DAS SYSTEM ENTWAFFNEN
7/10
© 2024 Films Boutique / Alamode Film
LAND / JAHR: IRAN, DEUTSCHLAND, FRANKREICH 2024
REGIE / DREHBUCH: MOHAMMAD RASOULOF
CAST: MISSAGH ZAREH, SOHEILA GOLESTANI, MAHSA ROSTAMI, SETAREH MALEKI, NIOUSHA AKHSHI, REZA AKHLAGHI, SHIVA ORDOOEI U. A.
LÄNGE: 2 STD 48 MIN
Wenn Filmemachen weitaus mehr bedeutet, als nur zu unterhalten und den großen Reibach zu lukrieren, hat das meistens etwas mit einer politischen Agenda zu tun – einem stark motivierten Ansinnen, einen Missstand in die Welt hinaus zu posaunen, der nur darauf wartet, behoben zu werden. Das Medium Kino hat dabei ordentlich Stimme, lauter noch als es Bücher vermögen. Lauter noch, als es in nüchterner und objektiver Sicht die Korrespondenz eines Nachrichtensenders zuwege bringt. Denn dort, wo die allgemeinen Fakten enden, beginnt das Einzelschicksal. Und womit nur lassen sich Verbrechen greifbarer schildern als anhand eines Anschauungsbeispiels, einer Probe aufs Exempel innerhalb des Systems Familie. Sie wird in Die Saat des heiligen Feigenbaums zum Versuchsobjekt und zur Metapher eines akuten gesellschaftspolitischen Dilemmas, das entsteht, wenn eine Nation es verabsäumt, agile Politik von statischer Religion zu trennen. Ersteres braucht Bewegung und Anpassung, um mit der Zeit und dem Willen des Volkes zu gehen. Zweiteres darf sich rühmen, auf ewig dieselben Gesetze zu verkünden, weil, so meint man, Gottheiten es so wollen. Oder noch besser: Weil Gottheiten es befehlen.
Beides, Politik und Religion, bringt man nicht zusammen. Was beide aber gemeinsam haben, ist, als Werkzeug für Macht und Kontrolle zu fungieren. Die Theokratie im Iran wird es niemals dulden, Frauen jene Freiheit einzuräumen, die es ihnen ermöglicht, in der Öffentlichkeit sie selbst zu sein. Grotesk ist es da schon längst, wenn der Hijab nicht sitzt und es Strafen regnet. Als staatliches Verbrechen muss man sehen, wenn die freie Meinung Tod und Verderben nach sich ziehen. Der Mensch ist auf die Dauer nicht dafür gemacht, derartige Ungerechtigkeiten zu erdulden. Was folgt, sind Demonstrationen, die immer mehr auf Widerstand stoßen. Und während der Widerstand wächst, wächst auch die Revolution – mit Worten, Gesten und unmissverständlichen Statements. Als die 22jährige Iranerin Jina Mahsa Amini von der islamischen Sittenpolizei verhaftet wird, weil ihr Kopftuch nicht richtig sitzt, und dabei ums Leben kommt, scheinen die Proteste kein Halten mehr zu kennen. In dieser Zeit, und das beschreibt nun Mohammad Rasoulofs Film, der im Geheimen gedreht und gerade noch fertiggestellt wurde, bevor der Filmemacher blitzartig das Land verlassen musste, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen, wird Filmvater Iman (Missagh Zareh) zum Ermittlungsrichter befördert. Es winken ein größeres Heim, mehr Geld, mehr Ansehen und eine Dienstwaffe. Denn man weiß ja nie, was einem Richter widerfährt, der Demonstranten zum Tode verurteilen muss. Womit Iman nicht gerechnet hat, ist das Mehr an Verhaftungen, die es nun abzuarbeiten gilt. Und dabei sind nicht selten die Interessen anderen wichtiger als das humanitäre Recht des Angeklagten. Während dieses beruflichen Umbruchs muss Mutter Naijmeh (Soheila Golestani) ihren Töchtern einbläuen, sich von jedweder Demo fernzuhalten. Das wäre nämlich gar nicht gut für Papa, und sowieso ist die ganze Familie im Fokus des Regimes – kein Fehler darf erlaubt sein. Als wären diese Umstände nicht schon prekär genug, gewährt Tochter Rezvan (Mahsa Rostami) einer verletzten Demonstrantin Zuflucht, während Iman von heute auf morgen seine Pistole nicht mehr findet. Spätestens jetzt ist Gefahr im Verzug, denn der Verlust der Dienstwaffe würde zu Repressalien führen. Vielleicht auch zu Gefängnis.
Mohammad Rasoulofs Film ist alleine schon deswegen bemerkenswert, weil er andere Beweggründe nennt, um gemacht worden zu sein. Aufklärungsarbeit könnte man die Sache nennen, politisches Manifest und schmerzliches Gleichnis eines Überwachungsstaats, der seine Saat ausbringt, die an jene eines Feigenbaums erinnert. Und auch da wird klar: Ein Feigenbaum schafft es, seinem Wirt, um den er wächst, all seine Energie zu entziehen. Diese Form von Politkino rezitiert nicht nur Geschichte als betroffen machendes Abbild einer vielleicht vergangenen Notlage. Dieses Form von Politkino wird zum Instrument eines Aufstands, indem es deutlich macht, wie sehr die toxische Herrschaft des Ali Chamenei seine Paranoia schürenden Methoden bis in die letzten Winkel einer funktionalen Familie streut. Das System wuchert wie Schimmelpilz über den einzelnen und macht sich langsam und schleichend über den Patriarchen her, der, in die Ecke gedrängt, den politischen Horror übernimmt, um ihn gegen seine Liebsten einzusetzen.
Langsam, ganz langsam dreht Rasoulof den Schraubstock zu. Alltägliches wird zur Schandtat, deren Verursacher zur Rechenschaft gezogen werden muss. Immer tiefer dringt der Film in den Mikrokosmos von Vertrauen, Liebe und Gemeinschaft und korrumpiert so gut wie alle Werte, die dem freiheits- und friedliebenden Menschen so eigen sind. Anfangs wähnt man sich noch in einem gediegenen Familiendrama vor dem Hintergrund politischer Unruhen – wortgewandt, präzise und nüchtern wie ein Film von Michael Haneke. Später aber kippt das Werk in den Verfolgungswahn und wird zum Psychothriller, der längst verlässliche Normen aushebelt. Rasoulof führt eine scharfe Klinge, fast schon stoisch und distanziert. Dann aber kann er nicht anders, all die Emotionen brechen sich Bahn. Das Gleichnis wird vollzogen bis zur bitteren Konsequenz. Mag sein, dass Rasoulof dabei seinem Stil zwar treu bleibt, den Rhythmus und die Tonalität aber verändert, um die zersetzenden Symptome klarer erkennbar zu machen. Man wünscht, er hätte es bereits etwas früher getan, und hätte nicht so viel Zeit damit zugebracht, den Stein ins Rollen zu bringen. Verzetteln wäre ein Wort dafür, doch wenn es ganz plötzlich – und irgendwie hat man es auch kommen sehen – darum geht, das System zu entwaffnen, um einen Ausgleich zu schaffen, wird die entwendete Dienstwaffe zum Auge eines Tornados, in dessen tosender Energie eine Familie ins Chaos stürzt.
