Sick of Myself (2022)

DIE SYMPTOME DER GELTUNGSSUCHT

6/10


sickofmyself© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: NORWEGEN, SCHWEDEN 2022

BUCH / REGIE: KRISTOFFER BORGLI

CAST: KRISTINE KUJATH THORP, EIRIK SÆTHER, FANNY VAAGER, FREDRIK STENBERG DITLEV-SIMONS, SARAH FRANCESCA BRÆNNE, INGRID VOLLAN, STEINAR KLOUMAN HALLERT, ANDREA BRAEIN HOVIG U. A.

LÄNGE: 1 STD 37 MIN


So mancher und so manchem wird dieses Gefühl vielleicht fremd sein – ich selbst aber kenne das von früher, als ich noch nicht wusste, worum es im Leben eigentlich gehen sollte: Das Gefühl einer selbstwertgefährdenden Niederlage, die daraus resultiert, nicht im Mittelpunkt zu stehen. Alles dafür getan zu haben, aber doch nicht wichtig genug zu sein. In einer Gesellschaft, in der man den Wert des Menschen eigentlich nur über seine Leistung definiert, und wenn nicht darüber, dann über das Geld, sollte man sich selbst genug sein. Das schützt vor so mancher Schmach oder dem Umstand, dass einem beim Versuch, alle Blicke auf sich zu ziehen, die Puste ausgeht. Andere wollen um jeden Preis – und wirklich um jeden Preis – die Aufmerksamkeit aller. Wollen bewundert, und wenn nicht bewundert, dann bemitleidet werden, weil sie ein Opfer bringen oder Opfer von irgend etwas anderem geworden sind. Das ist schon pathologisch. Und diese Art krankhafte Geltungssucht, die hat nun ein Gesicht. Und zwar ein entstelltes.

In der norwegischen Psychosatire Sick of Myself kommt man aus dem Staunen nicht heraus, wenn klar wird, dass dieser betriebene Exzess zugunsten eines zweifelhaften Ruhms durchaus realistisch sein kann. Im Mittelpunkt – und dieser wird ihr den ganzen Film hindurch nicht genommen – steht eine junge Frau namens Signe, die mit ihrem Freund zusammenlebt, der in der Kunstszene schon zu einigem Renommee gekommen ist. Das schmeckt Signe, die „nur“ in einer Bäckerei arbeitet und sonst kaum Hobbys hat, gar nicht. Auch sie will gesehen, gehört und bewundert werden, so wie ihr Freund. Und sobald sich alles um ihn dreht, findet sie Mittel und Wege, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das beginnt noch mit kleinen, perfiden Spielereien, wie zum Beispiel dem Vortäuschen einer Lebensmittelallergie. Als das auch nicht mehr zieht, beschafft sie sich auf illegalem Wege obskure russische Medikamente, die bei kontinuierlicher Einnahme zu horrenden körperlichen Schäden führen. Sprich: Der Weg zum Quasimodo ist geebnet, Signe macht sich, wie der Titel schon prophezeit, selbst krank und tut so, als käme diese Pein aus heiterem Himmel. Ihr Gesicht ist vernarbt, der Körper voller Flecken. Der Freundeskreis ist, so wie wir im Publikum, abgestoßen und fasziniert zugleich. Zeigt Mitleid und Bewunderung, wie Signe es meistert, damit umzugehen. Bald schon erscheint ein Artikel in der Zeitung, doch das ist unserer „Patientin“ nicht genug. Sie will noch mehr Aufmerksamkeit. Sie will den Ruhm und die Wichtigkeit, die andere haben, nur nicht sie. Wohin das führt? Zur Frau im Essigkrug.

Die Idee des bei den letztjährigen Cannes Filmfestspielen in der Kategorie Un Certain Regard gezeigten Werks des Autorenfilmers Kristoffer Borgli ist eine, deren filmische Umsetzung recht reizvoll erscheint, ist doch das Thema eines, das den Zeitgeist trifft und das Phänomen Social Media auf seine Grundmotivationen herunterbricht. Die Freakshow um einen Minderwertigkeitskomplex und seine Folgen zieht in seinen Bann, man kann nicht wegschauen, man kann nur verblüfft staunen, wie sehr ein flüchtiger Wert wie Ruhm ein Leben ruinieren kann. Und dennoch ist Sick of Myself etwas einseitig geraten. Wir beobachten Signes selbstkreierten Leidensweg lediglich aus ihrer Sicht, ihr Lebensentwurf ist der einzige, der im Film zur Verfügung steht. Somit sucht die Satire keinen Diskurs, sondern wirkt selbst wie ein Beipackzettel für ein Medikament, dass hochgradig suchtgefährdend ist. Auf die Dauer wird die Chronik der Ereignisse redundant, und nur vereinzelt gibt es erhellende Spitzen. Im ähnlich positionierten Satiredrama Not Okay von Quinn Shephard mit Zoey Deutch als Lügenbaronesse findet der moralische Konflikt viel effizienter statt, während Sick of Myself kaum Wert auf ein Echo legt. In Not Okay gibt eine alternative Weltsicht kontra und lädt zur vehementen Auseinandersetzung mit den Prioritäten des Lebens. Das mag vielleicht gefälliger sein, dafür aber eingängiger. In der norwegischen Groteske allerdings entbehrt die Gesellschaft keine helfende Hand, und auch den Unterschied zwischen Realität und Fiktion muss man erst erlernen, führt die Mixtur aus beiden anfangs zu einiger Konfusion. Später hat man den Dreh raus, nur Signe nicht. Für Erkenntnis bleibt kein Platz, doch immerhin hat der Freak seine Blase gefunden.

Sick of Myself (2022)

Triangle of Sadness

REICHTUM IST (K)EINE SCHANDE

6/10


triangleofsadness© 2022 Alamode Film


LAND / JAHR: SCHWEDEN, GROSSBRITANNIEN, USA, FRANKREICH, GRIECHENLAND, TÜRKEI 2022

BUCH / REGIE: RUBEN ÖSTLUND

CAST: HARRIS DICKINSON, CHARLBI DEAN KRIEK, WOODY HARRELSON, DOLLY DE LEON, ZLATKO BURIĆ, IRIS BERBEN, SUNNYI MELLES, VICKI BERLIN, OLIVER FORD DAVIS U. A. 

LÄNGE: 2 STD 27 MIN


Equality, Gender Pay Gap, Kapitalismus, Kommunismus und Rüstungsindustrie. Opportunismus, Klassenkampf, das Model-Biz und die Inhaltsleere von Social Media. Hab ich etwas vergessen? Die Gier der Reichen vielleicht? Oder gleich alle Todsünden? Nein, mit diesen hat Ruben Östlund in seinem Cannes-Gewinner nichts am Hut. Maßlosigkeit und Völlerei finden wir im Monty Python-Klassiker Der Sinn des Lebens wieder, und spätestens beim Minzplätzchen im schicken Restaurant braucht der Zuseher vielleicht selbst einen Kübel, denn da bringt die Komikertruppe ihr gesellschaftskritisches Fass im wahrsten Sinne des Wortes zum Überlaufen.

Bei Östlund sind es die Klos auf einer Luxusyacht, welche die mangelnde Seefestigkeit ihrer steinreichen Passagiere nicht mehr kompensieren können. Und ja: das kann passieren, ist aber keine Strafe für gelebten Reichtum. Denn Reichtum per se ist keine Schande. Menschen wie jene, denen auf diesem Narrenschiff das große Kotzen kommt, haben nun mal Geld und Einfluss. Doch sie sind weder gierig noch gemein noch maßlos. Vielleicht etwas blasiert, sonst aber nur unfassbar naiv. Wie Kinder in der Heileweltblase eines Spieleparadieses mit Bällchenbad. Wie Ludwig XVI. in seinem Versailles, umringt von Speichelleckern und einer angekrochen kommenden Entourage, die jeden Wunsch von den Augen abliest. Das Geld macht alles heil und jeden willig. Das Geld ist die Schaumstoffmatte beim Fall aus geringer Höhe, ist das einlullende Schlaflied am Ende des Tages. Seltsame Leute, so weltfremd und kleinkariert, und doch so erfolgreich. Wie passt das zusammen? Östlund seziert dieses Dilemma. Er will dies mit feiner Klinge tun, so wie er dies bei seinem Erstling Höhere Gewalt getan hat. Akkurat, mit kühlem Kopf, und aus sicherer Distanz, um der Lawine an Einsichten nicht zu nah zu kommen.

Bei Triangle of Sadness – die Kummerfalten im Südbereich der Stirn, knapp über den Augen und ungeeignet für eine Modelkarriere – hat Östlund viel zu sagen, und es gefällt ihm anscheinend gar nicht, wohin sich die Gesellschaft entwickelt hat. Alle Menschen scheinen ihm zuwider, aber doch nicht in einem Ausmaß, der ihnen unangenehm werden könnte. Man kann ja da und dort ein bisschen triezen, mit dem moralischen Finger in die Leistengegend der anderen stochern. Während die Reichen, denen der Reichtum in den Schoß gefallen zu sein scheint, ihren Überfluss hinnehmen wie eine Magenverstimmung, will Östlund mit seinem Überfluss an belangvollen Themen keines so wirklich präferieren. Der von Woody Harrelson und Zlatko Burić so zitatenreich ins Feld geführte Kommunismus schwappt also auf den Film über. Marx hätte mit Triangle of Sadness wohl seine Freude gehabt, er hätte sich spätestens dann köstlich amüsiert, wenn die Umkehr der Hierarchien die Nutzlosigkeit des profitgeilen Establishments zum Vorschein bringt. 

Doch bevor es so weit kommt, und bevor die uns allen längst bewusst gewordene globale Unfairness in handzahmen satirischen Spitzen, die offene Türen einrennen, ihren Ausgleich sucht, kreiert die erste von drei zusammenhängenden, aber unterschiedlich platzierten Episoden im schnell verfassten Plauderton alltagsparadoxen Kabarettstoff für die Kleinkunstbühne, der aber kaum die Wucht hat, um szenenlang über Gleichberechtigung und den Wert des Geldes zu polemisieren. Im Mittelteil wird das groteske Drama dann so richtig zum Östlund-Anarchismus, und wenn diesmal auch nicht der Affenmensch die eitle Gesellschaft sprengt, ist es die gemarterte Sunnyi Melles, die mit ihrer bizarren Brechdurchfall-Performance (Hut ab vor so viel inszenierter Selbsterniedrigung) die kleinen, obskuren Eitelkeiten mit dem magensauren Wischmopp beiseitefegt. Ja, dieses Spiel mit den Erwartungen ist Östlunds Stärke. Dieses Vorführen eines sich in Sicherheit wiegenden Publikums.

Was Östlund noch tut: Er weigert sich, seine Figuren zu verzerren. Stattdessen verzerrt er ihr Umfeld und das, was ihnen geschieht. Durch diese Diskrepanz entsteht ein subversives Echo – bei The Square war dies am stärksten, bei Triangle of Sadness ist das Umfeld der Figuren ein überraschend geradliniges Worst Case Szenario, was auch der Grund sein mag für ein schleppendes letztes Drittel. Eine Insel-Mystery á la Lost, die das System hinterfragt, aber auf der Stelle tritt. Den Östlund‘schen Bruch gibt es nur einmal – dass dieser seine Satire nochmal auf die Spitze treibt wie beim Versenken seiner Luxusjacht, würde man sich vielleicht wünschen – oder auch nicht. Letzten Endes lässt sich der Cannes-Doppelsieger aber zu keinen neuen Sichtweisen mehr motivieren.

Triangle of Sadness

Ach du Scheiße!

VON WEGEN STILLES ÖRTCHEN

6,5/10


achduscheisse© 2022 Drop Out Cinema / Daniel Dornhoefer


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2021

BUCH / REGIE: LUKAS RINKER

CAST: THOMAS NIEHAUS, GEDEON BURKHARD, OLGA VON LUCKWALD, FRIEDERIKE KEMPTER, RODNEY CHARLES, UKE BOSSE, BJÖRN MEYER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


So, jetzt mal ganz im Ernst: Widmen wir uns den wichtigen Dingen des Lebens. Den wirklich wirklich wichtigen. Denn alles im Leben steht und fällt mit einer gesunden Verdauung. Der Knüppel zwischen den Beinen auf dem Weg dorthin könnte unter Umständen eine besetzte Toilette sein. Nicht auszudenken, wenn die Natur ihr Recht einfordert, und man nirgendwo hinkann. Was aber, wenn die Natur gerade mal gar nichts zu sagen hat, der Kaiser längst zu Fuß dorthin gegangen ist und dieser von dort nicht mehr wegkommt? Das ist dem einen oder anderen vielleicht schon mal als Kind passiert. Da schließt man sich am Klo ein, bekommt die Tür aber nicht mehr auf. Ein Albtraum. Ungefähr so ergeht es einem Architekten namens Frank, der inmitten eines umgekippten blauen Dixie (oder Toi Toi)-Klos erwacht, gar nicht weiß, wie er hierhergekommen und zu allem Übel auch noch in einer Baugrube gelandet ist, aus welcher geriffelte Stahldrähte gen Himmel ragen und eine davor direkt durch Franks linken Unterarm geht. So ein Anblick fördert dann doch einen panischen Urschrei zutage, wie in Thomas Niehaus tätigt. Nur: Am Lokus hört dich niemand schreien. Zumindest nicht auf diesem.

Aber gut. Diese ganze verzwickte Situation würde sich irgendwann (und hoffentlich noch, bevor Frank verblutet) in Wohlgefallen auflösen, wäre da nicht eine ins „Häusl“ stehende geplante Sprengung, die in Kürze das ganze Areal einmal umkrempeln würde. Und zwar einschließlich unseres Alltagshelden, der jetzt schon nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, und es ist ja am Ende des Tages nicht so, als hätte Frank im Laufe des Films nicht alles versucht. Regisseur und Drehbuchautor Lukas Rinker schenkt ihm dafür satte 91 Minuten Laufzeit, was man von einem Film, der nur auf maximal zwei Quadratmetern spielt, vielleicht als allzu großzügig ansehen kann oder eben auch nicht, denn es gibt im Laufe der Filmgeschichte so einige Werke, die ihre Spannung trotz der eingeschränkten Parameter mühelos halten konnten. Buried– Lebendig begraben mit Ryan Reynolds zum Beispiel. Dann gibt es Joel Schumachers Telefonzellenpartie Nicht Auflegen! (heutzutage nicht mehr möglich, da sowieso jeder ein Handy hat – auch Frank) oder den Science-Fiction-Film Oxygen mit Mélanie Laurent. Alle diese Arbeiten funktionieren auf ihre Weise. Und tatsächlich schafft es Ach du Scheiße! ebenfalls, seinen Plot niemals nur aufs notdurftbedingte Zeitunglesen zu beschränken, sondern gefühlt alles in diesem versifften Plastiksarg zur Befreiung einzusetzen.

Dazu gehört auch das lautstarke Organ von Thomas Niehaus. Dieser Mann greift für sein Leben tief ins Klo, brüllt und schreit sich die Seele aus dem Leib. Spuckt, flucht, schwitzt und besudelt sich mit Blut. Der Stress steht ihm ins Gesicht geschrieben, Visionen von sprechenden Klobrillen dienen dazu, nicht oder doch komplett den Verstand zu verlieren. Wer als Hygieneverfechter stets sein Fläschchen Hochprozentigen für die Hände mithat und niemals auch nur in den Dunstkreis einer öffentlichen Toilette tritt, wird Ach du Scheiße! nur schwer aushalten können. Durch den Supergau aus Fäkalien, Handseife und übertrieben viel Blut muss man sich als Zuseher erstmal durcharbeiten wollen, um dann dazwischen auch sowas wie eine kleine, feine Romanze zu entdecken und die in groben Zügen verfasste Tragödie eines Verrats, ausgeübt von Gedeon Burkhard in seiner wohl schludrigsten Performance, die gegen die Qualität von Thomas Niehaus‘ expressivem Spiel erbarmungslos abstinkt. Durch Burkhardt, der ja sogar schon mal für Tarantino vor der Kamera stand, hievt sich Ach du Scheiße! gegen Ende auf die Bauernbühne, mit Unterstützung zweier Dorfgendarmen, entliehen aus irgendeinem der Eberhofer-Krimis.

Natürlich ist Ach du Scheiße! eine wilde Mischung aus Trash und Splatter, welche sich in den starken Momenten mit voller Konzentration auf Thomas Niehaus zu einem kuriosen Survival-Thriller auswächst, dem Ekel einfach fremd sein muss und der sich mit dem Siff verbrüdert, um seinen Protagonisten halbwegs heil aus der Scheiße zu ziehen. Da fallen die klamaukigen Elemente rund ums Klo vom Herzstück des Films ziemlich ab und wirken in ihrer Beliebigkeit wie hingeworfen. Wer da den Schließmuskel noch zudrücken kann, hat aber mit Sicherheit reuelosen Spaß dabei und es lohnt sich, diesem irrwitzigen Escape-Toilet-Reißer durch den Abfluss zu folgen.

Ach du Scheiße!

Men & Chicken

ICH WOLLT‘ ICH WÄR EIN HUHN

7/10


menchicken© 2015 DCM Film Distributions


LAND / JAHR: DÄNEMARK 2015

BUCH / REGIE: ANDERS THOMAS JENSEN

CAST: MAD MIKKELSEN, DAVID DENCIK, SØREN MALLING, NIKOLAJ LIE KAAS, NICOLAS BRO, OLE THESTRUP U. A. 

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Der Däne Anders Thomas Jensen ist wohl der Mann, der uns Männer am besten versteht. Seine Filme sind die einzig wahren Männerfilme, und dabei ist es ein falscher Weg, anzunehmen, Männerfilme seien solche mit ordentlich Wumms und Jason Statham und die hübsche Dame am Ende, die dem Dreitagebart-Solokämpfer schmachtend um den Hals fällt. Nein, sowas sind keine Männerfilme. Da braucht es schon mehr Gefühl. Wie Anders Thomas Jensen es eben hat. Würden wir Männer all den Schnickschnack und die ganze Fassade endlich weglassen, würde zum Vorschein kommen, was sich in seinen Filmen stets beobachten lässt: Verschrobenene, komplexbeladenene Sonderlinge mit nerdigen Skills und wenig Chancen beim weiblichen Geschlecht. Erziehungsgestört, aber liebesbedürftig und nicht wissend wohin mit der Libido. Das sind Szenarien, die lassen sich mit nichts vergleichen. Adams Äpfel zum Beispiel: Männer im Miteinander. Was da für eine Eigendynamik entsteht, muss man entdecken. Zuletzt im Kino: Helden der Wahrscheinlichkeit. Auch hier maskuline Handschlagsqualitäten und XY-Freundschaften, die das Universum in seiner Logik ad absurdum führen. Mit Men & Chicken schießt Jensen in Sachen Groteske aber wirklich den flugunfähigen Vogel ab. Hier finden Brüder zueinander, denen man, würde man sie nicht näher kennen, tunlichst aus dem Weg gehen würde. Auf dem zweiten Blick aber ist die Freakshow eine sensible Angelegenheit, über die unangebracht wäre, sich lustig zu machen. Das geht vielleicht nur, weg man wegsieht. Was wiederum nicht gelingt, bei all den verqueren Ideen, die Anders Thomas Jensen hier Stück für Stück aneinanderreiht. Men & Chicken ist ein irres Panoptikum über Verwandtschaft, Gene und das Tier im Manne.

Es ist schon eigenartig, wie alles anfängt. Da sind die Brüder Gabriel und Elias (Mads Mikkelsen in seiner wirklich schrägsten Rolle – ein Beweis mehr, was der Mann alles spielen kann), die eines Tages vom Tod ihres Vaters erfahren, der wiederum eine Videobotschaft hinterlassen hat, die besagt, dass beide im Grunde adoptiert sind und ihr richtiger Vater auf der Insel Ork (!) lebt. Die beiden machen sich auf die Reise und stoßen dort auf eine Bruchbude von Herrenhaus, in dem drei weitere Brüder hausen, gemeinsam mit unzähligen Nutztieren aller Art, alle mit einer Hasenscharte, alle verwahrlost, verpeilt und unheilbar exzentrisch. Und auch so ziemlich pervers, gelinde gesagt. Der Vater selbst lässt sich nicht blicken, und so richtig willkommen sind Gabriel und Elias auch nicht. Die Hartnäckigkeit der beiden macht sich aber bezahlt, und nach und nach ändert sich so einiges im Leben außerhalb der Norm.

Über Geschmack lässt sich streiten. Über das Ziehen der Grenze vom guten zum schlechten ebenso. Anders Thomas Jensen weiß das, will aber mit seiner kuriosen Familiendramödie sicherlich nicht provozieren. Dieses Entrümpeln männlicher Stereotypien gelingt ihm ausgezeichnet, dieses Durcheinanderwirbeln seltsamer Weltbilder ebenso. Dabei beruht der schlechte Geschmack von Men & Chicken bis zum letzten Schimmelfleck an der Wand des vor Schmutz und gammeligen Zeugs vollgestopften Hauses auf keinerlei Zufall. Selten haben Verwahrlosung und Vergänglichkeit eine so opulente Bühne wie diese ergeben. Schäbigkeit hat Stil – gibt’s das? In diesem Film schon. Die Ideale des Schönen lassen sich dann doch noch in der Sanftheit brüderlichen Füreinanders entdecken, während der Rest dem Abnormen seinen Platz in der Gesellschaft gibt. Am Ende kippt der skurrile Reigen in monströse Phantastik und betritt eine Metaebene, die unter anderem bei David Cronenberg oder Guillermo del Toro zu finden gewesen wäre, hätte Thomas Anders Jensen nicht seine Brüderpartie ihre eigene Bestimmung finden lassen, jenseits aller Ordnung.

Men & Chicken

Luzifer

BERGPREDIGT FÜR DEN HAUSGEBRAUCH

5/10


luzifer© 2022 Indeed Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2021

BUCH / REGIE: PETER BRUNNER

PRODUKTION: ULRICH SEIDL

CAST: SUSANNE JENSEN, FRANZ ROGOWSKI, MONIKA HINTERHUBER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Die Berge Tirols. Was kann erbaulicher, was herrlicher sein für jemanden, der die Natur, die Hochalmen und das ganze drumherum liebt, fernab von Rush Hour und der Hektik einer 24-Stunden-Availability? Inmitten dieser Idylle: eine Hütte jenseits der Baumgrenze. Dort lässt sich zur Besinnung kommen. Seltsam wird’s aber erst, wenn klar wird, wer dort wohnt. Eine Mutter mit ihrem Sohn. Der wiederum ist ein gestandener Mann mit einem Händchen für Greifvögel aller Art. Die Mutter selbst: womöglich eine Ex-Junkie und einem religiösen Fanatismus unterworfen, der inmitten der montanen Urgewalten gerne auch mal das selbst errichtete Credo mit archaischen Komponenten ergänzt. Die Mutter, Maria, hält ihren Sohn, der womöglich aufgrund von Hospitalismus geistig degeneriert zu sein scheint, unter totaler Kontrolle. Seine Welt ist die der geordneten Abfolge bizarrer Rituale, die von Selbstgeisselung über Reinigungsbädern bis hin zur Waschung der eigenen Mutter reicht. Was Ulrich Seidl also nicht „im Keller“ gefunden hat (hat er doch schließlich diesen Film produziert), findet dieser schließlich auf den Bergen. Aber keine Sorge: die bizarren Wege, die Regisseur und Drehbuchautor Peter Brunner seine beiden verpeilten Gestalten gehen lässt, verkommen zumindest anfangs nicht zum Selbstzweck.

Die Geschichte erinnert in ihren Grundzügen an Robert Eggers Kolonial- und Mysterydrama The Witch: Eine Familie lebt im sozialen Abseits ihre religiöse Strenge aus, inmitten einer ambivalenten Natur. Dabei geschehen Dinge, übernatürlicher oder realer Natur, die das komplette Weltbild derer durcheinanderbringen. Waren es bei The Witch die Umtriebe einer Hexe, sind es in Luzifer so ziemlich profane und niederträchtige Methoden eines Bauunternehmens, die Alm, auf welcher sich die Hütte der beiden befindet, auf ein Skigebiet umzukrempeln. Will heißen: Landvermesser treiben ihr Unwesen und scannen mit ihren Drohnen das gesamte Gebiet. Die Drohnen selbst sind zumindest für Sohnemann Johannes ein metaphysisches Ereignis. Denn nachdem die Gemeinde im Tal vergeblich versucht, Mutter Maria davon zu überzeugen, ihr Stück Heimat zu verkaufen, scheint der Teufel seinen Bockfuß in die Tür zu stellen. „Wo ist der Teufel?“ fragt Susanne Jensen in leisem, unheilvollem Flüsterton immer wieder und bedient die Parameter okkulten Horrors. Vielleicht wohnt der Antichrist gar in dieser seltsamen Höhle an der Felswand, wo es so aussieht, als würden die roten, surrenden Flugkörper ihren Ursprung haben. Die beiden müssen also tun, was getan werden muss: Sich vom Teufel befreien, zu Gott beten und dem Verderben die Stirn bieten, das wie ein Fluch immer mehr Tribute fordert.

Felix Mitterer hat in seinen Stücken oftmals Glaube und Heimat als bitteres Narrativ mit moralischen Funken grandios verarbeitet. Luzifer tut ähnliches, bleibt aber eine Einbahnstraße, ein Niedergang in eine Richtung, und zwar bergab. Zum Verhängnis werden – wie in The Witch oder auch Schlafes Bruder – der eigene Wahn, die eigene Angst und daraus entstehende Handlungen im Affekt, die so kurios wie befremdlich wirken und einer völligen Überforderung geschuldet sind. Dabei geht Brunners Film vor allem gegen Ende in die Vollen, wenn unabkehrbare Umstände Franz Rogowski auf eine verschwurbelte Logik besinnen lassen, die er dann auch akribisch in die Tat umsetzt. Bis dahin dominiert Susanne Jensen das Geschehen. Das ehemalige Missbrauchsopfer, nunmehr Autorin, Künstlerin und evangelische Pastorin, die sich mit ihrem Schicksal notgedrungen auseinandersetzen muss, gerät in Brunners Film zum unberechenbaren Unikum: Kahlgeschoren, ausgezehrt und am ganzen Körper tätowiert, findet Jensen die Erfüllung scheinbar darin, sich geißelnd, betend und vorzugsweise nackt zu präsentieren. Luzifer könnte für sie eine Art filmische Katharsis gewesen sein, ein Auffangbecken zur Verknüpfung realer Traumata mit den fiktiven Komponenten eines Bergdramas, den der Aspekt des ökosozialen Außenseiterdramas nur peripher interessiert, im Gegensatz zu Ronny Trockers Bauern-Requiem Die Einsiedler mit Ingrid Burckhardt. Das Nuscheln von Jensen und Rogowski trägt auch nicht dazu bei, den Eskapaden der beiden gerne folgen zu wollen – viel mehr scheint ihre Sprache fast wie ein fremder Dialekt die Abgeschiedenheit kaum zu durchdringen und das Interesse am Zuseher abzulehnen.

Bereichernd und erhellend ist Luzifer nicht, dafür aber so faszinierend wie ein reißerisches Bergdrama, in welchem die Art und Weise des Unglücks die Blicke bannen. Ein kryptischer, oft hässlicher Trip in zwei verkümmerte Geister, die gerne eins wären mit der Natur, sich vor fast allem aber fürchten müssen.

Luzifer

Der Schein trügt

GESEGNET SIND DIE SÜNDER

7/10


DerScheintruegt© 2021 Neue Visionen


LAND / JAHR: SERBIEN, MAZEDONIEN, KROATIEN, SLOWENIEN, BOSNIEN-HERZEGOWINA, MONTENEGRO, DEUTSCHLAND 2021

BUCH / REGIE: SRDJAN DRAGOJEVIC 

CAST: GORAN NAVOJEC, KSENIJA MARINKOVIC, NATASA MARKOVIC, BOJAN NAVOJEC, MILOS SAMOLOV U. A.

LÄNGE: 2 STD


Zumindest wir hier in Österreich kennen den kultigen Dialektsong Rostige Flügel vielleicht sogar auswendig. Darin singt der Ex-Cordoba-Maestro Hans Krankl leicht heiser von einem egozentrischen Krösus, der auf Erden keine Versuchung ausgelassen hat, im Himmel aber maximal die Holzklasse bekommt. Rostige Flügel, aus zweiter Hand. Und auch keinen Heiligenschein. Der serbische Flüchtling Stojan hätte wohl eher Verwendung dafür, denn der ist ein herzensguter Familienvater irgendwo in einem vergammelten Viertel am Rande der Stadt, der eines Tages, beim Einschrauben einer Glühbirne, mit dem Strom auf Tuchfühlung geht. Normalerweise erholt man sich davon. Auch Stojan. Nur der trägt jetzt eine Art Halogen-Heiligenschein über dem Kopf, was in der Nachbarschaft für Befremdung sorgt – und ganz besonders bei Göttergattin Nada, die ihren Ruf gefährdet sieht und den unbescholtenen Ehemann dazu anstiftet, doch alle sieben Sünden zu begehen, denn dann wäre ihm die Gunst Gottes wohl nicht mehr sicher.

Klingt lustig. Klingt nach Situationskomik, als wäre Louis De Funes unterwegs, wie seinerzeit in Der Querkopf. Ist es aber nicht. Und auch der Trailer führt in die Irre. Will heißen: Der Schein trügt in jeder Hinsicht. Und wer sich gerne vergnügen möchte ob so skurriler Begebenheiten zwischen Himmel und Erde, der wird letztlich schwer schlucken müssen. Was man vielleicht auch nicht weiß: Regisseur Srdjan Dragojevic (u. a. Parada) hat einen Episodenfilm inszeniert, dessen Kapitel sehr eng miteinander verknüpft sind und stets die Perspektive wechselt, aber summa summarum eine einzige epische Geschichte über mehrere Jahrzehnte erzählt, die genauso gut Emir Kusturica hätte inszenieren können. Angesichts der surrealen Begebenheiten passt das dann auch ziemlich gut in dessen Konzept, nur die leichte Verschrobenheit von Kusturicas zumindest letzten Filmen fehlt bei Dragojevic allerdings gänzlich. Hier ist der Fingerzeig Gottes das unangenehme Kitzeln unter der Achsel, der Kieselstein im Schuh, das Trietzen des Menschen mit augenscheinlichen Wundern, die so plötzlich vom Himmel fallen, dass kein Erdenbürger damit klarkommen kann. Am wenigsten die Kirche.

Egal, ob das Geschenk der Heiligkeit, eine zweite Chance oder das Lösen des größten Problems auf Erden auf dem Plan stehen: Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach. Kennen wir doch – also zumindest kennen es jene, die ab und zu mal in den Gottesdienst gegangen sind. Sprich nur ein Wort, und so wird meine Seele gesund. Alles schön und gut, doch der Heiland stammelt hier in Rätseln. Orientierungslos pflügt der Mensch in dieser bitterbösen Groteske sodann durch den Sündenpfuhl, um seine Erleuchtung loszuwerden. Lieber im Dunkeln, statt im Licht. Entsprechend düster sind diese Episoden auch geworden, entsprechend heftig fallen da auch einige Szenen aus, die bigotter Bequemlichkeit ans Bein pinkeln wollen. Manchmal rutscht Dragojevic zu sehr ins Grobe, auf zu hemdsärmelige Weise bemüht er die eine oder andere Metapher, als würde er den Motor eines Autos reparieren. Da fehlt dann der Feinschliff, der zumindest später noch – und vor allem in der meisterlichen letzten Episode – die Chance hat, mit etwas mehr Geistesblitz auf pointierte Satire zu machen. Wer Also Filme wie The Square oder Bad Luck Banking or Loony Porn – die neue Art der gesellschaftskritischen Avantgarde – zu schätzen weiß, wird sich auch hier, in seiner polemischen Kritik über die Welt, verstanden wissen.

Der Schein trügt

Psycho Goreman

VOM MONSTER, DAS NACH DER PFEIFE TANZT

3,5/10


PsychoGoreman© 2020 Koch Media


LAND / JAHR: KANADA 2020

BUCH & REGIE: STEVEN KOSTANSKI

CAST: MATTHEW NINABER, NITA-JOSEE HANNA, OWEN MYRE, KRISTEN MACCULLOCH, RICK AMSBURY U. A. 

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


„Jetzt ist endlich mal Schluss. Immer diese konformen High-End-Effektfilme. Das kann man ja wirklich nicht mehr mit ansehen.“ – Für all jene, die davon längst die Nase voll haben, gibt’s die Rosskur samt wohliger Entschlackungsphasen. Denn wo ein High-End ist, muss es auch einen Anfang geben. Der ist dort, wo das Gummimonster aus den Tiefen steigt, wo Latex nicht zwingend etwas ist, das sich im Warenkorb von Beate Uhse findet. Wo allerdings Cosplayer und Kostümbildner völlig analog und womöglich nächtelang an den unterschiedlichsten Outfits gesessen sind, um all diese Aliens und Monster und seltsamen bizarren Kreaturen den Schauspielerinnen und Schauspielern passgenau überzustülpen. Dabei ist der Bodysuit des fast schon gottgleichen Übeltäters Psycho Goreman das Meisterstück. Klar doch, muss es ja auch sein – der knorpelige Knilch dominiert die eineinhalb Stunden fast ausschließlich im Alleingang. Allerdings eben nur fast. Denn ihm zur Seite steht ein anderes Monster – ein Menschenkind. Ein Mädchen. Aber was für eins. Jedenfalls nicht Wednesday Addams, denn die hat Stil. Eine garstige Furie, die den ganzen Tag nichts lieber tut, als ihren Bruder zu piesacken. Beim Spiel im Garten legen die beiden ein seltsames Artefakt frei. Und nicht nur das. Ein ganzes Monster kommt da gleich mit. Mit anderen Worten: Die Geißel der Galaxis. Eine Kreatur, bei welcher Jack Arnold wohl feuchte Augen bekäme. Und die auch wunderbar nach Eternia passen würde, um Dolph Lundgren im Armdrücken zu besiegen. Dieser hässliche Geselle hat also nichts anderes im Sinn, als das Universum zu vernichten. Geht’s noch ein bisschen subtiler? Nein. Es kommt noch derber. Das Mädel allerdings, diese wirklich abgrundtief unsympathische Göre, hat mit diesem rosarot leuchtenden Artefakt den schlimmen Finger im Griff. Dieser muss, wild drohend und stets vor sich hin fluchend, nach ihrer Pfeife tanzen. So viel Macht macht das kleine keifende Ding auch nicht gerade zu einem besseren Menschen. Stellt sich die Frage: Wer ist hier das eigentliche Monster?

Und was zur Hölle habe ich eigentlich in so einem Film verloren? Andererseits – auch das ist wieder eine neue Erfahrung. Eine Grenzerfahrung. Psycho Goreman vom Kanadier Steven Kostanski (wer´s kennt: The Void) mag vielleicht eine Perle des schlechten Geschmacks sein – dem eigenen sollte man besser folgen, und die pelzige Bitternis im Rachenraum bleibt, auch wenn dieser Publikumsliebling des Festivalkinos seine fixe Fangemeinde hat. Es sprich natürlich nichts gegen so offensichtlich zusammengeschustertes Equipment wie hier, und besonders begrüßenswert sind die hie und da eingestreuten Stop-Motion-Sequenzen. Im Grunde genommen jedoch bedarf es einer grundehrlichen Liebe zu Filmen dieses Subgenres, einer Affinität für freudvoll ausgelebten Bodyhorror, an welchem wiederum David Cronenberg (ich sage nur: Knochenwaffe) seine Freude gehabt hätte. Dabei wäre seine Version wohl längst nicht so sarkastisch und augenzwinkernd ausgefallen wie hier, denn das muss ich zugeben: Das verdrehte Machtgefüge zwischen zöpfeschwingendem Rumpelstilzchen und bärbeißigem Alien-Killer hat ordentlich Potenzial, da lässt sich bissig parodieren bis zum Weltuntergang. Vielleicht muss man Psycho Goreman auch sickern lassen und den bizarren Karneval aus malträtierten Leibern, aufgefressenen Widersachern und von außen nach innen gestülpten Erdlingen sowieso keine Sekunde lang ernst nehmen.

Wo Knights of Badassdom gerade erst angefangen hat, macht Psycho Goreman weiter. Als abseitiger, stilverwirrter „Familienfilm“ zwischen Exploitationkino und Joss Whedons Buffyverse lässt sich dieser Streifen hier auf die Liste fragwürdiger Sichtungen setzen, die sich ganz bewusst und auch ganz reuelos über ihren eigenen ausgefeilten Dilettantismus amüsieren. Kostanski, B-Movie-Liebling für alles Bizarre, versteht dabei sein Business. Ohne Ironie wäre das Ganze für die Tonne. Doch auch mit Ironie hinterlässt dieses Junkfood aus dem Bahnhofskino ungesunden Mundgeruch. Ganz so, wie Psycho Goreman einen haben muss.

Psycho Goreman

Becky

KÄMPFEN WIE EIN MÄDCHEN

5/10


becky© 2020 Splendid Film


LAND: USA 2020

REGIE: JONATHAN MILOTT & CARY MURNION

CAST: KEVIN JAMES, LULU WILSON, ROBERT MAILLET, JOEL MCHALE, AMANDA BRUGEL U. A. 

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Rotkäppchen hat am Ende des Tages das Unmögliche geschafft: die Naturgewalt eines großen bösen Wolfes gebändigt, trotz anfangs schlecht gemischter Karten. Obwohl in Grimms Märchen kinderfreundlich abstrahiert, war Rotkäppchen mit der Wahl ihrer Mittel aber genauso wenig zimperlich wie ihre jenseits der Märchenwelt befindliche Schwester im Geiste, genannt Becky. Die hat nämlich mit ganz anderen Problemen zu kämpfen als nur Großmutter einen Besuch abzustatten. Becky betrauert ihre an Krebs verstorbene Mutter und verbringt das kommende Wochenende im familiären Landhaus mitten im Wald. Großer Wermutstropfen: Papa überrascht mit seiner neuer Liaison und dessen Nachwuchs. Für Becky ein schlechter Scherz.

Mit ähnlich holpriger Pointe bahnt sich eine weitere Wochenendattraktion an: eine Handvoll aus dem Knast entflohener Neonazis stören die patchworkfamiliäre Idylle, wobei hier nicht von Zufall die Rede sein kann. Ein Artefakt soll hier versteckt sein, welches der Rädelsführer – ein gedrungener Glatzkopf mit Rauschebart und Hakenkreuz-Tattoo, damit auch Quereinsteiger im Bilde sind – unbedingt haben will. Pech für ihn: das Objekt der Begierde trägt Becky um den Hals. Und die ist gerade im Wald, als die bösen Buben ihre Home Invasion starten.

So wie Busenfreund Adam Sandler versucht, seinem Image als trivialer Pausenclown gegenzusteuern, probiert es diesmal auch King of Queens-Paketbote Kevin James. Er tut zumindest äußerlich alles, um als böser Bube wirklich zu funktionieren. Das Problem dabei: es will ihm nicht gelingen. Kevin James ist ein waschechter Sitcom-Buddy, ein talentierter Comedian, ein bequemer Zeitgenosse, der vorrangig nichts Böses im Schilde führt, der vielleicht manchmal ein bisschen auf Eigennutz unterwegs ist, aber es sei ihm verziehen, so schrullig wie er ist. Ein Neonazi? Beim besten Willen nicht. Er tötet, er quält, er blutet – doch er bleibt seltsam phlegmatisch dabei, fast schon gemütlich. Im Gegensatz dazu ist Problemkind Becky fast schon so ein Systemsprenger wie Helena Zengel in gleichnamigem Film, nur natürlich um mehrere Ticks brutaler. Lulu Wilson, manchen vielleicht bekannt aus Ouija 2, ist da mehr die planende Furie mit Buntstiften, Schiffsschrauben und Rasenmähern als Waffe ­– entsprechend tief greift das Regieduo Jonathan Milott und Cary Murnion in die Hämoglobin-Trickkiste. Splatter- und Gorespitzen verteilen sich über die zweite Hälfte des Films wie Pilze im Forst, und klar – man ist auf Beckys Seite, wenn die asozialen Radaubrüder ihre Sünden abbüßen. Zwischendurch aber gibt’s jede Menge Leerlauf, auch schauspielerisch können Lulu Wilsons Co-Stars nicht so recht überzeugen. Etwas Besonderes ist Becky kaum, allenfalls ein überspitztes Mädchen-sieht-Rot-Szenario mit Strickmütze, nach dessen Release Kevin James vielleicht doch überlegt, lieber wieder in gewohnten Gewässern zu witzeln.

Becky

Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden

NÄCHSTER HALT: IRRENANSTALT

5/10

 

obskur_zugreisender© 2020 Neue Visionen

 

LAND: SPANIEN 2020

REGIE: ARITZ MORENO

CAST: LUIS TOSAR, PILAR CASTRO, ERNESTO ALTERIO, QUIM GUTIÉRREZ, BELÉN CUESTA, MACARENA GARĆIA U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN

 

Vorsicht ist die Mutter der Eintrittskarten für diesen Film. Dessen Titel führt nämlich in die Irre, denn Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden könnten natürlich so etwas sein wie all die verschroben-phantasievollen Begebenheiten, die einer Amelie passiert sind. Oder er erinnert vielleicht an die poetischen Filme eines Veit Helmer, wie zum Beispiel an den Lokführer, der die liebe suchte. Dem Trailer nach ja, dem Trailer nach könnte der Film eine etwas deftigere Version, aber eine Version von so etwas sein, wenn schrullige Anekdoten von der Skurrilität des Lebens erzählen.

Dem ist nicht so. Regisseur Aritz Moreno führt sein Publikum in seinem spanischen Episodenfilm schlichtweg in menschliche Abgründe. Wer da nicht drauf vorbereitet ist, könnte schon in der ersten Episode, die da heißt „Eine trügerische Hochzeit“ (warum, weiß keiner) leicht verstört mit dem Gedanken spielen, das Kino zu verlassen.

Alles beginnt mit einer wie der Titel schon sagt Zugfahrt, während jener ein Psychiater seinem Vis a vis von unglaublichen Geschichten aus den Erinnerungen seiner Patienten berichtet. Die sind entweder schizophren oder paranoid oder haben sonst irgendeine schwerwiegende Psychose. Erzählt wird zum Beispiel von einem Soldaten im Kosovo (voller Spielfreude: Luis Tosar), der kriegsversehrt vom Einsatz heimkehrt, sichtlich gezeichnet, und wiederum von einem dubiosen Handel mit Waisenkindern beichtet, die für Schreckliches missbraucht werden. Das will natürlich niemand sehen, ich jedenfalls nicht, doch sobald einem klar wird, dass es die Treppen abwärts geht in die Finsternis, kommt man irgendwie nicht mehr aus. Zum Glück ist das nicht die einzige Geschichte. Da gibt’s noch die mit dem Hundebesitzer, dessen Freundin immer mehr zum Vierbeiner werden muss. Perverse sexuelle Abgründe? Jawohl – und um nichts bequemer! Und wie ist das mit der Müll-Verschwörung? Zeitgemäßer geht´s kaum. Angesichts dieser Geschichten ist der Mensch selbst die Wurzel allen Übels, dessen Überforderung den Geisteskranken ins Gesicht geschrieben steht.

Angekündigt und kommentiert wurden Die obskuren Geschichten des Zugreisenden damit, den Surrealismus im Kino wiederentdeckt zu haben. Luis Bunuel wurde erwähnt. Allerdings auch nur, weil der Meister des Surrealen selbst das Wort „obskur“ in einem seiner Filme hatte. Sonst ist an Morenos Reigen des Irrsinns nichts surreal, und das ist eigentlich das Erschreckende daran. Dem Menschen wäre all dies zuzutrauen, und tatsächlich passieren womöglich Dinge, die den Film geradezu alt aussehen lassen, obwohl mir das schon reicht. Den Inhalt aus Ulrich Seidls Hundstage wollte ich auch nicht kennenlernen, und tatsächlich haben beide Episodenfilme gewisse ähnliche Eigenschaften. Seidls wie auch Morenos Film schildern auf zynische Weise den Dreck unter den Fingernägeln menschlichen Überschnappens, und beide entwickeln eine Faszination für das Abnormale. Dabei sind Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden immerhin von einer farbsatten, üppigen Ästhetik, wie man es aus Filmen eines Jean-Pierre Jeunet gewohnt war, wie zum Beispiel aus Delicatessen oder Micmacs. Trotz dieser erlesenen Bildsprache ist dieser Film nichts für angenehme Kinostunden. Im Gegenteil: auch bei all dieser überzeichneten Lust am puppentheatralischen Wahnsinn einer Freakshow bleibt ein ganz mieses Gefühl.

Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden

Die Addams Family (2019)

FINGERSCHNIPPEND GEGEN DIE NORM

6/10

 

THE ADDAMS FAMILY© 2019 Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc. All Rights Reserved.

 

LAND: USA 2019

REGIE: CONRAD VERNON, GREG TIERNAN

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): OSCAR ISAAC, CHARLIZE THERON, CHLOË GRACE MORETZ, FINN WOLFHARD, ALLISON JANNEY, BETTE MIDLER U. A.

 

Dass seine Cartoon-Serie im New Yorker dermaßen populär werden würde, dass diese bizarren Nonkonformisten genug Ausdauer für eine Fernsehserie und drei Kinofilme haben würden, das hätte Charles Addams wohl nicht ganz so vermutet. Mittlerweile kennt sie eine jede und ein jeder: die Antithese zur Normalo-Familie, zum angepassten Bürgertum und zur verträglichen Gleichheit. Die Addams lieben, was andere verabscheuen. Und lehnen ab, was andere in ihrer gefälligen Bequemlichkeit so sehr lieben. Sie sind Außenseiter, aber dazu stehen sie. Vielleicht sind die Addams deswegen so populär, weil sie einen Mut nach außen tragen, den andere wohl gerne hätten. „Bekenne dich zu deiner Merkwürdigkeit“, heißt es in Andre Hellers Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein. Das tun die Addams, und nicht, um bewusst aufzufallen, sondern weil sie einfach sind wie sie sein wollen. Müssen auch niemandem bekehren, wollen nur Teil des Ganzen sein. Dass die Addams irgend etwas Sinistres im Schilde führen? Woher denn, ganz im Gegenteil.

Schön, dass es für Morticia, Gomez und Onkel Fester endlich auch ein Best Of als Animationsfilm gibt. Shrek 2 und Sausage Party-Regisseur Conrad Vernon hat gemeinsam mit dem Animator Greg Tiernan die schrägen Figuren auf extreme Weise stilisiert. Grand Dame Morticia ist so schlank wie ein Zahnstocher, Gomez leicht korpulent geraten und Tochter Wednesday erstrahlt in birnenförmiger Leichenblässe – mit Zöpfen wie Galgenstricke. Womit wir schon bei den Stärken des Films wären. Die Addams Family geizt nicht mit unglaublich vielen Details, vom Interieur des viktorianischen Irrenhauses bis hin zur familiären Gefolgschaft, die im Rahmen des Mazurka-Festes für Filius Pugsley allesamt antanzen. Eine Freakshow sondergleich ist das, lauter seltsame Geschöpfe, allen voran der knuffige Vetter It oder Morticias Tante, die im wahrsten Sinne des Wortes falsche Größe zeigt. In diesem Punkt haben Vernon und Tiernan kein Auge trocken gelassen. Inhaltlich aber schon. Die Details rund um die Anfänge der Addams mitsamt ihres Einzuges in gruftige Gemäuer und dem Anwerben des schlurfenden Frankenstein-Butlers Lurch sind ja für Fans, egal ob der ersten oder späteren Stunde, noch erhellend – das Dilemma rund um Assimilierung oder Akzeptanz des Fremdartigen ist das, womit sich die spooky family immer mal wieder herumschlagen muss. Letzten Endes stehen sie zu ihrem Auftreten, was als einziges Fazit nun nicht wirklich überraschend kommt und vielleicht dadurch etwas langweilt. Und auch sonst lässt sich der Film sehr stark von seiner digitalen Ausstattung ablenken. Ein Prioritätenfehler? Nur bedingt, denn der Film ist alleine dadurch durchaus sehenswert geworden, und selbst so verdrehte Floskeln wie „Kommt herein, macht es auch unbequem“ bzw. „Die Familie hat gedroht zu kommen“ lassen schmunzeln, denn womöglich wäre man selbst gerne in der Lage, Gewohntes gegen den Strich zu bürsten. Denn nichts ist so schrecklich wie das Normale.

Die Addams Family (2019)