Oslo Stories: Sehnsucht (2024)

FREIHEIT IN GEDANKEN UND TATEN

8/10


© 2024 Alamode Film


ORIGINALTITEL: SEX

LAND / JAHR: NORWEGEN 2024

REGIE / DREHBUCH: DAG JOHAN HAUGERUD

CAST: JAN GUNNAR RØISE, THORBJØRN HARR, SIRI FORBERG, BRIGITTE LARSEN, THEO DAHL, NASRIN KHUSRAWI, VETLE BERGAN, ANNE MARIE OTTERSEN U. A.

LÄNGE: 2 STD 5 MIN


Wie es der Norweger Dag Johan Haugerud schafft, Gespräche zu inszenieren, als würde er im realen Leben und völlig unbemerkt Leute dabei beobachten, wie sie sich mit ihren Problemen und Unsicherheiten auseinandersetzen – das geht schon jetzt als denkwürdiges Beispiel natürlicher Dialogführung in die Geschichte des europäischen Kinos ein. Seine Trilogie SehnsuchtTräumeLiebe (im Original wird nur Teil eins mit Sex betitelt) beinhaltet hochkomplexe Gedankengänge und Situationsbeispiele, die durch das zwischenmenschliche Gespräch sozialphilosophische Dimensionen erreichen und dabei minimal-invasiv in die Tiefe gehen, ohne das Volumen des Erzählten unnötig aufzublasen oder zu pathetisieren.

Haugerud appelliert in seinen Filmen an die Vernunft, an die Zivilisiertheit, an die befreiende und erklärende Wirkung der Aussprache. Dialogfilme mag man mitunter vielleicht langweilig finden – doch niemals so in den Oslo Stories, welche die Hauptstadt Norwegens anders betrachten als es ein Reiseführer tun würde – vielmehr ist Oslo auch nur eine grundlegende gemeinsame Bühne für Menschen, die nicht nur ihre sexuelle Identität suchen, sondern vor allem auch eine Form der Selbstbestimmung, die sie im sozialen Kosmos einer Beziehung nicht verlieren möchten. Egal, wer in dieser Trilogie über seine Bedürfnisse stolpert und nicht absehen kann, in welche Richtung ihre Entscheidungen führen  – sie alle streben danach, ohne Schamgefühl authentisch zu bleiben. Verwechseln werden es manche mit individueller Freiheit, deren Wert es in einer Welt des Miteinanders gilt zu reflektieren.

David Bowie und der Wert der Intimität

In Oslo Stories: Sehnsucht widmet sich Haugerud den Wertvorstellungen von Sex und Liebe. Auch hier, so wie in Oslo Stories: Liebe, stehen zwei Personen im Mittelpunkt, die sich selbst erkennen müssen, indem sie ihre Wahrnehmung, ihre Prioritäten und den Faktor Kompromiss neu bewerten. Seit Mary Poppins hat man keine Rauchfangkehrer mehr auf Dächern sitzen sehen. Zwei davon, die namenlos bleiben, sind gut miteinander befreundet, und zwar so sehr, dass sie sich alles erzählen – ihre Träume und eben auch ihre sexuellen Abenteuer. Ein solches hat einer der beiden erlebt, einer, der von sich behauptet, heterosexuell zu sein, und sich dennoch auf Sex mit einem Mann eingelassen hat. Einfach, weil er so etwas noch nie gemacht, weil es seinen Horizont erweitert und ihn auf gewisse Weise auch erregt hat. Dessen Ehefrau steckt diese Untreue nicht ganz so gut weg, da schließlich Sex aus ihrer Sicht ein Akt höchster Intimität darstellt, die sich nur Liebende teilen. Diese unterschiedliche Auffassung führt zu tiefgehenden Gesprächen über Vertrauen, Machtgefüge und den Regeln des Miteinanders, die man aus Liebe bereit ist mitzutragen. Der Freund dieses Mannes hat ganz andere Probleme, weitaus abstrakterer Natur. Dieser muss sich in seinen Träumen mit David Bowie herumschlagen, der ihn jedes Mal so ansieht, als wäre er weder Mann noch Frau, als würde er ihn ansehen um seinetwillen, vorurteilsfrei, bedingungslos, nichts einfordernd. Was das zu bedeuten hat, will er wissen. Und natürlich reflektiert er dabei auch seine sexuelle Identität, um letztlich zu ganz einer anderen Erkenntnis zu gelangen.

Es wird bei Betrachten dieses Films wohl kaum jemanden geben, der, sofern er sich in einer Beziehung befindet, sich selbst nicht an diesen Gesprächen mit seinen ganz eigenen Erfahrungen beteiligen könnte. Oslo Stories: Sehnsucht wirft so viele Fragen und Gedanken auf, dass man dieses Werk nicht einfach im Kino zurücklassen kann. Haugeruds erster Teil schenkt naturgemäß keine allgemeingültigen Antworten, nähert sich möglichen aber an, und zwar immer mehreren gleichzeitig, ohne universelle Lösungen zu generieren. So unterschiedlich und vielgestaltig das psychosoziale Leben auch sein kann, so unterschiedlich und vielgestaltig ist dieses präzise ausformulierte Drama in seinen Aspekten und Themen, die so essentiell sind wie die menschliche Existenz an sich.

Oslo Stories: Sehnsucht (2024)

Die Stockholm Story – Geliebte Geisel

AUCH GEISELNEHMER HABEN WAS NETTES

4,5/10


stockholmstory© 2019 Koch Films


LAND / JAHR: USA, KANADA 2018

BUCH / REGIE: ROBERT BUDREAU

CAST: NOOMI RAPACE, ETHAN HAWKE, MARK STRONG, CHRISTOPHER HEYERDAHL, BEA SANTOS, THORBJØRN HARR U. A.

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


Woher kommt eigentlich der Begriff Stockholm-Syndrom? Was er ausdrücken soll, scheint allseits bekannt: Geiseln solidarisieren sich mit den Geiselnehmern, verstehen plötzlich deren Beweggründe und bieten sich sogar an, zu helfen. Mitunter entsteht sogar so etwas wie eine richtige emotionale Bindung. Ganz klar, was da abgeht, und warum das menschliche Verhalten da verrückt spielt, trotz und gerade wegen dieser enormen Stresssituation, welche die Angst über Leib und Leben in einen Zustand transformiert, der die Bedrohung so erträglich wie möglich macht. Mit anderen Worten: Ich mache meinen Feind zum Freund.

Dieses Phänomen wurde – wie kann es anders sein – erstmals in Stockholm bemerkt, und zwar im Sommer des Jahres 1973 während einer Geiselnahme in der Schwedischen Kreditbank am Norrmalmstorg. Der Verbrecher Jan Erik Olsson wollte dabei die Freilassung eines im Gefängnis sitzenden Komplizen erzwingen – inklusive allem, was zu einer damit einhergehenden Flucht sonst noch dazugehören darf. In seiner Gewalt: vier Geiseln, und zwar über hundertdreißig Stunden lang. Ein Medienereignis sondergleichen muss das gewesen sein, zumindest stellt Regisseur Robert Budreau die damaligen Ereignisse entsprechend dar.

Zum Cast seines Films zählt die in besagter Branche momentan nicht gerade auf der faulen Haut liegende Noomi Rapace – neu frisiert, auffallend bebrillt und gleichsam widerspenstig wie devot. Aber wen wundert das schon, wenn man in die Mündung einer Waffe blickt. Die gehört Ethan Hawke mit Schnauzer und wirrer Mähne unterm Cowboyhut. Überhaupt glaubt Ethan Hawkes Figur des Jan Erik Ollson, das ihm die Welt gehört und nichts und niemand ihn aufhalten kann. Aus den Augenwinkeln könnte man fast meinen, Frank Zappa dabei zu beobachten, wie er auf die schiefe Bahn gerät. Dabei lässt sich Ethan Hawke in der Auffassung seiner Figur zu unfreiwillig komischen Einlagen hinreissen. Mit Absicht? Keine Ahnung, doch wenn ja, nimmt der Filmstar mit seinem überzogenen Spiel all die Ereignisse von damals zu sehr auf die leichte Schulter. Rapace versucht die Schräglage erst gar nicht auszugleichen – auch sie probiert’s routiniert, mit bewährten Manierismen: entsetzten Blicken, denen sympathisierender Kooperationswille folgt.

Der verhaltenspsychologische Faktor bleibt außen vor. Der Wandel von Furcht zur Solidarisierung geht recht seifig vonstatten, da findet sich keine Szene, die bereit dazu wäre, den Richtungswechsel im Täter-Opfer-Konstrukt glaubhaft zu navigieren. In Erinnerung bleibt ein aufbrausender Hampelmann Hawke in einem wenig ehrgeizigen Geiseldrama, das es nicht schafft, die beiden Stars hinter ihren Rollen zu verbergen. Somit weicht die Authentizität, die das ganze Setting rundherum und das Siebzigerkolorit unterstützend bringen sollten, einer achselzuckenden Gleichgültigkeit, die dem Phänomen innerhalb radikaler Machtverhältnisse weder ernsthaftes Interesse zollt noch die Möglichkeit einräumt, den Zuschauer damit aus psychologischer Sicht zu verblüffen.

Die Stockholm Story – Geliebte Geisel