Zeiten des Umbruchs

DIE EINSAMKEIT DER TRÄUMER

8/10


armageddontime© 2022 Focus Features, LLC.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: JAMES GRAY

CAST: MICHAEL BANKS REPETA, JAYLIN WEBB, ANTHONY HOPKINS, ANNE HATHAWAY, JEREMY STRONG, TOVAH FELDSHUH, ANDREW POLK, JESSICA CHASTAIN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Egal, was du aus deinem Leben machen willst, was du tust und wofür du dich entscheidest: Bleibe Mensch! Wenn man sowas aus dem Munde von Anthony Hopkins hört, der sich mit hingebungsvoller Gewissenhaftigkeit und großväterlicher Liebe seinem Enkel widmet, erstarkt in einem selbst das Gefühl, die Weisung gelte nicht nur dem Jungen im Film, sondern auch einem selbst, der wie ich hier im dunklen Auditorium sitzt. Nichts anderes wollen wir tun: Uns selbst treu und Mensch bleiben.

Das erreicht man sicherlich nicht damit, indem man Nahrungsmittel auf wertvolle Kunstwerke wirft. Aber vielleicht damit, verrückte Ideen zu verfolgen, die einem an die Grenzen der eigenen Erfahrung bringen. Einem derartigen Reifungsprozess gibt sich der jüdische Junge Paul Graff hin, der im Geburtsjahr der 80er seine Schulstunden in Queens damit verbringt, in den Tag hineinzuträumen oder den unbequemen Lehrer Mr. Turkeltaub zu karikieren. Paul hat zeichnerisches Talent und denkt sich seinen eigenen Weg durch seine Kindheit, dabei schließt er Freundschaft mit einem schwarzen Jungen, der keinerlei Privilegien genießt, am Rande der Gesellschaft steht und diese Ohnmacht mit Bockigkeit kompensiert. Pauls Familie hadert derweil selbst mit ihrem Status als jüdische Einwanderer, die ihren Familiennamen ändern mussten, um als vollwertig zu gelten. Diese Zeit, in der Paul seine gesellschaftliche „Unschuld“ verliert, ist auch die Zeit, in der Ronald Reagan seine besten Karten dafür ausspielt, um Präsident zu werden. Das Viertel steht überdies unter der Obhut der Trumps. Donald, der spätere Präsident, wird Paul Graff genauso begegnen wie die damit einhergehende Unfairness der westlichen Welt, in der sich Chancengleichheit zum riesengroßen Fremdwort bläht.

Wenn Paul Graff – hinreißend dargeboten von Newcomer Michael Banks Repeta, der durch sein kindlich-knuffiges Erscheinungsbild leicht unterschätzt wird – lieber den Weg des Underdogs geht; des sozialen Outlaws, der das Herz am rechten Fleck hat, dabei aber seine Familie an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringt, wünscht man sich einerseits, den Jungen an den Schultern zu packen und ihm Vernunft einzubläuen, andererseits aber ist das Brechen der Konventionen der einzige Weg, um einen Weg in die Zukunft zu finden, den bislang sonst noch keiner niedergetrampelt hat. Dieser Zwiespalt bewegt und fasziniert. Die Rolle des schwarzen Jungen namens Johnny wird dabei zum traurigen Symbol einer demokratischen Schieflage. Regisseur James Gray (u. a. Ad Astra – Zu den Sternen) errichtet sein Coming of Age-Drama auf den Erinnerungen seiner eigenen Kindheit. Ein autobiographischer Film, sozusagen. Und da all diese Szenen für Gray mit sehr viel emotionalem Kontext verbunden sind, liegt ihm auch gar nichts daran, altbekannte Erzählformeln oder die üblichen nostalgischen Versatzstücke, welche die Achtziger stets so mit sich bringen, einzusetzen.

Zeiten des Umbruchs – oder viel besser: Armageddon Time – ist das nonkonformistische Zeitbild rund um einen Nonkonformisten, der einer privilegierten Elite nichts abgewinnen kann und sich abwendet, weg von einem Erfolg, den sich alle anderen verdienen. In diesem politischen wie gesellschaftlichen Paradigmenwechsel, der wie ein Vakuum wirkt, in welchem die eigenen Ideale schwerelos scheinen, begibt sich Gray auf Augenhöhe mit sich selbst und seiner Familie, verschmäht das Melodrama oder gar den Kitsch. Bleibt ehrlich und widersprüchlich im menschlichen Verhalten. Hopkins oder Anne Hathaway sowie allen voran der erstaunliche und ungefällig aufspielende Jeremy Strong ruhen in ihren Rollen zischen Fürsorge und eigenem Dilemma und lassen dem Jungschauspieler Platz, um seinen Idealen zu folgen, so lausbübisch sie auch sein mögen.

Selten war ein Film aus dem Coming of Age-Genre, in welchem immer wieder ähnliche Themen romantisiert werden, so sehr mit Zeitgeschichte und den Werten des Humanismus verbunden. In den meisten stehen die Protagonisten selbst im Zentrum und suchen ihre Identität. In Zeiten des Umbruchs richtet sich der konzentrierte Blick nach außen, auf die Umwelt. Was man sieht: Das stimmige, spürbare Portrait eines Anfangs von etwas, das bis heute nachwirkt.

Zeiten des Umbruchs

Drive My Car

TRAUERN MIT TSCHECHOW

6,5/10


drive-my-car© 2021 The Match Factory


LAND / JAHR: JAPAN 2021

BUCH / REGIE: RYŪSUKE HAMAGUCHI, NACH DEN KURZGESCHICHTEN VON HARUKI MURAKAMI

CAST: HIDETOSHI NISHIJIMA, TŌKO MIURA, MASAKI OKADA, REIKA KIRISHIMA U. A.

LÄNGE: 2 STD 59 MIN


Seit Bekanntgabe der Nominierungen sowohl für den besten Film als auch für den besten fremdsprachigen Beitrag bei den diesjährigen Oscars war es kein leichtes Unterfangen, den Favorit erfolgreich auf die Liste der gesehenen Pflichtfilme zu setzen. Warum wohl? Erstens aufgrund der beachtlichen Länge. Sage und schreibe drei Stunden nimmt sich Drive My Car Zeit, seine Geschichte zu erzählen. Gut – bei drei Stunden schreckt man zumindest im Blockbusterkino auch nicht mehr zurück. Der letzte Avengers war ja ebenfalls so lang, nur war man sich dort zumindest sicher: What you see is what you get. Bei Drive My Car wusste man nur so viel: Ein Witwer wird im eigenen Auto von A nach B gefahren, und das eigentlich täglich. Chauffeurin und Fahrgast finden im Laufe dieser Zweckgemeinschaft einige Gemeinsamkeiten, darüber hinaus ähnliche Gefühlswelten. Gut, das klingt nach ein bisschen wenig. Und auch beim Reinlesen in andere Reviews war nicht viel mehr herauszufinden als das. Eine Story die ins Kino lockt? Mitnichten. In Deutschland weckte Drive My Car laut filmstarts bei gerade mal 35.316 Kinobesuchern die Neugier. Darüber hinaus sind drei Stunden potenzielle Langeweile kein unwesentlicher Faktor zur Entschlussfindung.

Es wundert mich nicht. Drive My Car ist Liebling bei den Kritikern, Liebling in Cannes und Liebling der Oscar-Academy. Ryūsuke Hamaguchi ist zwar nicht ganz so extravagant wie der Thailänder Apichatpong Weerasethakul, der allein schon mit seiner Affinität fürs paranormale die Neugier weckt, aber immer noch in seiner Filmkunst auffällig genug, um ähnlich einer ausgesuchten Flasche Wein älteren Jahrgangs (Der Filmkürbis wird den Vergleich zu schätzen wissen) von Kennern und Liebhabern cineastischer Filmkunst entsprechend genossen zu werden. Das soll aber nicht heißen, dass man für Drive My Car ähnlich wie bei Umberto Ecos Foucault’schem Pendel einen erklärenden Appendix benötigt. Hamaguchis Interpretation einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami erzählt zwar kein vertracktes Drama, allerdings befindet sich das Narrative auf mehreren (Meta)ebenen, zu welcher auch jene der darstellenden Kunst zählt, insbesondere des Theaters. Und dort wäre es nicht schlecht, zumindest einmal im Leben Anton Tschechows Onkel Wanja gesehen oder gar gelesen zu haben. Denn der russische Literat und sein Werk sind das eigentliche Bindeglied zwischen Chauffeuse Misaki und Regisseur Yūsuke, allerdings auch die künstlich erschaffene Plattform für eine posthume Begegnung des trauernden Theatermachers mit seiner verstorbenen Frau.

Diese und Yūsuke verbindet der Verlust ihrer vierjährigen Tochter, beide versuchen, mit diesem niederschmetternden Schicksal umzugehen. Yūsukes Frau Oto erzählt nach dem Sex Geschichten von einsamen Menschen, die lernen müssen, zu ihren Gefühlen zu stehen. Des weiteren geht sie gerne fremd, was Yūsuke scheinbar akzeptiert. Oder vielmehr: Er wahrt die Harmonie – ein wichtiges gesellschaftliches Gut in Japan, wo Gefühle zu zeigen verpönt ist, wo Gleichmut alles ist, ein Lächeln noch mehr. Trauer, Eifersucht und Gram sind nur Last für andere. Nach dem plötzlichen Tod seiner Frau – es sind zwei Jahre später – nimmt Yūsuke die Einladung eines Festivals in Hiroshima an, Onkel Wanja zu inszenieren, und zwar multilingual. Will heißen: Es trifft taiwanesisch auf japanisch, japanisch auf koreanisch, koreanisch auf Gebärdensprache. Ein zugegeben spannendes Experiment. Noch spannender ist die Tatsache, einen Vertrauten seiner Frau im Ensemble zu wissen. Und noch irritierender der Umstand, einen Chauffeur zu bekommen, der Yūsuke im Auto herumkutschieren soll.

Die 23jährige Misaki zeigt sich dabei so ausdruckslos und phlegmatisch wie Yūsuke selbst. Beide verharren unter einem Schleier gesellschaftlicher Schicklichkeiten. Das Tabu von Schwäche wirkt wie ein Sedativ auf den inneren Schmerz der beiden Hauptfiguren. Langsam bricht und bröckelt die Fassade. Langsam, sehr langsam. Dazwischen das Making Of einer Theaterproduktion eines der wohl bekanntesten und wichtigsten Stücke der russischen Literatur. Dabei lässt sich die Figur des um sein Leben betrogenen Onkel Wanja, der am Ende des Stückes gar zur Waffe greift, ganz klar auf Yūsukes Gesamtsituation übertragen. Auf der Bühne sind Gefühle expressive Kraft des Dramatischen, im echten Leben fristen sie ein unterdrücktes Dasein, das keinen in seiner seelischen Entwicklung voranbringt.

Von daher ist Drive My Car ein ausgewogenes, in sich ruhendes Psycho- und Künstlerdrama um Verständigung, Aufrichtigkeit und Selbsterkenntnis. Doch in diese Ruhe liegt nicht nur Kraft, wenngleich Drive My Car tatsächlich und auch trotz des abstrakten, sozialphilosophischen Stoffes keine wirklichen Längen hat. In dieser Ruhe liegt auch Distanz und Berührungsangst. Hamaguchi inszeniert seinen Film kühl, nüchtern und unaufgeregt. Das Werk wirkt präzise konstruiert, geradezu mathematisch. Der japanischen Mentalität kommt dies sicher nahe. Vom Westen aus betrachtet ist diese Reduktion aber eine gewöhnungsbedürftige Art des Inszenierens eigentlich großer Gefühle, die am Ende nur verhalten, fast schon schamhaft, ans Tageslicht treten. Drive My Car trifft einen ganz eigenen, minimalistischen Ton, gibt seinen Onkel Wanja aber eine Spur zu spät frei, und lässt ihn dabei gar nicht mal ein bisschen durchdrehen.

Drive My Car

Ein Festtag

VENUS IM HERRENHAUS

7/10


einfesttag© 2021 Tobis Film


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2021

REGIE: EVA HUSSON

SCRIPT: ALICE BIRCH, NACH EINEM ROMAN VON GRAHAM SWIFT

CAST: ODESSA YOUNG, JOSH O’CONNOR, OLIVIA COLMAN, COLIN FIRTH, GLENDA JACKSON, SOPE DIRISU, PATSY FERRAN, EMMA D’ARCY U. A.

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Eine junge Frau spaziert nackt durch die menschenleeren Hallen eines stattlichen Landsitzes. Die Herrschaften sind ausgeflogen, es ist schließlich Mothering Sunday, also Muttertag. Mit leisen Sohlen schleicht sie über gebürstete Teppiche und leise knarzende Dielen, streicht über die Buchrücken akkurat einsortierter Lederbände in einer dunkel getäfelten Bibliothek. Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster fällt, lässt diesen weiblichen Körper als etwas Sphärisches erscheinen. Als eine vom Olymp herabgestiegene Aphrodite – oder Venus, wenn es römisch sein soll.  Dabei ist diese Venus „nur“ ein Zimmermädchen, und noch dazu eines, dass hier, in diesen Räumen, eigentlich nichts zu suchen hätte. Doch die Liebe zum Erben des ansässigen Gutsherren Sheringham ist größer und stärker als die gesellschaftliche Ordnung, welche besagt, dass Pärchen unterschiedlicher Klassen nichts gemeinsam haben sollen. Weder Ehebett noch Kinder noch ihre Ideale. Dazu ist Paul Sheringham, die große Liebe von Jane Fairchild, einer anderen Dame der Oberschicht versprochen, die während des Picknicks am See nervös auf ihren Verlobten wartet. Die Zukunft der jungen Leute, die schmieden immer noch die noblen Eltern. Dass es daraus kein Entkommen gibt, weiß auch Jane. Doch sie weiß nicht, welches Schicksal dieser Tag wohl noch bringen wird, nachdem sich Paul nach einem Nachmittag aus Leidenschaft, Hingabe und inniger Vertrautheit verabschieden muss.

Statt den Crawleys auf Downton Abbey gibt es hier die Nivens und die Sheringhams, Adelsfamilien mit Anstand und Reichtum, jedoch seelisch gezeichnet, denn wir schreiben die bitteren Nachkriegsjahre der 1920er, und Mrs. Niven (Olivia Colman) kommt über den Tod ihres Sohnes am Schlachtfeld einfach nicht hinweg. Dieser Schatten des Krieges und eine Zeit des kummervollen Phlegmatismus, in welcher Güter und Gesellschaft längst nicht die nötige Freude am Leben lukrieren, hängt über Graham Swifts Romanadaption wie die weißen Laken über dem Interieur in einem Anwesen, dass schon viel zu lange Zeit keiner mehr betreten hat. In dieser begüterten Einsamkeit bleibt Jane eine selbstbewusste Erscheinung, die gute Seele eines traurigen Hauses und gleichermaßen befähigt und rebellisch genug, starre Gesellschaftsstrukturen aufzubrechen. Die junge Australierin Odessa Young ist dabei eine Offenbarung, und am meisten zu verdanken hat sie dies Kameramann Jamie D. Ramsay, der Youngs Bereitschaft, sich durchaus freizügig in Szene setzen zu lassen, mit erotischen und enorm geschmackvollen Bildern honoriert, für die sich ein David Hamilton wohl etwas weniger kompetent fühlen könnte.

Ein Festtag, die auf mehreren Zeitebenen ausgetragene, bittersüße Erinnerung an eine Liebe, ist weder ein durch Dialoge ermüdetes Kostümdrama noch schmachtender Historienkitsch, der sich an Erfolgsshows wie Bridgerton oder Downton Abbey auch nur irgendwie anbiedern will. Ein Festtag ist auf innovative Weise losgelöst von allzu konventionellen Versatzstücken. Regisseurin Eva Husson setzt ihren Fokus vor allem auf die Inszenierung einer vertrauten, entspannten, unbeobachteten Atmosphäre aus Intimität und intellektueller Reife. Jenseits dieses Nachmittags der Zweisamkeit hadert die Oberschicht mit vergangenen und zukünftigen Schicksalen.

Der britische Virtuose James Ivory hätte diesen Stoff vermutlich dezenter umgesetzt – doch gerade die Offenheit von Hussons Sicht auf die Dinge, die im Argen liegen und andererseits so schön sein könnten, wäre Freiheit seiner Zeit nicht so sehr unterworfen, schenkt diesem Liebesfilm besondere Momente, die in seiner Art nur dort zu finden sind.

Ein Festtag

Playground

SCHLACHTFELD SCHULE

7,5/10


playground© 2022 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: BELGIEN 2021

BUCH / REGIE: LAURA WANDEL

CAST: MAYA VANDERBEQUE, GÜNTER DURET, KARIM LEKLOU, LAURA VERLINDEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 12 MIN


Die Welt der Peanuts ist eine, in der es so gut wie keine Erwachsenen gibt. Was nicht heißt, dass sie nicht ab und an auftreten, doch meist unsichtbar und aus dem Off unverständliches Zeug brabbelnd – Worte, die ein Kind nicht wirklich tangieren, es sei denn, sie werden direkt angesprochen und müssen Pflichten erledigen, die für ihr zukünftiges Fortkommen durchaus, so sagen andere, relevant sind. Charles M. Schulz hat mit seinen Comics also eine Welt kreiert, die nur den Kindern gehört. In welcher deren Regeln gelten und psychosoziale Mechanismen aus dem eigenen kindlichen Antrieb heraus entstehen. Dennoch würde Schulz womöglich niemals sagen, dass den Kindern das Kommando gegeben werden soll, wie es einst Herbert Grönemeyer in einem großen Missverständnis juveniler Psychologie gegenüber lauthals singend verlautbart hat.

Den Kindern das Kommando zu geben ist ein falscher Weg. Kindern aber die Möglichkeit zu geben, aus eigenem selbstbestimmtem Handeln heraus komplexe zwischenmenschliche Probleme erst zu verstehen, um sie dann zu lösen, ist notwendig. Das beste Biotop dafür: Die Schule. Dort passiert alles, was uns später genauso und immer noch widerfährt, nur kennen wir die Mechanismen zur Deeskalation womöglich besser – die Emotionen, die dabei im Spiel sind, verleiten aber immer noch dazu, sich aufzuführen wie ein Kind.

Playground von Laura Wandel ist wie die Peanuts, nur ohne charmanter Ironie – es ist härter, brutaler, gnadenloser. Was bei Wandels erster Regiearbeit zunehmend irritiert, ist der eng gesteckte Radius der Wahrnehmung, kurze Brennweiten und die Perspektive auf Augenhöhe der zentralen Filmfigur Nora. In Playground gibt es kein Rundherum, nur Kantine, Pausenhof und Klassenraum. Erwachsene erscheinen, sofern sie sich nicht auf Augenhöhe der Kinder begeben, als Fragmente von Körpern, die sich fast schon übergriffig und dominant ins Bild schieben. Playground ist ein Spiel mit den Hierarchien, nicht nur zwischen den Mitschülern, sondern auch und vor allem zwischen Kind und Aufsichtsperson. Fast gleicht dieses Schülerdrama einem Gefängnisfilm, in dem wilde Regeln gelten und das Recht des Stärkeren, Beliebteren.

Die Problemlage des Films ist es überdies wert, in weiterem Vorgehen ergründet zu werden: Die siebenjährige Nora beginnt ihren ersten Schultag an der Schule ihres Bruders Abel und muss sich ihr eigenes soziales Umfeld von der Pike auf neu errichten. Das scheint für den Anfang gar nicht so schwer – doch als sie merkt, dass Abel von drei Buben zusehends und immer heftiger gemobbt wird, findet sie sich in einer Zwangslage wieder: Soll sie nun, gegen den Willen von Abel, angesichts dieser psychischen und physischen Gewalt intervenieren und ihre Beliebtheit aufs Spiel setzen? Oder das Drama zu eigenen Gunsten ignorieren?

Wandel rückt keinen Millimeter von ihrer Kinderdarstellerin Maya Vanderbeque ab. Sie ist das Zentrum des Films, alles dreht sich um sie, all der Lärm vieler Stimmen, all die Gemeinheiten und all der Spott, auf dem die lern(un)willige Klassengesellschaft errichtet wird. Vanderbeques natürliches Spiel ist großartig und es ist wieder mal verblüffend anzusehen, was Filmemacher aus solchen Jungdarstellern herausholen können. Das erinnert mich an Jeremy Milikers Performance in Die beste aller Welten, einem der stärksten österreichischen Filme der letzten Jahre.

Es ist auch verblüffend, wie sehr das Verhalten von Kindern dem von Erwachsenen gleicht, nur lässt sich hier, in diesem schmerzlichen Kammerspiel, die ganze Dynamik ungefiltert beobachten. Geschickt setzt Wandel aber Wendepunkte in diesem Geschehen, bei welchen den Erwachsenen mehr oder weniger die Hände gebunden sind, und folgt dem steinigen Weg kindlicher Selbstfindung auf erzählerisch wuchtige, hochdramatische Weise.

Playground

A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani

DER FLUCH DES ANSTANDS

7/10


ahero© 2022 Filmladen


LAND / JAHR: IRAN, FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: ASGHAR FARHADI

CAST: AMIR JADIDI, MOHSEN TANABANDEH, SAHAR GOLDUST, FERESHTEH SADRE ORAFAIY, MARYAM SHAHDAEI, ALIREZA JAHANDIDEH U. A.

LÄNGE: 2 STD 7 MIN


Viel zu oft kommt alles zusammen. Das neue Startup, der Verrat am Geschäftspartner und die Trennung von der Mutter des gemeinsamen Kindes. Und als ob das nicht schon genug Zores im Leben des Iraners Rahim wäre – es kommt noch dicker. Und zwar in Form von Schulden. Der Geldgeber ist unglücklicherweise mit dessen Ex familiär verbunden und auf den Verschuldeten nicht wirklich gut zu sprechen. Also wandert dieser ins Gefängnis – bis irgendwann Licht am Ende des Tunnels aufflackert und das Geld zurückgezahlt werden kann. Normalerweise wüsste man nicht wie, doch in Asghar Farhadis Filmen ist niemals alles normal – der Skandal und die Versuchung hängen kitschigen Sonnenuntergängen gleich am Horizont und keiner kann wegsehen. Auch hier ist die Gelegenheit eine, die Diebe macht, und Rahim Soltanis neue und vor allem inoffizielle Geliebte (eine wilde Ehe ist nichts, was man vom Minarett posaunt) findet per Zufall eine herrenlose Damenhandtasche, die Güldenes in sich birgt. Mit diesem kleinen Schatz lässt sich ihr Geliebter aus dem Knast holen – doch der zögert. Warum nur? Währt nicht ehrlich am längsten? Und wäre es überhaupt moralisch vertretbar, das verlorene Geld anderer Leute für den eigenen Vorteil zu missbrauchen? Nein, sagt sich Rahim – lieber Anstand dort, wo Anstand möglich ist. Schließlich möchte sich der junge Mann auch später noch in den Spiegel schauen können. Viel mehr noch – er tut alles, um die Besitzerin der Tasche aufzuspüren. Das gelingt auch, das Gold kehrt dorthin zurück, wo es herkam – und Rahim ist in den Medien ganz plötzlich der honore Held kommender Tage.

Wäre ja alles gar nicht so schlecht. Lieber ehrlich, integer und aufrecht, als ein falscher Hund, der es sich auf Kosten anderer richtet. Da kann man sich selbst nichts vorwerfen. A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani wäre bis zu diesem Punkt sogar ein Feel-Good-Movie über den Wert der guten Tat, gleich einem idealistisch angehauchten Selbsthilfefilm, den sich hoffnungslose Misanthropen zu Herzen nehmen könnten. Nicht so bei Asghar Farhadi. Da hängt bereits von Anfang an ein Mief aus Missgunst und Selbstgerechtigkeit in der Luft. In einer Welt wie dieser ist der Pranger nicht weit entfernt von jener Stelle, an welcher Gutmenschen von ihren Taten berichten. Doch heißt es nicht in der Bibel: lass die eine Hand nicht wissen, was die andere tut? Das wäre ja prinzipiell so gekommen, doch wo Rauch ist, lodert bald ein Feuer und die Chronologie des Zufalls wird von jenen erzählt, die am wenigsten darüber wissen.

A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani ist die händeringende, betont nüchterne Passionsgeschichte eines Pechvogels, an welchem wohl kaum einer seine Schadenfreude hat. Gut gemeint ist hier teuer bezahlt und Ehrlichkeit der Traum, in welchem man plötzlich nackt mit der U-Bahn fährt. So steht er da, Rahim, eine moralisch-liberale Instanz, ein umgekehrter Hauff ’scher Peter Munk, im übertragenen Sinn gänzlich textilfrei und ohne jegliche Mittel, um sich selbst zu verteidigen. Die Ehrlichkeit, so seziert Farhadi, ist die harmlose Sackgasse, in die derjenige läuft, der sie verbreitet, verfolgt von einem schwurbelnden Mob, der den Hang zur Lüge als den stärksten Trieb verdächtigt – und sich selbst dort aufhält, wo sie am meisten verbreitet wird: In den Sozialen Medien. Die sind das wahre Damoklesschwert für Herrn Soltani, der vor lauter Stolpern über fallende Dominosteine mehr und mehr den Überblick und darüber hinaus den Halt verliert. Doch Farhadi lässt seinen Hiob nicht ganz so abstürzen wie es vielleicht Andrei Swiaginzew (Leviathan) getan hätte. Farhadi glaubt genauso wie Rahim an den Anstand, und hält es bis zuletzt für sinnvoll, diesen zu verteidigen.

A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani

The Father Who Moves Mountains

DIE GRENZEN DES MÖGLICHEN

8/10


fatherwhomovesmountains© 2021 Netflix


LAND / JAHR: RUMÄNIEN, SCHWEDEN 2021

BUCH / REGIE: DANIEL SANDU

CAST: ADRIAN TITIENI, ELENA PUREA, JUDITH STATE, VALERIU ANDRIUTÃ U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Das menschliche Verhalten ist eine Terra incognita an faszinierenden Eskapaden und bizarren Wendungen, ist beeinflusst durch das soziale Umfeld und vor allem auch durch die Erziehung. Es ist vor allem auch eines: des öfteren absolut unlogisch. So richtig glockenhell und klar werden solche Ausformungen dann, wenn eine wie auch immer geartete Extremsituation in greifbare Nähe rückt. Dann wird zumindest vom schwedischen Regisseur Ruben Östlund seziert, was das Zeug hält. Und aufgedröselt, was als Schmach unter den Teppich gekehrt werden soll. Weil es sich nicht schickt, die eigene Unzulänglichkeit einzugestehen. Höhere Gewalt schildert das Verhalten von Menschen während des Abgangs einer Lawine. The Square geht sogar noch einen Schritt weiter und sucht nach der Motivation für Zivilcourage. Was Östlund auf die Leinwand und somit aufs Tapet bringt, schafft auch der Rumäne Daniel Sandu. In ganz anderem Kontext, in einer ganz anderen Geschichte, doch die Katastrophe ist ähnlich dominant. Hier, im Festivalfilm The Father Who Moves Mountains, lotet ein verzweifelter Vater auf der Suche nach seinem Sohn die Grenzen des Möglichen aus. Das kommt gerade richtig in Zeiten wie diesen, wo Überanstrengung und Burnout die Basis dafür sind, immer besser zu werden. Auch wenn schon das Beste gegeben wird.

Dieser Mann, von dem hier die Rede ist, scheint zu seinen Dienstzeiten im rumänischen Geheimdienst so einige Strippen gezogen zu haben. Entsprechend groß ist auch noch sein Einfluss quer durchs Land. Mircea kennt viele und jeden, weiß alles besser und lässt nicht locker, wenn es darum geht, andere soweit verbal zu zermürben, damit diese das tun, was Mircea für richtig hält. Ein anderes Wort dafür ist grenzenlose Überheblichkeit. Der pensionierte Vater eines Sohnes sieht sich aber bald mit einem unlösbaren Problem konfrontiert: Sein Filius gilt zusammen mit seiner Freundin nach einer winterlichen Bergtour in der montanen Wildnis Rumäniens als verschollen. Sogleich setzt Mircea alle Hebeln in Bewegung, will gar selbst auf den Berg, um auf eigene Faust den Schutzheiligen zu spielen. Das gefällt der örtlichen Bergrettung überhaupt nicht – Zivilisten behindern nur die Suchaktion, was rational betrachtet eigentlich vollkommen klar sein sollte. Doch der Ex-Offizier beharrt auf sein Zutun und lässt ein ganzes Team an Geheimdienstlern anreisen, die ihrerseits dem Berg auf die Pelle rücken.

Der Einfluss eines Einzelnen scheint manchmal grenzenlos. Das Menschenmögliche ist bald erreicht, doch die Schmach vor dem Versagen entbehrt jegliche Vernunft. In einer selbstgefälligen und rechthaberischen Eitelkeit plustert sich Schauspieler Adrian Titieni zu einem Helden auf, der meint,  Berge versetzen zu können. Faszinierend und auch erhellend, was Daniel Sandu aus dem verzweifelten Ringen eines Vaters an Verhaltensparametern ausgraben kann. Am Ort des Geschehens, sowohl am Berg als auch im Tal, entsteht die Oligarchie eines Rettungsstaates, die alle Beteiligten nach der Pfeife eines sturen Patriarchen tanzen lässt, den sein eigener Ehrgeiz wie eine Lawine heimzusuchen droht. So tragisch das Schicksal der verschollene Wanderer auch sein mag, umso mehr gerät der Zweck für diesen aussichtslosen Rundumschlag in den Hintergrund. In diesen Momenten erreicht The Father Who Moves Mountains die garstigen Spitzen eines Ruben Östlund und zeigt auf, wo die Nächstenliebe aufhört und das eigene Ego alles andere verdrängt. Dieses sehenswerte, kluge Charakterstück ist übrigens auf Netflix zu entdecken.

The Father Who Moves Mountains

Percy

DAS GELD LIEGT AUF DEM FELD

5/10


percy© 2020 PVM Productions INC. 2019 / Mongrel Media


LAND / JAHR: USA, KANADA, INDIEN 2020

REGIE: CLARK JOHNSON

CAST: CHRISTOPHER WALKEN, CHRISTINA RICCI, ZACH BRAFF, LUKE KIRBY, ROBERTA MAXWELL, MARTIN DONOVAN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Monsanto, Bad Guy der globalen Konzernwelt: Jetzt ist das Unternehmen seit 2018 Teil von Bayer AG, der Name ist also Geschichte, und zwar eine, in welcher sich der Saatgutriese selten Freunde gemacht hat. Gerade noch dem Damoklesschwert des Giganten entronnen war ein Farmer namens Percy Schmeiser, der durch Zufall Saatgut von Monsanto auf seinen Feldern hatte. Wie man das feststellen kann? Durch Herumschnüffelei und Gen-Sequenzierung. Dabei ist den konzerneigenen Kontrolleuren aufgefallen, dass die patentierte Gen-Sequenz – nämlich das namentlich durchaus berühmt-berüchtigte Round-up – einfach so in Schmeisers Rapspflanzen auftaucht. Das geht natürlich nicht, so ganz ohne Abgaben. Doch Percy weiß von nichts. Hat niemals auch nur ein Gramm Saatgut von Monsanto erstanden, was dem Konzern natürlich egal ist – denn dieser fordert Nachzahlung. Nicht mit Percy, der alle Welt klarmachen will, dass Wind, Wetter und Evolution nicht für wirtschaftliche Gier instrumentalisiert werden können.

Dieses Unterfangen wird fast dessen Existenz kosten – zur Seite stehen ihm zumindest die Medien sowie einige NGO-Vertreter, die den hartnäckigen Farmer zumindest auch juristisch unterstützen können. Denn der geht vor Gericht, wobei natürlich der Vergleich David gegen Goliath gerne bemüht werden kann. Für den auf sein Recht pochenden Kleinunternehmer konnte Altstar Christopher Walken gewonnen werden, womit dieser nun aus der Rubrik „Was wurde aus“ getrost gestrichen werden kann. Mit Hut und Bart macht der Star aus Die durch die Hölle gehen eine gestandene Figur – ihm zur Seite entdecken wir Christina Ricci, die sich ebenfalls längere Zeit versteckt gehalten hat (wer gut aufpasst, kann sie gar im neuen Matrix-Ableger zumindest für ein paar Minuten bewundern). Doch abgesehen von diesen beiden freudvollen Momenten des Wiedersehens gerät Percy, ein Film mit brisantem Potenzial und wirtschaftsrechtlicher Aussagekraft, zu einer bedauernswert uninspirierten Auftragsarbeit, die, so hat man das Gefühl, gemacht wurde, weil sie gemacht werden muss, vielleicht auch ermöglicht durch diverse finanzielle Zuwendungen entsprechender Interessensgruppen – ich weiß es nicht.

Percy Schmeiser mag zwar als Begründer eines längst überfälligen Präzedenzfalles eine bemerkenswerte Person gewesen sein – Clark Johnson kann diesen Umstand aber nicht so recht einfangen. Vielleicht lässt sich Christopher Walken auch vermehrt lieber herumschubsen als proaktiv seinen Filmcharakter zu variieren – die Performance bleibt so eintönig wie ein Maisfeld, die Regie schleppt sich dahin. Ein Film vom Kaliber wie Vergiftete Wahrheit ist dieser halbambitionierte Beitrag zur globalen Marktwirtschaft nicht geworden.

Percy

Spencer

WER ZU SPÄT KOMMT, DEN STRAFT DER ADEL

9/10


spencer© 2021 Pablo Larrain / DCM


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN, USA, DEUTSCHLAND, CHILE 2021

REGIE: PABLO LARRAIN

DREHBUCH: STEVEN KNIGHT

CAST: KRISTEN STEWART, SALLY HAWKINS, TIMOTHY SPALL, JACK FARTHING, SEAN HARRIS, JACK NIELEN, FREDDY SPRY, STELLA GONET U. A. 

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, als Lady Diana ihren tödlichen Unfall erlitten hat. Es war Sommer, genauer gesagt Ende August, und das erste, was mich damals an diesem Ferientag geweckt hat, war der Anruf eines Freundes in aller Herrgottsfrüh. Die Princess of Wales sei tot – wie bitte, was?

Von da an wurde der Star der Gossips und Klatschzeitungen zum Mythos, der Presse und Paparazzi in ihrer Gier nach Sensation auf traurigem Posten zurückließ – und nicht nur die. Auch den ganzen britischen Adel, all die Königshäuser und das traditionelle Gemurks an Hofzeremoniell und stocksteifen Tagesriten. Lady Diana Spencer bekam Elton Johns Lied für Marylin Monroe und die Ewigkeitskarte in den Erinnerungen der Menschen. Damit können die übrigen Windsors nicht mithalten. So sehr in die Geschichte wird wohl niemand von ihnen eingehen. Naja, vielleicht die Queen herself, aber zumindest auf Platz 2. Da wird sie not amused sein, weil sie ja schließlich gewusst hat, was sich als Queen gehört – Lady Di wusste das anscheinend nicht. Oder wollte es nicht wissen. Lady Di war anders. So wie Kaiserin Sisi. Nonkonformistin und Rebellin, offen fürs Volk und willig, sich schmutzig zu machen. Diese Bodenhaftung, der gewaltsame Tod und generell ihre Ausstrahlung ergeben, überspitzt gesagt, einen Engel auf Erden. Allerdings bleibt dieser unglücklich, wie der von Wim Wenders in Himmel über Berlin.

Pablo Larrain hat diese Exorbitanz fasziniert. So, wie ihn auch Jackie Kennedy fasziniert hat und dafür Natalie Portman durch die Gänge des Weißen Hauses hat schreiten lassen. Jetzt, im Film Spencer, läuft, spukt und tanzt die hochgeschossene Blondine durch die Gänge von Sandringham House, an den Weihnachtstagen des Jahres 1991. Diana war da längst das Problemkind der Familie, die Ehe mit Prinz Charles nur noch am Papier, Kontrahentin Camilla, wenn auch nicht physisch präsent, immer allgegenwärtig. Die Familie: stocksteif und repräsentativ, gefangen in ihren königlichen Pflichten und traktiert durch die Tradition, gerade zur schönsten Zeit des Jahres. Einziger Lichtblick: Dianas Kinder. Und die Kammerzofe Maggie. Was geht da in Diana vor, wollen Larrain und Drehbuchautor Steven Knight wissen. Was treibt sie an, was macht ihr Angst und womit hadert sie? Was bringt sie zum Lächeln und was lässt sie rebellieren?

Wer glaubt, dass Diana schon genug in den Medien durchseziert und beleuchtet wurde, hat so etwas wie Spencer noch nicht gesehen. Larrains Film ist anders, unorthodox und assoziativ. Und daher wohl einer der erstaunlichsten Filme der letzten Zeit. Larrain und Steven Knight (u. a. No Turning Back) dürften sich im Vorfeld komplett aufeinander eingestimmt haben. Und nicht nur das. Jonny Greenwoods jazziger Score zum Film und Claire Mathons impressionistische Kamera sind die anderen beiden Komponenten, die das Psychogramm einer ausgegrenzten Frau zur Vollendung bringen. Dabei bildet der Film keineswegs nur Fakten ab, sondern wagt den Schritt in die freie Interpretation einer inneren Regung. Die Königsfamilie selbst: weder gut noch böse, in der eigenen kalten Einsamkeit einer ewigen Agenda einzementiert, wie Skulpturen im Schlosspark. Dazwischen windet sich Kristen Stewart als phänomenale Inkarnation einer Legende und scheint ihr Vorbild bis ins kleinste mimische Detail studiert zu haben. Spätestens jetzt wird die ehemalige Twilight-Bella wohl niemals mehr unterschätzt werden. Ihr Spiel ist offen und dem Publikum zugänglich, und zwar so sehr einladend, dass man selbst fast schon aus Anstand einen Schritt zurücktreten möchte. Doch bei Diana wäre das nicht notwendig, Diana alias Stewart (und umgekehrt) legt den Arm um den Betrachter und will ihm alles zeigen. All das Innere und das falsche Äußere, geschmückt mit Kostümen zu jeder Tages- und Nachtzeit, die sie zwar als stilvolle Modeikone ins ausgewaschene Licht des Tages setzen, die Diana aber so zeigen, wie sie nicht ist.

Diese Diskrepanz macht den Film spannend und aufwühlend. Von den ersten Minuten an, wenn Stewart sich auf dem Weg ins Schloss verfährt, nachdem dort das Militär seine Feiertagspflicht erfüllt hat, wird klar, dass dieser kunstvoll bebilderte Film etwas ganz Besonderes darstellt: eine innige Komposition aus majestätischen Zwängen und wilder Katharsis.

Spencer

Seitenwechsel

FRAUEN, DIE FARBE BEKENNEN

5/10


seitenwechsel© 2021 Netflix


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: REBECCA HALL, NACH DEM ROMAN VON NELLA LARSEN

CAST: RUTH NEGGA, TESSA THOMPSON, ALEXANDER SKARSGÅRD, ANDRÉ HOLLAND, BILL CAMP U. A.

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Einen Film, in dem es um Schwarz oder Weiß geht, in Schwarzweiß zu halten, ist eine aufgelegte Sache. Schwarzweiß kommt immer gut, mittlerweile hat dieses Stilmittel nichts mehr Angestaubtes oder Vorgestriges an sich. Die Filmgeschichte schreibt sich auch unbunt weiter, und schon allein dadurch, da es nicht sehr viele Filme sind, die sich der kontrastreichen Bildsprache hingeben, umgibt diese Werke ein intellektuelles Flair und die Note des Künstlerischen, vor allem Fotografischen. Roma, das autobiographische Erzählkino von Alfonso Cuaron, besticht durch hingebungsvolle, lange Einstellungen. Demnächst wird Kenneth Branagh es genauso tun und seine Kindheitserinnerungen in Belfast ebenfalls auf solche Weise nacherzählen. Seitenwechsel, das Regiedebüt von Schauspielerin Rebecca Hall, macht es nicht anders und findet seinen Distributor bei Netflix. Das Drama basiert auf dem gleichnamigen Roman von Nella Larsen aus den späten Zwanzigerjahren, der im Dunstkreis der Harlem Renaissance entstand. Keine leichte Sache, diesen handlungsarmen Stoff in einen bewegten Film zu packen, geht es doch einzig und allein darum, wie sich zwei hellhäutige Afroamerikanerinnen das Leben in einem anderen gesellschaftlichen Kontext ausmalen.

Auf der einen Seite gibt es Irene, gespielt von „Valkyrie“ Tessa Thompson, die als wohlhabende Medizinergattin in Harlem Zeit und Geld genug hat, um Charity-Events zu organisieren. Auf der anderen Seite gibt es die attraktive Clare, die es geschafft hat, mit der Lüge, eine reinrassige Weiße zu sein, ein Leben unter Weißen zu leben. Zufälligerweise treffen sich beide in einem Café in New York. Beide kenne sich aus früheren Tagen. Clare mit ihrer blonden Haarpracht löst mit ihrem leichten afrikanischen Einschlag bei ihrem rassistischen Ehemann keinerlei Skepsis aus, was Irene völlig irritiert, hätte sie doch selbst die Chance gehabt, ihrer Herkunft zu entfliehen und die Seiten zu wechseln. Dieses Hin und Her wiederholt sich, nachdem Clare immer wieder bei Irene in Harlem aufschlägt und ihrem Gatten schöne Augen macht. Vielleicht, weil sie es nicht länger aushalten kann, ihre ethnische Identität zu verleugnen.

Die wirkliche – und einzige – Stärke an diesem Film sind neben der erlesenen Kameraführung von Eduard Grau (u. a. A Single Man, Buried) die völlige Verwirrung in Sachen hautfarbener Nuancen. Ruth Negga wirkt in dieser entsättigten Optik wirklich nicht so, als hätte sie afrikanische Vorfahren. Tessa Thompson schon eher. Doch ich will gar nicht so sehr über anthropologische Besonderheiten nachdenken. Das diesen Äußerlichkeiten eine solche Wichtigkeit beigemessen wird, erzeugt ein seltsames Unwohlsein, und man selbst erkennt, dass soziale Unterschiede niemals an sichtbaren Nuancen klassifizieren werden darf, so falsch fühlt sich dieser Umstand an. Diese Gefühlsregung provoziert Rebecca Hall natürlich ganz bewusst. Durch diese entsättigte Bildsprache ist Schwarz gleich Weiß und Weiß gleich Schwarz – Unterschiede verlieren sich im hart kontrastierten Schatten, der aber ziemlich selten zu sehen ist, da der Grauton vorherrscht und die Kluft zwischen beiden Gesellschaften schließen will, was auch am Ende des Films seinen Höhepunkt erfährt.

Für Seitenwechsel braucht man viel Geduld, denn oft tritt das dialoglastige Zeitbild auf der Stelle. Abgesehen von seiner Metaebene im Visuellen verweilt die narrative Ebene auf dem Niveau nachmittäglicher Smalltalks beim Tee oder eines verbal begleiteten Umtrunks zu gesellschaftlichen Anlässen, wo Reich, Schön und Distinguiert über Politik, Literatur und Kunst philosophiert. Regisseurin Hall verliert sich in den Gesichtern ihrer beiden Darstellerinnen, in ihren Frisuren und schicken Kleidern. In noblen Zimmerfluren und Champagnerperlen. Diese Details sorgen für eine elegante Fadesse, bei der man sich wünschen würde, dass das eigentliche Problem so sehr am Schopf gepackt wird, dass irgendjemand zur Abwechslung laut aufschreit. Die Stimme erhebt aber keiner, und daher ist  Seitenwechsel nur ein Lippenbekenntnis für etwas, das Frau, auch wenn sie sonst schon alles hat, nicht haben kann.

Seitenwechsel

Pig

MEHR SCHWEIN ALS SEIN

6/10


pig© 2021 Metropolitan FilmExport

LAND / JAHR: USA, GROSSBRITANNIEN 2021

BUCH & REGIE: MICHAEL SARNOSKI

CAST: NICOLAS CAGE, ALEX WOLFF, ADAM ARKIN, DARIUS PIERCE, NINA BELFORTE U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Hat man im Mittelalter Schwein gehabt, so war man womöglich als letzter aus welchen Wettkämpfen auch immer mit einem Borstenvieh unterm Arm hervor- und heimgegangen. Als Trostpreis war das zumindest mal nicht nichts. Denn ein solches Tier kann man, wenn man geschickt ist, durchaus zu Sinnvollem abrichten. Wie zum Beispiel dafür, Trüffel aufzuspüren. Manche sind da richtige Naturtalente, und so ein Naturtalent hegt und pflegt der mürrische alte Nicolas Cage in dem höchst eigenwilligen Drama Pig. Der rostrote, niedliche Grunzer schnüffelt für den verwahrlosten Waldschrat den lieben langen Tag nach den edelsten aller Pilze, die dieser dann gegen Lebensmittel tauscht. So lässt es sich leben, abseits der Zivilisation. Bis Rob, so Cages Filmfigur, ganz plötzlich überfallen und das Glücksschwein gestohlen wird. Dass das Tier weitaus mehr Bedeutung für den wortkargen Eigenbrötler hat als nur die Verpflegung zu garantieren, ist längst klar. Also muss Rob zurück in die Zivilisation – und trifft dabei unweigerlich auf Spuren seines früheren Lebens.

Nicolas Cage ist nach wie vor ein faszinierender Schauspieler. Seine abseits vom Mainstream befindliche Filmwahl ist eine Methode, die langsam aufgeht – und die einer wie Bruce Willis zum Beispiel nicht versteht, denn der macht nur noch Schrott. Cage ist flexibel, anpassungsfähig, und vor allem: experimentierfreudig. Dabei entstehen Projekte, die schwer einzuordnen sind, die für Überraschungen sorgen und Coppolas Neffen als Botschafter risikobereiter Extravaganz auf die Bühne holen. Pig ist zum Beispiel auch so ein Film, der – angekündigt als etwas, das ungefähr so sein soll wie John Wick – diesen Erwartungen wohl zuwiderläuft. Macht aber nichts. John Wick ist nicht etwas, das man pausenlos kopieren muss. Die Ausgangssituation mag zwar sehr vage daran erinnern, Nicolas Cages trauriger Gestalt eines vom Leben abgewendeten Aussteigers kommt Gewalt als Lösung aber überhaupt nicht in den Sinn.

In diesem durchaus sehr düsteren Drama um Lebensentwürfe, Verlust und seelischen Schmerz, das sich allerdings weigert, eine Tier-Mensch-Geschichte zu erzählen, gibt Cage ganz ohne überzeichnetem Spiel das Psychogramm eines Elenden. Irgendwie erinnert dieser an das Wiener Original Hermes Phettberg, nur in einer Grunge-Version zum Quadrat. Blut klebt am Gesicht, das Hemd steht von alleine. Und müffeln muss der Typ, der sich niemals wäscht – da können noch so viele Wunderbäume im Auto hängen. Dennoch: Cage alias Rob ist eine Gestalt, die Geschichte hat. Die Suche nach dem Schwein erleichtert das nicht. Stattdessen gelingt dem Faktotum eine Art Läuterungstour durch eine zynische und unechte Gesellschaft, die keine wirklichen Werte mehr besitzt. Und das wenige, was vielleicht einen Wert hätte, nicht mehr zu schätzen weiß.

Ein Thriller oder gar ein Actionfilm ist Pig aber ganz und gar nicht. In seiner Schwermut kommt er gar an das beachtenswerte Rachedrama Aftermath mit Arnold Schwarzenegger heran. Michael Sarnoskis Regiedebüt erfreut aber durch seine ungefällige Mieselsucht längst nicht die Herzen eines breiten Publikums, sondern brütet, von errungenen Erkenntnissen belastet, vor sich hin wie sein verlorener Antiheld, der nicht mal mehr Schwein hat.

Pig