Niewöhner gelingt es ihm zumindest, als Schauspieler hinter seiner Rolle zu verschwinden.

München – Im Angesicht des Krieges scheint als unschlüssiger Hybrid zwischen Fakten und Fiktion gewisse reißerische Geschichts-Plattitüden zu bedienen, die mit Hakenkreuzfahnen und Hitler-Akzent für interessierte Betroffenheit sorgen sollen. Das gelingt, denn der Thriller ist üppig besetzt und unterhält. In Zeiten des Säbelrasselns rund um die Ost-Ukraine erscheint der Film noch dazu wohlgetimt auf Netflix, erreicht aber in Sachen Zeitbild bei weitem nicht die Komplexität, die zum Beispiel in Babylon Berlin zu finden wäre.

München – Im Angesicht des Krieges

Je suis Karl

DAS ANAGRAMM DES HAKENKREUZES

5,5/10


jesuiskarl© 2021 Pandora Film Medien GmbH


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, TSCHECHIEN 2021

REGIE: CHRISTIAN SCHWOCHOW

CAST: LUNA WEDLER, JANNIS NIEWÖHNER, MILAN PESCHEL, MARLON BOESS, AZIZ DYAB, ANNA FIALOVÁ, MÉLANIE FOUCHÉ U. A.

LÄNGE: 2 STD 6 MIN


Re / Generation nennt sich die freiheitliche, europabewusste Organisation, die in Je Suis Karl bereits staatenübergreifend operiert. Dabei fällt deren Logo sofort ins Auge, und man kommt nicht umhin, darin zweifelsfrei das Hakenkreuz zu erkennen, das ehemalige Zeichen der NSDAP, das wiederum eigentlich von ganz woanders abgekupfert und zweckentfremdet wurde, nämlich aus dem Hinduismus. Das eigentliche Zeichen Swastika bedeutet so viel wie Glücksbringer. Tatsächlich besteht das Logo im Film aus vier rechten Winkeln, die ganz einfach anders angeordnet sind. Um die wahre Ambition aber zu verbergen – dafür braucht es schon andere Ideen. Die gibt es. Und die sind so dermaßen perfide, dass sich kein halbwegs vernünftig denkender Mensch vorstellen könnte, auf so etwas eine funktionierende politische Gemeinschaften zu gründen, ohne gefühlt alle Menschenrechte zu verletzen.

Doch Homo sapiens lernt nicht dazu, und deswegen ist der Weg der Gewalt angeblich immer derjenige, der einzig und allein etwas bewegen kann. Glaubt man zumindest. Im kürzlich erschienenen mexikanischen Revolutionsthriller New Order wird klar, wie wenig bockiges Blutvergießen auch nur irgendetwas bewirken kann. In Christian Schwochows politischem Reißer – was anderes ist der Film leider nicht geworden – schlängelt sich der Weg zur nationalsozialistischen Macht der Jungen durch ein Dickicht aus Intrigen, Lügen und trivialer Kolportage. Erschreckend, dass diese Methoden auf fruchtbaren Boden fallen. Eine der „Opfer“ des führenden Orators Karl ist die junge Studentin Maxi Baier, die bei einem Terroranschlag ihre Mutter und ihre beiden Brüder verliert. Von diesem entsetzlichen Schicksal natürlich völlig aus der Bahn geworden ist auch Papa Milan Peschel, der sich in seiner untröstlichen Verlorenheit an sein einzig verbliebenes Fleisch und Blut klammert. Dieses jedoch fällt alsbald in die Hände des vorhin erwähnten Charismatikers Karl, der Maxi zu einer internationalen Tagung seines Vereins einlädt. Dort fährt sie auch hin – und fühlt sich in ihrer Trauer und ihrer Wut mehr als verstanden. Natürlich entstehen zwischen den beiden auch romantische Gefühle, sodass Maxi nicht mehr von Karls Seite weicht. Der allerdings verfolgt ganz andere Pläne, nämlich richtig subversives Zeugs durch die Hintertür, die andere, wüssten sie es nicht besser, als reinste Verschwörungsmythen abtun würden.

Als Bildnis einer Verschwörung ist Je Suis Karl am besten zu verstehen. Aber auch als ein Konstrukt, das Verschwörungsmythen neuen Zunder gibt. Wie Jannis Niewöhner, der den aalglatten, um kein Wort verlegenen Blender Karl durchaus glaubhaft verkörpert, als wilder Fanatiker das große Ganze über alles andere stellt, und vor allem mit welchen Mitteln, ist von ernüchternder Gewissenlosigkeit. Luna Wedler begnügt sich als manipulierbares Nervenbündel, das mit ihrer Trauer ringt, mit einer enervierenden, fast ein bisschen zu deutlich selbstverliebtem Performance, die sie genauso wenig wie fast alle anderen zur Identifikationsfigur macht. Inmitten dieser pseudorevolutionären Eitelkeit halten Milan Peschel und Aziz Pyaf das Zepter der Vernunft als einzige hoch, während ganz Europa in seiner Dummheit ertrinkt. Thomas Wendrichs Drehbuch stuft die Jugend von heute als durch den schönen Schein von Werbung und Social Media bereits vorverweichlichte und daher leicht dirigierbare Lemminge ein, die anscheinend in Windeseile die Macht über einen ganzen Kontinent übernehmen könnten. Diese Sicht der Dinge ist dann doch etwas sehr plakativ und überzogen, und raubt dem politischen Dilemma seine Glaubwürdigkeit. Der polnische Film The Hater ist im Gegensatz dazu die Sache ganz anders angegangen. Dort sind die Sozialen Medien das eigentliche Schlachtfeld. Wie sehr dort gewütet werden kann, zeigt Regisseur Jan Komasa auf geduldigere und deutlich duchdachtere Weise.

Je Suis Karl ist die Antwort auf den ebenfalls deutschen Film Und morgen die ganze Welt, der sich mit – mehr oder weniger – lokalem Linksradikalismus beschäftigt. Auch hier fußt das Handeln der Generation Facebook auf einer zum Scheitern verurteilen Weltsicht. Hätte Schwochows Film nicht gleich ganz Europa mit ins sinkende Boot geholt, wäre die Vision einer Bewegung der neuen Nazis vielleicht fokussierter und spürbar unbequemer geworden. Doch andererseits: vielleicht sind die recht trivial dargestellten Mechanismen politischer Sturmwinde genau deswegen so, damit man sie anfangs nicht ernst nimmt. Und sich demnach nicht dagegen wappnen kann.

Je suis Karl

The Girl King

STUDIEREN GEHT ÜBER REGIEREN

6/10


thegirlking© 2015 Film Buró


LAND: FINNLAND 2015

REGIE: MIKA KAURISMÄKI

CAST: MALIN BUSKA, SARAH GADON, MICHAEL NYQVIST, HIPPOLYTE GIRARDOT, MARTINA GEDECK, JANNIS NIEWÖHNER, LUCAS BRYANT U. A.

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Diese Thronfolgerin, die ist mir eine! Schweden hat im epischen Rahmen des dreißigjährigen Krieges eben erst ihren geliebten König Gustav Adolf verloren, schon muss dessen minderjährige Tochter ran – Königin Kristina. By the way: die Gute ist wirklich nicht fürs Regieren geschaffen. Unter der Obhut des Kanzlers, der seine eigenen Pläne verfolgt (welcher Kanzler tat und tut das nicht?), weicht das Interesse an der Politik stetig jenem an der Philosophie, insbesondere jener des großen Denkers René Descartes. In dieser Wissbegier steht die aufmüpfige Jungregentin anderen Querdenkerinnnen aus der Antike wie zum Beispiel jener Hypatia aus Alexandrien, die bereits in Alejandro Amanebars Historienfilm Agora ihren filmischen Zuspruch bekam, um nichts nach. Doch welche Untertanen wollten damals schon über das Sein philosophieren? Gebt den Leuten Essen, Trinken, Wohlstand! Für den Blick hinter die Kulissen eines entbehrungsreichen Daseins des 17. Jahrhunderts hatte wohl niemand wirklich die Muße – außer Kristina, und ihr Philosophenfreund natürlich. An Männergeschichten ist die stark an Kaiserin Sisi erinnernde, stets hosentragende Jungfrau genauso wenig interessiert, zum Leidwesen des Kanzlersohns, der gedanklich schon mit dem Reichsapfel spielt.

The Girl King erzählt eine recht ungewöhnliche Episode aus der europäischen Monarchengalerie, ein Kuriosum des Nichtregierens sozusagen, das in Ludwig II. oder Stefan von Lothringen Fortsetzung findet, die außerdem allesamt anderes im Sinn hatten als irgendeine Verantwortung für ihre Pflicht zu übernehmen. Da sieht man wieder, wie ignorant dieser Tribut des blauen Blutes stets gewesen war. Nicht für alle war Macht das hehre Ziel. Eine Lösung für dieses Problem aber gab es meistens. Und selbst im Falle der jungfräulichen Kristina, die tatsächlich bis zu ihrem Lebensende jungfräulich blieb, nicht alleine wegen ihrer homosexuellen Orientierung. Für seine Titelrolle fand Regisseur Mika Kaurismäki, der diesjährig mit Master Cheng in Pohjanjoki für wohlige Gefühle in der Bauchgegend sorgte, mit der Schwedin Malin Buska die ideale Besetzung. Ihr expressives Minenspiel ist grandios, ihre trotzigen Züge weichen nur selten sehnsüchtigem Lächeln. Dieses hat dafür ihre bessere, femininere Hälfte Sarah Gadon, die nicht ständig Hosen trägt und die längst einem anderen versprochen zu sein scheint, die aber der Libido ihrer Königin nichts entgegenzusetzen hat.

Schön ausgestattet ist The Girl King allemal, interessant besetzt ebenso. Eine Entdeckung ganz nebenbei ist Martina Gedeck als die exaltierte, völlig verschrobene Königin Mutter, die mit ihrer Tochter nichts anzufangen weiß. Kaurismäki selbst überlässt den Film auch lieber seinem Schauspielensemble, ohne sich selbst als Künstler groß hervorzutun. Sein Historienfilm wirkt wie eine Auftragsarbeit, die man in professioneller Routine natürlich zu Ende bringt, für die man aber jetzt keine großen Gefühle hegt oder eine wie auch wie geartete persönliche Ambition. Prinzipiell macht das nichts – die Zeitgeschichte spricht für sich, und fasziniert auf gewisse Weise ganz von selbst. Da reicht, wie bei so vielen Geschichtsfilmen, die sich auf ihren Stoff verlassen, zumindest die geglückte Wahl einer spannenden Anekdote aus den Herrscherhäusern, die die egozentrische Luft der frühen Selbstbestimmung atmen. Die Queen allerdings wäre not amused.

The Girl King

Narziss und Goldmund

DES EWIGEN FREUNDES WANDERJAHRE

5/10

 

narzissgoldmund© 2019 Jürgen Olczyk / Sony Pictures Entertainment Deutschland GmbH

 

LAND: DEUTSCHLAND 2020

REGIE: STEFAN RUZOWITZKY

CAST: JANNIS NIEWÖHNER, SABIN TAMBREA, ANDRÉ HENNICKE, EMILIA SCHÜLE, UWE OCHSENKNECHT, JOHANNES KRISCH, HENRIETTE CONFURIUS, BRANKO SAMAROVSKI, JESSICA SCHWARZ, GEORG FRIEDRICH, ELISA SCHLOTT U. A. 

 

Da hat sich doch endlich jemand an den Stoff herangewagt. Endlich. Hermann Hesses philosophische Erzählung für Sinnsucher und Aussteiger aus dem Jahre 1929 gibt es nun auch als Film! Ein Wagnis? Muss man denn wirklich alle Klassiker verfilmen? Reicht es nicht, Narziss und Goldmund einfach nur zu lesen, weil manche Werke eben nur in Textform funktionieren und das Kino im Kopf privat bleiben soll? Bei Hermann Hesse ist es sowieso schwierig. Es ist, als würde man Nietzsche verfilmen. Geht auch nicht. Aber Stefan Ruzowitzky, unser Oscar-Preisträger und Slalomfahrer durch alle Genres, der hat sich gedacht: ich nehme mir die Geschichte her und schreib sie etwas anders, lege auch die Schwerpunkte anders, mach etwas ganz Besonderes daraus. Kulissen brauche ich keine bauen, wir sind hier im Herzen Europas, da gibt es Burgen genug, die noch dazu in gutem Zustand sind. Die richtige Besetzung für den Geistesmenschen und den Sinnesmenschen zu finden ist dann schon wieder schwieriger. André Eisermann wäre ein Kandidat gewesen, der ist aber vermutlich schon zu alt dafür, Schlafes Bruder ist auch schon lange her. Die Wahl fiel für den Geistesmenschen Narziss auf Sabin Tambrea (Babylon Berlin Staffel 3) – eine gute Wahl. Der sich selbst geißelnde Glaubensbruder mit geheimer sexueller Orientierung, die aber nicht zu übersehen ist, hat seine schauspielerische Bestimmung gefunden. Der Sinnesmensch? Jannis Niewöhner könnte gehen, hat der doch unlängst Kaiser Maximilian zum Besten gegeben, und das recht ansehnlich, in einem dreiteiligen Eventkino fürs Fernsehen. Doch Niewöhner wäre zwar ideal für eine weitere Staffel für Vikings, schwerlich aber ist er die Idealbesetzung für Goldmund. Er schafft, was eigentlich wenige Schauspieler während des Drehs hinbekommen: die Qualität seiner Arbeit auf- und abzuschaukeln. Und das ist irritierend. Wobei das zwar das Augenfälligste, aber nicht das Einzige an diesem Versuch ist, große Literatur in einem großen Bilderbogen zu verfilmen, was das Vorhaben dann doch vereitelt.

Warum Narziss und Goldmund nicht auch in einem Dreiteiler fürs Fernsehen aufzubereiten ganz so wie Maximilian – das Spiel von Macht und Liebe? Weil Ruzowitzky anders als Andreas Prohaska fast ausschließlich ein Cineast ist. Einer, der fürs Kino arbeitet. Weil die Förderung endlich durch ist, und was finanziert ist, wird gemacht. Das Kino braucht Filme, und Filme brauchen das Kino – vor allem Stoff, der allseits bekannt ist und für volle Säle sorgen könnte. Zwei Leben aber anhand eins fiktiven Biopics und nicht als lebensphilosophische Abhandlung innerhalb zwei Stunden ins Kino zu bringen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Entsprechend gehetzt und gänzlich ohne innere Einkehr erzählt „Goldmund“ Niewöhner seinem Spezi Narziss Anekdoten aus 15 Jahren Umherirrens auf der Suche nach seiner Mutter. Und Goldmund, natürlich ein Feschak sondergleichen, der hat die Qual der Wahl bei den Damen, gerät von einer Liaison in die nächste, scheint irgendwann sein Glück gefunden zu haben, doch wieder nichts. So ist sein Leben eine einzige riesige Wanderung, während der er sein Talent fürs Schnitzen entdeckt – und auch perfektioniert und letzten Endes im Altarbild von Narziss´ Kloster gipfeln lässt.

Ob die Definition der Mutterfigur im Roman auch so im Mittelpunkt steht? In Ruzowitzkys Film jedenfalls ist das der Fall. Viel weniger ist es das Resümee eines Vergleichs zwischen weltlichem und geistigem Leben, zwischen Abenteuern im Kopf oder in der weiten Welt. Sein Film findet keinen Einklang, die tiefe Erfahrung des Goldmund bleibt kolportiert. Klassische Versatzstücke aus dem finsteren Mittelalter wie blutige Striemen am Rücken durch gern gefilmte Selbstgeisselung, Pestopfer, jede Menge alter Mauern oder stimmige Choräle müssen das Soll wohl erfüllen. Mitnichten. All das macht den Film noch plakativer, noch gefälliger, und weniger zum Erlebnis. Bei Narziss und Goldmund scheint es eigentlich um etwas ganz anderes zu gehen, was Ruzowitzky, der auch das Drehbuch schrieb, nicht wirklich herausarbeiten konnte. Das tête-à-tête der vielen bekannten Gesichter erschwert das Eintauchen ebenso – manchmal ist ein illustrer Cast für so eine intime Geschichte vielleicht nicht das Richtige. Und wenn dann noch das sakrale Meisterstück mit all seinen Engeln die Gesichter bekannter Schauspieler tragen, wirkt das unfreiwillig grotesk und lässt sich mit der Ehrfurcht, welche die Mönche verspüren, nicht vereinbaren. Glaubwürdig und am wenigsten schablonenhaft bleibt nur Sabin Tambrea, der als einziger seine innere Balance findet, was man vom Film an sich nicht sagen kann.

Narziss und Goldmund

Der Fall Collini

DER ADVOKAT DES ERINNERNS

7,5/10

 

fallcollini© 2019 Constantin Film

 

LAND: DEUTSCHLAND 2019

REGIE: MARCO KREUZPAINTNER

CAST: ELYAS M’BAREK, FRANCO NERO, HEINER LAUTERBACH, ALEXANDRA MARIA LARA, JANNIS NIEWÖHNER U. A.

 

Vom Gott der Literatur zur Göttin der Justiz: unlängst noch als flapsiger Schulchaot in Fack ju Göthe zu sehen, jetzt als Yuppie-Anwalt in einer Literaturverfilmung, die ganz andere Töne anschlägt als die mit ihm gewohnten Komödien. Elyas M’Barek, spätestens auch in Österreich durchwegs bekannt als Pay-TV-Testimonial, auf der Streaming-Couch chillend und durch das großzügige Angebot zappend, will also endlich mal wirklich ernst genommen werden. Weg vom schmachtanfälligen Jungromanzen, weg von Screwball-Blödeleien unterhalb der Gürtellinie. Die Probe aufs Exempel war es wert – M’Barek spielt, als ging es um die zukünftige schauspielerische Existenz und dem Vereiteln einer deterministischen Genre-Zuordnung. Der fesche Publikumsliebling lässt alle Späße außen vor und gibt sich gewissenhaft. Das gelingt ihm. Tatsächlich ist seine Verkörperung des Anwalts Caspar Leinen eine glaubwürdige Interpretation. Allerdings ist der Talarträger so knochentrocken wie manche seiner Gesetzbücher, die er zitiert. Und manchmal auch päpstlicher als der Papst. Das ist ja mal per se nicht schlecht in diesem Job. Alles genau unter die Lupe zu nehmen zeichnet einen guten Rechtsvertreter doch wohl aus, oder nicht? Was stört da schon ein möglicher Verdacht auf Befangenheit, der sich in der Kanzlei des Newcomers breit macht – denn der Mörder, den Leinen zu vertreten gedenkt, hat den Opa seines besten Freundes auf dem Gewissen, ein Krösus unter den Wirtschaftern, fast so was wie Hans Peter Haselsteiner oder Frank Stronach. Einer, der viel Geld und Macht gehabt hat. Und der Leinen in jungen Jahren immer sehr gern mochte. Schwierig, hier trotzdem die Gegenseite zu vertreten. Aber Anwalt ist Anwalt, und Fall ist Fall, das will professionell sein. Also stürzt sich Leinen ins rechtliche Getümmel – und beißt bei seinem Mandanten vorerst auf Granit.

Der wiederum ist mit internationaler Prominenz besetzt. Niemand geringerer als Good Old Django Franco Nero, der schon John McLane in Stirb Langsam 2 zum Wahnsinn trieb. Selbst Quentin Tarantino ehrte ihn in Django Unchained mit einem süffisanten Cameo. Franco Nero zieht diesmal zwar nicht einen Sarg samt Maschinengewehr hinter sich her, darf aber trotzdem mit vorgestrigen Schießeisen hantieren. Und lakonisch sein wie immer, passend für eine Kultfigur des Italowesterns. Der, dessen Alter unter seiner wilden Gesichtsbehaarung kaum mehr zu schätzen ist, hat in Marco Kreuzpaintners Justizdrama eine würdige und beachtliche Altersrolle gefunden, auf die er wirklich stolz sein kann. Einen für ihn typischen Haudegen gibt er trotzdem nicht. Dafür eine traumatisierte Seele, die darauf wartet, dass ihr Gerechtigkeit widerfährt.

Der Fall Collini, nach einem Roman des Autors Ferdinand von Schirach, ist nach Das schweigende Klassenzimmer, Ballon und Nur Gott kann mich richten ein weiterer Beweis dafür, dass der deutsche Film, seit Wolfgang Petersen Das Boot zu Wasser gelassen hat, kaum mehr so stark war wie in den letzten zwei Jahren. Es scheint mir, als wäre das Kino unseres Nachbarn im Gegensatz zu selbigem in Österreich viel eher bereit, alternative Mechanismen für einen guten Film genauer zu beobachten – um daraus zu lernen und Geschichten einfach besser zu erzählen. Kreuzpaintner hat das gemacht, und sich deutlich an der kühl-ästhetischen Krimi-Erzählkunst eines David Fincher orientiert. Und ich meine orientiert, nicht etwa abgekupfert. Die Bildsprache ist, anders als von anderen kritischen Stimmen behauptet, längst nicht mehr nur Fernseh-Niveau. Da ist schon mehr drin. Der Fall Collini spricht schon die Sprache des Kinos, dafür ist ihm die Wahl seiner technischen Mittel zu wichtig. Geschickt verwebt die Verfilmung Vergangenes mit dem gegenwärtigen roten Faden. Lässt dort aufwühlende Einblicke in ein grauenhaftes Damals aufpoppen, wo die richtige Emotion im Gerichtssaal gerade gefragt ist. Und tatsächlich erleben wir eine ähnliche Situation wie seinerzeit Tom Cruise mit Jack Nicholson eine erlebt hat. Die Frage nach dem Code Red in Eine Frage der Ehre wird in Der Fall Collini zur Frage nach der Sinnhaftigkeit zweifelhafter Paragraphen. Nun, Heiner Lauterbach mit seltsam eingepflanztem Haaransatz und schmierigem Verhalten ist längst nicht Jack Nicholson, dafür verlässt sich der deutsche Schauspieler zu sehr auf seine Routine. Auch lässt uns Elias M’Barek  oft nicht an seiner Gefühlswelt teilhaben, was ihn unnahbar macht, ist er doch der Protagonist, der uns durch den Film führt. Doch abgesehen von diesen leicht unbalancierten Dingen hat das aufwühlende Gerichtsspektakel einiges zu bieten, vor allem, wenn der Kern der Wahrheit ans Licht kommt und elterliche Emotionen getriggert werden. Das ist packend, mitunter etwas pathetisch, aber das darf Kino natürlich sein, und in der richtigen Dosis kann es zu einem dichten, dramatischen Erlebnis werden, bei dem man nicht nur daneben steht.

Der Fall Collini

Asphaltgorillas

DIE STADT VOLLER AFFEN

6,5/10

 

asphaltgorillas© 2018 Constantin Film

 

LAND: DEUTSCHLAND 2018

REGIE: DETLEV BUCK

CAST: JANNIS NIEWÖHNER, SAMUEL SCHNEIDER, ELLA RUMPF, GEORG FRIEDRICH, MICHAEL OSTROWSKI, KIDA KHODR RAMADAN U. A.

 

Hierzulande – also in Österreich – ist der Deutsche vor allem für Sex, Drugs und Rock’n’Roll bekannt. Die Rede ist von Michael Glawoggers teils psycheledischer Filmtrilogie über Lust und Laster halbseidener (Anti-)Helden aus gesellschaftlichen Grauzonen. Bei unseren Nachbarn im Norden hat der Blonde mit den wahrscheinlich schwarzen Schuhen schon längst, und zwar schon seit den frühen 90ern, Kultstatus erreicht. Detlev Buck ist dort natürlich ein Begriff, und mittlerweile führt er sich selbst im Vorspann auch nur mehr als Buck an, mit der Gewissheit, dass ihn wohl keiner mit Biene Majas Stubenfliege verwechselt. Die schreibt man ja auch mit hartem P, aber wer weiß das schon so genau?

Buck ist also von seinen Gastauftritten an der Donau längst wieder ins Heimatland zurückgekehrt, und hat dabei aber nicht vergessen, die beiden schrägen Vögel Michael Ostrowski und Georg Friedrich mitzunehmen. Die beiden dürften sich mit dem ollen Detlev gut verstanden haben, waren auch sie Teil des Ensembles von Nachtschnecken, Contact High und Hotel Rock’n’Roll. Und so durchgeknallt, wie dort die Saiten aufgezogen wurden, darf es auch in der Thrillerkomödie Asphaltgorillas zugehen. Als Vorlage für diese Reihe betrüblicher Ereignisse diente die Kurzgeschichte Der Schlüssel von Ferdinand von Schirach. Von der Kurzgeschichte bis zum abendfüllenden Neonrausch ist es kaum noch eine Großstadtmeile an zusätzlichen dramaturgischen Verstrickungen hin – und fertig ist das augenzwinkernde Boulevardstück zwischen Luxus-Appartement und Bolidenschuppen. Und wie es besagter Titel der literarischen Essenz des Filmes schon vorwegnimmt: alles dreht sich um einen Schlüssel, der zu ganz viel Geld führt, dass eigentlich für noch mehr Blüten investiert werden will. Das blöde nur: der Schlüssel verschwindet. Jannis Niewöhner und Samuel schneider wissen zwar wohin, kommen aber nicht wirklich an ihn heran. Währenddessen soll aber auch noch der verquere Kleinganove Ronny (herrlich verkorkst und durch den Wind: Georg Friedrich) die Falschgeldmünzer hinters Licht führen.

Turbulent bis zum Kolbenreiber, möchte man meinen. Dabei schaltet Detlev Buck aber einen oder zwei zugedröhnte Gänge runter, gibt sich ob der verfahrenen Situationen unentsprechend gechillt und hat sich die eine oder andere Entrückung durchaus vom leider viel zu früh verstorbenen Michael Glawogger abgeguckt. Daran erinnert auch die eingestreute Bildmetaphorik eines Gorillas, der die Gesetze des Dschungels in Erinnerung ruft. In nacktschnecken hatten wir die Symbolik des durchs Bild laufenden Geparden, auf den keiner genauer einzugehen vermochte, weil er nur fürs Publikum da war, um die instinktive Triebhaftigkeit des Tiers namens Mensch elegant zu umschmeicheln. Obwohl nicht nur Glawoggers kurioses Eintauchen in die Halbwelt situationselastischer Glückritter in Asphaltgorillas seine neu gewürfelte Wiederkehr entdeckt, sondern auch das so trockene wie schildbürgerliche Thrillerkino eines Guy Ritchie. Manche, die dem sprichtwörtlichen Sperrfeuer der Unterweltparteien in die Quere kommen, werden bluten müssen, andere punkten mit lebensmüder Frechheit. Das macht vor allem in der zweiten Halbzeit dieser Filmsafari erst so richtig Spaß, wenn alle am quer durch die Gassen gezogenen roten Theseusfaden ziehen, ohne zu wissen, wer da nun den größten Spielraum hat.

Asphaltgorillas ist ein lustvolles, urbanes Hazardspiel, dass nach einigem zögerlichen Anlauf die Kacke bald am Dampfen hat. Bucks Film spielt mit Neonlicht, gibt in heißen Karossen Gummi und lässt die Straßen funkeln. Das ganze aber ohne viel Metazeugs, übersieht man mal all die brusttrommelnden Primaten, die sich zum Affen machen. Und einer von ihnen, der fängt am Schluss die Banane.

Asphaltgorillas

Jugend ohne Gott

IM MAHLSTROM DES WETTBEWERBS

7/10

 

jugendohnegott© 2017 Constantin Film

 

LAND: DEUTSCHLAND 2017

REGIE: ALAIN GSPONER

MIT JANNIS NIEWÖHNER, FAHRI YARDIM, EMILIA SCHÜLE, ANNA-MARIA MÜHE, RAINER BOCK U. A.

 

Ödön von Horváth zählt für mich schon seit der Mittelschule zu den wohl beeindruckendsten Autoren der Zwischenkriegszeit. Zu jenen Autoren, die so wie Joseph Roth oder Jean-Paul Sartre wirklich sehr viel zu sagen hatten. Unglücklicherweise traf den zivilisationskritischen Schriftsteller kurz vor dem Einmarsch der Nazis in Österreich an der Champs Elysees in Paris ein umstürzender Baum. Mittlerweile bin ich zwar schon älter, als Horváth je war – sein zeitloses Œuvre überdauert allerdings jede menschliche Lebensspanne und findet auch in der Filmwelt des 21ten Jahrhunderts unterstützende Verwendung. Vor allem sein dritter Roman Jugend ohne Gott.

Regisseur Alain Gsponer hat die Geschichte in seinen Grundzügen genau so belassen, allerdings in eine völlig andere Zeit und in einen anderen Kontext gesetzt. In seinem gleichnamigen Film Jugend ohne Gott finden sich die Schüler einer Abschlussklasse zwar auch in einem Zeltlager wieder, müssen aber, um einen der heiß begehrten fünf Studienplätze an einer Elite-Universität zu erlangen, diverse Aufgaben und Herausforderungen in makelloser Perfektion erfüllen. Da ist natürlich jeder gegen jeden, Teamwork ist zwar erwünscht – dauerhaft aufrecht erhalten lässt sich die gute Miene zum bösen Spiel wohl aber eher nicht. Vor allem nicht, wenn emotionale Unreife schwer zur Selbstreflexion einlädt. Da muss es schon gut laufen, damit überhaupt 5 Finalisten zur Auswahl stehen können. Die Next-Top-Model-Shows haben da wohl eine bessere Quote, trotz erwähntem Gefühlschaos zwischen den Rivalinnen.

Der Kniff an Gsponer´s Filminterpretation liegt an den drei Sichtweisen, die er nacheinander vorbringt. Zuallererst steht die Schülerin Nadesh – im Roman so wie alle anderen Schüler mit nur einem Buchstaben bezeichnet, in diesem Fall N – im Mittelpunkt des Geschehens. Worauf das ganze Drama aus Sicht des andersdenkenden Schülers Zacharias – im Roman Z – um einige weitere Details erschlossen wird. Um abschließend als dritte Instanz die Ereignisse unter dem Blickwinkel des Lehrers zu ergänzen. Eine interessante dramaturgische Konstellation, die man so ähnlich auch in dem Politthriller 8 Blickwinkel erleben kann – oder zum Teil auch in den Filmen Quentin Tarantinos, der seine geschickt gesetzten Kapitel ebenfalls mit sich wiederholenden Geschichten aus anderen Wahrnehmungen heraus erzählt. Das sorgt natürlich dafür, dass sich das Spannungspotenzial vor allem im Suspense- und im Thriller-Genre manchmal in erwünschte, ungeahnte Höhen schraubt.

Der Verfilmung Jugend ohne Gott, die nun mal mehr eine Tragödie als ein Thriller ist, gelingt damit zwar nicht aufgrund unerhrter Spannung, dafür aber mit gewecktem Interesse der Absprung – und bewahrt das Drama davor, durch die schwelende Nüchternheit, die gefühlskalten, dystopisch angehauchten Zukunftsvisionen innewohnt, in für Dystopien im Allgemeinen gefährlich belangloser Apathie abzugleiten. Das Drehbuchduo Alex Buresch und Matthias Pracht machen aus der literarischen, schwermütigen Vorlage einen gewieften Social-Fiction-Thriller, der ganz gut mit seinem Personal klarkommt. Allen voran mit den gierend kalten Blicken von Anna-Maria Mühe, die als Campleiterin keine Kompromisse duldet. Jannis Niewöhner, den ich erstmals als Maximilian in Andreas Prohaskas gleichnamigem Event-Dreiteiler aus dem Fernsehen für gut befinden konnte, legt sich in den deutschen Wäldern mit den Illegalen an – im Roman gewöhnliche Diebe. Um nicht zu sagen – er kokettiert mit deren Freidenker-Philosophie und verliebt sich auch in Oberdiebin Emilia Schüle. Durch die Bank eigentlich ein jugendlicher Cast, der seine Sache gut macht. Vielleicht manchmal seine Emotionsausbrüche über Gebühr strapaziert, aber selten unglaubwürdig handelt.

Jugend ohne Gott ist stimmiges Gymnasiastenkino und dank Ödön von Horváth eine inhaltlich straffe Kritik an das Elitedenken kommender aufsteigender Generationen. An eine kompromisslose Leistungsgesellschaft, die auf Burnout, Neid und Ellbogenphilosophie konzipiert ist. Und Versager nicht duldet. Doch im Versagen wohnt Erkenntnis. Etwas, das Z wie Zacharias letzten Endes und fast schon als Glück im Unglück wiederfährt. Ein schöner Ansatz, eine reizvolle Verpackung. So kann Literatur im Kino für die Generation X aussehen, die vielleicht gar nicht mehr weiß, wer Horváth wirklich war, welche Zeit ihn geprägt und was ihn bewogen hat, in seinen Werken so dermaßen schwarz zu sehen. Vielleicht tauchen irgendwann im Kino die Geschichten aus dem Wienerwald auf, im Gewand eines neuen gesellschaftlichen Morgens, als Allegorie auf eine Welt voller Eigen- und Ausnützern. Mit Augen, so kalt wie ein Fisch.

Jugend ohne Gott