Perfect Days (2023)

DAS GLÜCK DES URBANEN MENSCHEN

8/10


perfectdays© 2023 The Match Factory


LAND / JAHR: JAPAN 2023

REGIE: WIM WENDERS

DREHBUCH: WIM WENDERS, TAKUMA TAKASAKI

CREDIT: KŌJI YAKUSHO, ARISA NAKANO, TOKIO EMOTO, YUMI ASO, SAYURI ISHIKAWA, TOMOKAZU MIURA, AOI YAMADA, MIN TANAKA U. A.

LÄNGE: 2 STD 3 MIN


Für Wim Wenders braucht man Zeit. Keine große Eile, keine Hummeln im Hintern oder rotierende Gedanken, die den eigenen nächsten Tag planen wollen. Für Wim Wenders sollte man in sich ruhen, den Herrgott mal, sofern dieser nötig ist, einen guten Mann sein und lassen und auf Entschleunigung setzen. Das war bei Wenders‘ Filmen schon immer so. Nur jetzt, in seinem Werk Perfect Days, ist der kontemplative Faktor einer, der das Geschehen bestimmt. Un dieses ist gerade gut genug, um zufrieden auf so manche Tage zurückzublicken, die manchmal nicht viel mehr bescheren als wiederkehrende Rituale und Handlungen, in denen aber sehr viel von dem liegt, was unsereins heutzutage an allen Ecken und Enden im öfter vermisst: Geborgenheit, Sicherheit, Genügsamkeit. Die Freude an kleinen Dingen, an den Himmel am Morgen, an den ersten Kaffee, an sorgsam getane Arbeit oder an das Schmökern im Buch unserer Wahl kurz vor dem Einschlafen: Momente wie diese sind Gold wert, in einer Welt im Umbruch. Sie bieten die Konstante, um nicht den Verstand zu verlieren. Nicht nur Wim Wenders weiß das, auch sein Protagonist Hirayama.

Das Ungewöhnliche in einem ohnehin ungewöhnlichen Film: So wirklich viel über diesen recht wortkargen Einzelgänger erfährt man nie. Hirayama ist ein Mann ohne Biographie. Einer, der im Jetzt verweilt, der keine Vergangenheit hat und auch die Zukunft nicht plant. Hirayama ist allerdings kein Fremder in einer uns fremden Welt wie Tokyo – er ist einer, der aufgrund seines ausgesparten bisherigen Lebenswandels genügend Raum lässt für die Eigeninterpretation eines jeden Betrachters, die nicht ohne persönliches Kolorit vonstatten geht. Diese Reduktion erlaubt einen ungeahnten Zugang zu einer Figur, die nicht mal einen Namen gebraucht hätte, um sich mit ihr zu identifizieren. Meist agiert der in Cannes geadelte Schauspieler Kōji Yakusho ohne Worte, wird geradezu pantomimisch in manchen Szenen. Schenkt seinem gegenüber manchmal nur ein Brummen. Lässt sich dann, als seine Nichte ihn eines Tages überrascht, zu Mehrwortsätzen hinreissen. Auch die sind wertvolles Gut. Denn Hirayama ist mit sich und seinem bescheidenen Leben im Einklang. Alles scheint gesagt. Der Rest ist Schweigen.

Dieses Leben bietet auf den ersten Blick wahrlich nichts Aufregendes. Doch braucht es das? Ist das Abenteuer wirklich das, wofür wir alle hinarbeiten und wofür es sich nur deswegen zu leben lohnt? Die Alternative ist das Glück im Kleinen, das auch nur dann greifbar werden kann, wenn manche Tage misslingen. Hirayama dürfte, so mein Verdacht, ein ganzes, komplett anderes Leben hinter sich gelassen haben. Womöglich war er mal wohlhabend, hatte Erfolg, fand sein Elysium im Materiellen und im gesellschaftlichen Status. Wir wissen: Hirayama ist ein Intellektueller, ein Denker und Planer. Was er allerdings den ganzen Wochentag lang macht: Er putzt die öffentlichen Toiletten der japanischen Großstadt, die. architektonisch betrachtet, jeweils kleine Sehenswürdigkeiten für sich sind. Kloputzen – im Ranking aller Jobs womöglich ganz unten. Tiefer, so meinen andere, würde man beruflich kaum sinken können. Unser Glücksmensch hier sieht das anders. Steht jeden Morgen zur selben Zeit auf, nimmt den Tag mit einem wohlwollenden Lächeln, lauscht den Klängen seines Kassettendecks im Minibus, den er umfunktioniert hat zu einem fahrenden Cleaning Office. Läuft alles gut, hat er nachmittags noch Zeit für Körperpflege, Entspannung und gutem Essen irgendwo in einer der Malls, wo ihn jeder kennt. Alles hat seine Ordnung – und doch ist die Unordnung oft genau das, was die Ordnung erst möglich macht.

Wenders, der eigentlich nur eine Auftragsdoku zu genau diesem Thema machen wollte, nämlich zu öffentlichen Bedürfnisanstalten und ihre baulichen Besonderheiten, lässt seinen liebgewonnenen und bewusst bescheiden lebenden, universellen Stadtmenschen die entscheidenden Faktoren für so manchen Perfect Day erfahren. Dabei stellt sich heraus, dass dieser hohe Anspruch die Summe nicht nur positiver Empfindungen ist. Dazu gehören genauso gut Traurigkeit, Wut, unerfüllte Zuneigung, Selbstlosigkeit und Flexibilität. Nicht zuletzt die Relativierung der eigenen Sehnsüchte und Bedürfnisse, wenn man die Augen offen hält für jene, die einen umgeben. Wenders Film ist eine elegische Erfahrung, innehaltend und überlegt, beobachtend und liebevoll. Er findet nicht nur Gefallen an der Genügsamkeit – er lobt diese sogar, ohne idealistisch zu sein. Er schenkt Hirayama Raum und Zeit und gibt ihm die Chance, im Hier und Jetzt zu verweilen. Selbstzufriedenheit ohne Egozentrik, Selbstfürsorge, ohne an anderen vorbeizugehen. Worauf es ankommt, darüber sinniert Wim Wenders in seinem mit traumartigen Bild- und Klangcollagen strukturierten und von Lou Reed, Velvet Underground, Patti Smith, The Animals oder Nina Simone akustisch unterlegten Reflexion auf die individuelle Erfüllung im schnelllebigen Anthropozän.

Perfect Days (2023)

Homo Sapiens

WAS WIND, WASSER UND LICHT ERZÄHLEN

5/10

 

Homo Sapiens© 2016 Geyrhalter Film

 

LAND: ÖSTERREICH 2016

REGIE: NIKOLAUS GEYRHALTER

DREHBUCH: NIKOLAUS GEYRHALTER

KAMERA: NIKOLAUS GEYRHALTER

 

Im Buch Die Welt ohne uns beschreibt Autor Alan Weisman sachlich und mit sehr viel Vorstellungskraft, was wohl wäre, wenn Homo sapiens von einem Moment auf den anderen verschwinden würde. Wie lange würden die Relikte unserer Zivilisation noch sichtbar bleiben? Was wird nur sehr langsam verschwinden, was gar nicht? Diese Lektüre hat etwas Befreiendes, tröstendes, zumindest für unsere geknechtete Mutter Erde, wenn sie lesen könnte. Ist aber auch beklemmend genug, wenn es darum geht, was mit all den Atommüll-Endlagern letzten Endes passiert. Oder wer als letzter das Licht in den AKWS abschaltet. Dabei kommt die Geißel des Plastikmülls als langanhaltender Atem tatsächlich zu guter Letzt. Die Erde, die muss sich angesichts dessen beeilen, wenn sie nicht mehr an den Menschen erinnert werden will. Ob sich das noch ausgeht, bis die Sonne zum roten Riesen mutiert, bleibt dahingestellt. Der Mensch ist eben ein so nachhaltiges wie nachlässiges Wesen. Was morgen ist, kommt nach der Sintflut – oder so ähnlich.

Dieses Morgen hat sich Dokumentarfilmer Nikolaus Geyrhalter mal so richtig zur Brust genommen – und Orte aufgesucht, die der Mensch bereits hinter sich gelassen hat. Die Welt ohne uns nach Alan Weisman existiert in entropischen Enklaven bereits jetzt schon. Das themenverwandte Werk Homo sapiens ist darüber hinaus ein Film, der die Grenzen des gewählten Mediums auslotet – und dennoch ein Film bleiben muss. Geyrhalter´s Meditation auf den Verfall ist wohl einer von ganz wenigen Werken, die gänzlich ohne Sprache auskommen. Filme ohne Menschen, das ist keine Seltenheit. Ohne Verbalisieren irgendeines Zustandes oder eines Bedürfnisses – das ist schon gewagt, von einem fehlenden Score mal ganz zu schweigen. Das würde ja schließlich den Menschen wieder ins Spiel bringen. Und um den Menschen einmal ganz wegzudenken, braucht es  – gar nichts. Nur einen einzigen Blick auf das Ganze, auf den Untergang, auf die Rückeroberung der Elemente. Was zu hören ist, und zwar in fabelhaftem Sound, ist der Wind und das Wasser, die mit Staubpartikel reflektierendem Licht Fragmente des Erfassten bewegen, stören, sukzessive verändern. So radikal wie Homo sapiens ist selten ein Film, das ist eine Konsequenz, die Vergleiche nicht zu scheuen braucht. Das ist eine Ablehnung des Fortschritts in seiner Reinkultur. Das Ende ist hier wie ein neuer Anfang, eine neue Ordnung der Natur, der Welt und seinen Gesetzen, die es auch ohne den Menschen geben muss. Geyrhalter´s Film klammert den egozentrischen Zweibeiner aber nicht ganz aus – er bleibt Betrachter. Denn ohne Betrachtung existiert nicht mal dieser Film – oder doch?

Genug des Philosophierens, das übernimmt Homo sapiens ohnehin und entlässt seinen Betrachter in sachte Bewegtbilder des Vergänglichen. Irgendwo hüpft eine Kröte durchs Bild, und Tauben flattern ein und aus, zwischen all dem entsorgungsreifen Vermächtnis ohne Nutzen. Zu gerne hätte ich gewusst, wo Nikolaus Geyrhalter unterwegs war. Die einzelnen Orte sind unterteilt durch Blackouts, ohne zu verraten, wohin die nächste Reise geht. Ehrlich gestanden ist mir trotz aller Achtbarkeit für Geyrhalter´s Konzept die Enthaltung jeglicher Information zu wenig. In Michael Glawogger´s grandiosem Filmvermächtnis Untitled gibt es ähnliche Szenen, die allerdings mit Worten aus dem Off erst so richtig Sinn machen und eigene Gedanken zum Laufen bringen. Gerne hätte ich gewusst, wo die Welt ohne uns bereits existiert, wo kein Mensch mehr irgendetwas verloren zu haben scheint, wo sich das Leben neu erfinden muss. Geschichten hinter dem Ende, und wären es nur Textzeilen gewesen – schade um das sekundenlange Dunkel dazwischen.

Panorama-Tableaus aneinanderzureihen, wie Homo sapiens es macht, das langt für eine Multimedia-Installation für Kunstkammern der Moderne, dem 21er Haus oder für das Mumok in Wien. An die Wand projiziert und im Endlos-Loop. Großartig fotografiert und trotz seiner gerümpelhaften Statik unerwartet intensiv, ist das Doku-Essay fürs Kino nach meinen Begriffen viel zu enthaltsam und geizt mit Informationen, die dem interessiert selbstreflektierenden Betrachter allerdings zugestanden wären.

Homo Sapiens