Universal Language (2024)

BABEL LIEGT IN KANADA

8,5/10


universallanguage© 2024 Viennale


LAND / JAHR: KANADA 2024

REGIE: MATTHEW RANKIN

DREHBUCH: ILA FIROUZABADI, PIROUZ NEMATI, MATTHEW RANKIN

CAST: MATTHEW RANKIN, PIROUZ NEMATI, ROJINA ESMAEILI, SABA VAHEDYOUSEFI, SOBHAN JAVADI, MANI SOLEYMANLOU, DANIELLE FICHAUD U. A.

LÄNGE: 1 STD 29 MIN


Eines hatten mehrere Filme in der Auswahl der Viennale gemeinsam: In ihnen war es saukalt. In Anora herrschten Minusgrade, in The Damned froren sich sämtliche Soldaten der Nordstaaten während des Bürgerkrieges den Allerwertesten ab, und in Universal Language wird Winnipeg, die Hauptstadt Manitobas in Kanada, zur urbanen Frostbeule, in der es so kalt ist, dass die Wäsche am Balkon, die andere zum Trocknen aufhängen, bretthart gefriert. Allerdings, so ließ sich Darsteller Pirouz Nemati während eines Q&A nach dem Film entlocken, ist die Darstellung der Kälte in diesem Film keinesfalls übertrieben. Den Klimawandel würde man dort wohl kaum vermuten, wohl schon eher den Wandel der Sprachen. Denn so seltsam es auch klingen mag und, sofern man sich nicht selbst davon überzeugen könnte, es niemals glauben möchte: In Winnipeg spricht man Farsi.

Man nehme die Welt mit all ihren Bewohnern und schüttelt sie wie in einer Schneekugel (das passt sogar) einmal gründlich durch. Sprachen und Orte verschieben sich. Ein neues Babel entsteht, mit dem Mikroskop hält Matthew Rankin aber weiterhin gezielt auf die merkwürdigen, gesellschaftlichen Strukturen der Bewohner einer Stadt, die Insider wohl szenenweise wiedererkennen würden, andere jedoch keinesfalls. In dieser Stadt, in diesem Stadtkreis, ist das einzige große Rätsel nur der gemeinsame Nenner vieler kleiner Obskuritäten. Ein Panoptikum surrealer Miniaturen wird hinter einer sinnbildlich bröckelnden Fassade schmuck- und fensterloser Häuserfronten sichtbar, auch im Eis stecken so manche Schätze, die geborgen werden wollen. Doch gerade ein Wunsch wie dieser tritt eine Kette an kausalzusammenhängenden Ereignissen los, die immer tiefer und immer lustvoller durch einen Kosmos mäandern, der nur in Träumen existieren kann. Es ist dies wohl der ungewöhnlichste und verblüffendste Film der diesjährigen Filmfestspiele in Wien. Eine Schmuckschatulle, prall gefüllt mit Ideen, die eine karussellartige Geschichte erzählen. Von Truthähnen, Kleenex-Tüchern und einer Neudefinition für den Tourismus attraktiver Sehenswürdigkeiten, für die man mal gut und gerne nicht nur eine Schweigeminute einlegt.

Der kanadische Filmemacher und Visionär Matthew Rankin, bislang stets mit Kurzfilmen vertreten und 2019 mit der bizarren Fake-Biografie The Twentieth Century im Langfilm debütiert, könnte mit Universal Language den Grundstein dafür legen, auch zukünftig ein ausgesuchtes Publikum mit Hang zum Absurden begeistern zu können. Die Herren Wes Anderson – jeder kennt ihn mittlerweile als Ensemblefilmer, dem die Stars die Türen einrennen – und der Schwede Roy Andersson (Über die Unendlichkeit) haben es bereits vorgemacht. Ihre Filme wären in einem Pulk von tausenden anderen so leicht zu erkennen, da ihren Stil und ihre Handschrift niemand sonst imitieren kann. Das Setzkastenkino von Wes Anderson mag wahrlich kurios sein – der Wille zur Dekoration seiner Sets mag aber manchesmal den Tiefgang außen vorlassen. Bei Roy Andersson ist das anders. Seine Momentaufnahmen grimmig-existenzialistischer Alptraumszenen rütteln am Gemüt und vermitteln gespenstisches Bilderbuchkino. Matthew Rankin braucht keine Stars. Seine Kunst erinnert unweigerlich an beide, findet dabei jedoch eine andere Mitte, einen anderen Schwerpunkt. Universal Language hinterfragt gesellschaftliche Strukturen, Wertigkeiten und Identitäten. Er verzerrt auf burleske Weise die Marktwirtschaft, den Familiensinn und menschliche Fehler in der Kommunikation. So skurril-witzig seine Anekdoten auch sind, so lakonisch-melancholisch balancieren sie am Rande einer tieftraurigen, tränenreichen Schwermut. Rankins Tableaus sind nicht von dieser Welt, sie erzählen von einem alternativen Universum voller liebenswerter, aber gewöhnungsbedürftiger Figuren. Dieser frische Wind im Kino des Surrealen ist schneidend kalt. Die Beziehungen unter den Menschen der einzige Weg, sich zu wärmen.

Universal Language (2024)

Über die Unendlichkeit

WO DER MENSCH NICHT WEITER WEISS

6,5/10


unendlichkeit© 2019 Neue Visionen


LAND: SCHWEDEN 2019

REGIE: ROY ANDERSSON

CAST: MARTIN SERNER, JAN-EJE FERLING, TATIANA DELAUNAY, LESLEY LEICHTWEIS BERNARDI, ANIA NOVA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 16 MIN


Wer einmal schon einen Film vom Schweden Roy Andersson gesehen hat, wird wissen, was auf ihn zukommt. Alle anderen hingegen werden feststellen – zum eigenen Leidwesen oder in staunender Verzückung – dass Filmemachen auch komplett anders funktionieren kann. Über die Unendlichkeit lässt sich mit nichts vergleichen, was außerhalb des Roy Andersson-Universum sonst noch im Kino oder Stream läuft. Roy Andersson muss man mögen, andererseits aber auch nicht zwingend ablehnen. Einlassen muss man sich drauf, sonst wird das nichts. Denn einen roten Faden hat das Ganze nur sekundär.

Dabei hat Andersson in seinen Filmen immer nur eins zum Thema: die Irrfahrten einer ratlosen Menschheit durch den Alltag. Die verlorenen, ausgezehrten, blassen Gestalten in ebenso blassen Kleidern, eingebettet in einer grauen, bis in alle Ferne detailverliebten Umgebung, hadern mit dem Glauben, mit der Liebe, mit rosigen Aussichten auf die Zukunft. Andersson gibt sie aber nicht auf. Er lässt sie zu Miniaturen werden, zu kleinen Häufleins der Gattung Homo sapiens, die er in Pop-Up-Bilder bettet, die wie Guckkastenbühnen statisch verharren und alle Auftritte ins Bild stolpern lassen. Doch nicht nur das – manchmal sind sie auch längt da, sind genauso statisch wie das akkurat arrangierte Bild und sind Teil des Interieurs oder der Straßenszene. Anderssons Film Songs from the Second Floor ist ein Meisterwerk – später war der Alltagsphilosph nie mehr so radikal. Im Gegenteil. Seine Filme werden immer kleiner, nüchterner, verlieren ihre eigentliche Pointe. Manchmal mag das ein unglücklicher Schachzug sein. Dann verweilt man als Zuseher vor tristen Gemälden, in denen sich ganz plötzlich ganz wenige Komponenten in Bewegung setzen. Eine Stimme aus dem Off, die eines Mädchens, sagt, was sie sieht. So, als wäre sie ein Engel, eine Entität über dem Geschehen. Dadurch wird die Verzweiflung des Einzelnen noch kleiner, und das angesichts völlig banaler Situationen, die uns selbst immer wieder schon passiert sind. Am Bahnhof nicht abgeholt zu werden, weinend im Bus zu sitzen. Am Grab eines geliebten Menschen stehend. Zwischendurch dann ganz andere Probleme: der Ehrenmord an die eigene Tochter, Hitlers letzte Momente im Bunker, eine Karawane Kriegsgefangener durch die Ödnis Sibiriens. Was genau, so fragt Andersson, ist des Menschen Problem? Und ist er in der Lage, sich und sein Leben entsprechend zu differenzieren? Sein Glück in Relation zu setzen zu dem, was sonst noch passiert auf diesem Planeten?

Ein Priester, der seinen Glauben verloren hat, der geistert immer wieder mal durch die scheinbar wahllos arrangierten, oft nur minutenlangen Szenen. Hinter jeder steckt ein enormer inszenatorischer Aufwand. Es ist eine Kunst, Schauspiel und Film dermaßen formelhaft wiederzugeben, wie eine Spieluhr, deren Szenen immer wieder ablaufen, bis der volle Tag vorüber ist und die Vögel weiterziehen. Über die Unendlichkeit ist zwar längst nicht so stark und akzentuiert wie Anderssons Vorgänger, es bleibt aber immer noch genug Restgedanke über, um einen Prolog zu seinem bisherigen Schaffen zu kollektivieren, der ähnliches zu sagen hat wie alles Bisherige. Ein Bewegtbilderbuch auf großer Leinwand, karg und gleichzeitig opulent – jedenfalls eines: die absolute Kehrseite des Mainstreams.

Über die Unendlichkeit