Perfect Days (2023)

DAS GLÜCK DES URBANEN MENSCHEN

8/10


perfectdays© 2023 The Match Factory


LAND / JAHR: JAPAN 2023

REGIE: WIM WENDERS

DREHBUCH: WIM WENDERS, TAKUMA TAKASAKI

CREDIT: KŌJI YAKUSHO, ARISA NAKANO, TOKIO EMOTO, YUMI ASO, SAYURI ISHIKAWA, TOMOKAZU MIURA, AOI YAMADA, MIN TANAKA U. A.

LÄNGE: 2 STD 3 MIN


Für Wim Wenders braucht man Zeit. Keine große Eile, keine Hummeln im Hintern oder rotierende Gedanken, die den eigenen nächsten Tag planen wollen. Für Wim Wenders sollte man in sich ruhen, den Herrgott mal, sofern dieser nötig ist, einen guten Mann sein und lassen und auf Entschleunigung setzen. Das war bei Wenders‘ Filmen schon immer so. Nur jetzt, in seinem Werk Perfect Days, ist der kontemplative Faktor einer, der das Geschehen bestimmt. Un dieses ist gerade gut genug, um zufrieden auf so manche Tage zurückzublicken, die manchmal nicht viel mehr bescheren als wiederkehrende Rituale und Handlungen, in denen aber sehr viel von dem liegt, was unsereins heutzutage an allen Ecken und Enden im öfter vermisst: Geborgenheit, Sicherheit, Genügsamkeit. Die Freude an kleinen Dingen, an den Himmel am Morgen, an den ersten Kaffee, an sorgsam getane Arbeit oder an das Schmökern im Buch unserer Wahl kurz vor dem Einschlafen: Momente wie diese sind Gold wert, in einer Welt im Umbruch. Sie bieten die Konstante, um nicht den Verstand zu verlieren. Nicht nur Wim Wenders weiß das, auch sein Protagonist Hirayama.

Das Ungewöhnliche in einem ohnehin ungewöhnlichen Film: So wirklich viel über diesen recht wortkargen Einzelgänger erfährt man nie. Hirayama ist ein Mann ohne Biographie. Einer, der im Jetzt verweilt, der keine Vergangenheit hat und auch die Zukunft nicht plant. Hirayama ist allerdings kein Fremder in einer uns fremden Welt wie Tokyo – er ist einer, der aufgrund seines ausgesparten bisherigen Lebenswandels genügend Raum lässt für die Eigeninterpretation eines jeden Betrachters, die nicht ohne persönliches Kolorit vonstatten geht. Diese Reduktion erlaubt einen ungeahnten Zugang zu einer Figur, die nicht mal einen Namen gebraucht hätte, um sich mit ihr zu identifizieren. Meist agiert der in Cannes geadelte Schauspieler Kōji Yakusho ohne Worte, wird geradezu pantomimisch in manchen Szenen. Schenkt seinem gegenüber manchmal nur ein Brummen. Lässt sich dann, als seine Nichte ihn eines Tages überrascht, zu Mehrwortsätzen hinreissen. Auch die sind wertvolles Gut. Denn Hirayama ist mit sich und seinem bescheidenen Leben im Einklang. Alles scheint gesagt. Der Rest ist Schweigen.

Dieses Leben bietet auf den ersten Blick wahrlich nichts Aufregendes. Doch braucht es das? Ist das Abenteuer wirklich das, wofür wir alle hinarbeiten und wofür es sich nur deswegen zu leben lohnt? Die Alternative ist das Glück im Kleinen, das auch nur dann greifbar werden kann, wenn manche Tage misslingen. Hirayama dürfte, so mein Verdacht, ein ganzes, komplett anderes Leben hinter sich gelassen haben. Womöglich war er mal wohlhabend, hatte Erfolg, fand sein Elysium im Materiellen und im gesellschaftlichen Status. Wir wissen: Hirayama ist ein Intellektueller, ein Denker und Planer. Was er allerdings den ganzen Wochentag lang macht: Er putzt die öffentlichen Toiletten der japanischen Großstadt, die. architektonisch betrachtet, jeweils kleine Sehenswürdigkeiten für sich sind. Kloputzen – im Ranking aller Jobs womöglich ganz unten. Tiefer, so meinen andere, würde man beruflich kaum sinken können. Unser Glücksmensch hier sieht das anders. Steht jeden Morgen zur selben Zeit auf, nimmt den Tag mit einem wohlwollenden Lächeln, lauscht den Klängen seines Kassettendecks im Minibus, den er umfunktioniert hat zu einem fahrenden Cleaning Office. Läuft alles gut, hat er nachmittags noch Zeit für Körperpflege, Entspannung und gutem Essen irgendwo in einer der Malls, wo ihn jeder kennt. Alles hat seine Ordnung – und doch ist die Unordnung oft genau das, was die Ordnung erst möglich macht.

Wenders, der eigentlich nur eine Auftragsdoku zu genau diesem Thema machen wollte, nämlich zu öffentlichen Bedürfnisanstalten und ihre baulichen Besonderheiten, lässt seinen liebgewonnenen und bewusst bescheiden lebenden, universellen Stadtmenschen die entscheidenden Faktoren für so manchen Perfect Day erfahren. Dabei stellt sich heraus, dass dieser hohe Anspruch die Summe nicht nur positiver Empfindungen ist. Dazu gehören genauso gut Traurigkeit, Wut, unerfüllte Zuneigung, Selbstlosigkeit und Flexibilität. Nicht zuletzt die Relativierung der eigenen Sehnsüchte und Bedürfnisse, wenn man die Augen offen hält für jene, die einen umgeben. Wenders Film ist eine elegische Erfahrung, innehaltend und überlegt, beobachtend und liebevoll. Er findet nicht nur Gefallen an der Genügsamkeit – er lobt diese sogar, ohne idealistisch zu sein. Er schenkt Hirayama Raum und Zeit und gibt ihm die Chance, im Hier und Jetzt zu verweilen. Selbstzufriedenheit ohne Egozentrik, Selbstfürsorge, ohne an anderen vorbeizugehen. Worauf es ankommt, darüber sinniert Wim Wenders in seinem mit traumartigen Bild- und Klangcollagen strukturierten und von Lou Reed, Velvet Underground, Patti Smith, The Animals oder Nina Simone akustisch unterlegten Reflexion auf die individuelle Erfüllung im schnelllebigen Anthropozän.

Perfect Days (2023)

Return to Seoul (2022)

DAS MÖGLICHE ANDERE LEBEN

7/10


returntoseoul2© 2023 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, DEUTSCHLAND, BELGIEN, QATAR, KAMBODSCHA 2022

DREHBUCH / REGIE: DAVY CHOU

CAST: JI-MIN PARK, OH KWANG-ROK, GUKA HAN, KIM SUN-YOUNG, YOANN ZIMMER, HUR OUK-SOOK, LOUIS-DO DE LENCQUESAING U. A.

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Auf die Frage, woher jemand kommt, der rein biologisch und ganz offensichtlich seinen Ursprung ganz woanders hat, erhält man sehr oft die Angabe der Staatsbürgerschaft. Dabei geht die Frage viel tiefer. Wo liegt die Geschichte der eigenen Familie? Diese Antwort wäre viel interessanter – und hat auch nichts mit Diskriminierung zu tun. Vielfalt ist etwas Berauschendes, Inspirierendes, Weltenverbindendes. Wer sich weigert, zu seiner Herkunft zu stehen, der hat das Wichtigste leider nicht verstanden. Wer keinen Sinn darin sieht, seine Herkunft zu ergründen, versteht sich ohnehin als Weltbürger. Oder will dem Schmerz entgehen, der sich empfinden lässt, wenn die leiblichen Eltern sich dazu entschlossen hatten, ihr Kind wegzugeben. Sowas mag dem Selbstwert ganz schön schaden, ist es doch eine Form der irreparablen Zurückweisung.

Hirokazu Kore-eda hat sich diesem Thema bereits schon mit Broker angenommen, nur mit ganz anderem Zugang. Von dieser Art Kränkung und deren Heilung handeln aber beide Werke: In Return to Seoul, einer internationalen, nur keiner südkoreanischen Produktion, begibt sich eine junge Frau eigentlich rein zufällig und ohne es von langer Hand geplant zu haben, auf die Suche nach ihren leiblichen Eltern, haben diese sie doch einem Adoptionsinstitut übergeben, welches Freddie an ein französisches Ehepaar weitervermittelt hat. Nun ist sie in Europa aufgewachsen, spricht kein Wort Koreanisch und hat sich auch noch nie für das Land ihrer biologischen Herkunft interessiert. Ganz klar, das Unbehagen einem Ort gegenüber, an welchem sie auf gewisse Weise nicht willkommen war, mag Hemmschuh genug dafür sein, diesen Breitengraden aus dem Weg zu gehen. Doch es kommt alles anders: Statt eines Fluges nach Japan, der leider ausfällt, wählt Freddie die Alternative Seoul – und sitzt schon bald im Kundenempfang des Adoptionsbüros, um mehr über ihre Vergangenheit herauszufinden. Siehe da – schon bald meldet sich der Vater. Er und seine ganze Familie – somit auch Freddies Familie – sind außer sich vor Freude, den verlorenen Spross wieder bei sich aufnehmen zu dürfen. Wie jemand, der ohnehin wenig innere Ruhe findet, damit umgehen soll? Die Geschichte über Annäherung, Loslassen und Verzeihen weiß zu berühren, und das ganz ohne Sentimentalitäten. Auch wenn – wie im Film vermittelt – Koreaner die Tendenz dazu haben.

Wohl kaum würde man in Return to Seoul ein ganzes Epos vermuten. Tatsächlich umfasst die fiktive Biografie einer Entwurzelten ganze acht Jahre, in welcher diese allerhand Entwicklungen durchmacht, psychologische wie existenzielle. Der kambodschanische Filmemacher Davy Chou liefert einen konzentrierten, dichten Autorenfilm ab, der Hauptdarstellerin Ji-Min Park keine Minute aus den Augen lässt. Sie gleitet, strauchelt und eilt durch ihre eigene Zukunft, sie kämpft mit der Enttäuschung, adoptiert worden zu sein genauso wie mit dem starken Bedürfnis des Vaters nach Nähe zu seiner Tochter. Es geht um Selbstfindung und Akzeptanz – formal reinstes Schauspielkino, irrlichternd, aufbrausend und ruhesuchend in der urbanen wie ländlichen Schönheit Südkoreas. Return to Seoul begegnet uns fremden Lebensweisen und schwört auf die zentrale Bedeutung einer ethnobiologischen Geschichte, die niemand einfach so abschütteln kann.

Return to Seoul (2022)

Der schlimmste Mensch der Welt

DAS LEBEN IM KONJUNKTIV

7/10


schlimmstemenschderwelt© 2022 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: NORWEGEN, FRANKREICH, SCHWEDEN, DÄNEMARK 2021

REGIE: JOACHIM TRIER

BUCH: JOACHIM TRIER, ESKIL VOGT

CAST: RENATE REINSVE, ANDERS DANIELSEN LIE, HERBERT NORDRUM, MARIA GRAZIA DIE MEO, HANS OLAV BRENNER U. A. 

LÄNGE: 2 STD 8 MIN


Kennt ihr den Begriff Hättiwari? Ist natürlich was typisch Österreichisches. Ein Wort, dass sich zusammensetzt aus „Hätte ich“ und „Wäre ich“. Ein Hättiwari ist jemand, der sichtlich Schwierigkeiten damit hat, sich für die eine oder andere Sache zu entscheiden und entweder gar nichts tut oder das, was er tut, ganz plötzlich abbricht. Auf diese Art kommt man im Leben kaum vorwärts, denn entschließt man sich mal für eines, bleibt das andere auf der Strecke. Was aber, wenn das andere besser gewesen wäre als das eine? So stehen diese Menschen vor geöffneten Türen, die alle recht einladend wirken, die sich jedoch, sobald eine Schwelle übertreten wird, für immer schließen. So ein Mensch ist auch das Fräulein Julie – eine gerade mal 30 Lenze zählende junge Frau, die verschiedene Dinge bereits ausprobiert hat – vom Medizinstudium über Psychologie bis hin zur Fotografie und dazwischen ein bisschen bloggen. Julie steht oft neben sich, crasht mitunter sogar Partys, zu denen sie gar nicht eingeladen wurde und liebt einen Comiczeichner, der es mit der Sprunghaftigkeit seiner Partnerin allerdings gut aushält. Der viel weiß und gerne erklärt. Der irgendwann aber auch nicht mehr tun kann, als zuzusehen, wie Julie den Entschluss fasst, auch in Sachen Beziehung die Schwelle zu wechseln. Kann ja sein, dass Frau etwas versäumt.

Wenn Cannes Preisträgerin Renate Reinsve (Beste Darstellerin 2021) als Julie nach dem Einwerfen von Magic Mushrooms den Boden unter den Füssen verliert, sagt das sehr viel über ihr Leben aus. Warum, fragt sich Joachim Trier, und nimmt seine charmant und gewinnend lächelnde Protagonistin unter die Lupe. Dabei hat seine Julie, anders als Thelma in seinem gleichnamigen, etwas anderen Coming of Age- Mysterydrama, keinerlei anomalen Fähigkeiten, stattdessen aber viele Eigenschaften, die sie fahrig und unentschlossen machen. Eine Figur, wie sie zum Beispiel Greta Gerwig gerne verkörpert hat – als herzensgut, freundlich, unaufdringlich intellektuell und ordentlich verpeilt. Und nicht nur Renate Reinsve erinnert an die US-amerikanische Schauspielerin, die nunmehr lieber Regie führt: Der schlimmste Mensch der Welt entscheidet sich für einen Stil, der sehr an Noah Baumbach erinnert. Es wird viel geredet und diskutiert; die soziale Inkompetenz, die sich aus dem Widerstand gegenüber gesellschaftlichen Trends ergibt, entscheidet über Ende und Anfang von Beziehungen. Zwischen hippen Bobos, die sich im Mansplaining ergehen, und den Selbstverwirklichungen anderer hängt Julie als jemand, der nicht fähig ist, Selbstvertrauen zu entwickeln, in den Seilen. Für dieses Psychogramm nimmt sich Joachim Trier Zeit und entwickelt Geduld, ohne jene des Publikums zu strapazieren. Auch wenn sich in diesem Beziehungsdrama vieles im Kreis bewegt und nicht wirklich im Sinn hat, eine Geschichte vorwärtszubringen, die einen Wandel beschreibt, bleibt Julie als eine kleine Ikone nachstudentischer junger Erwachsener attraktiv und interessant genug, um tatsächlich und wirklich erfahren zu wollen, was genau sie zögern lässt.

Der schlimmste Mensch der Welt ist pointiert geschrieben, unaufgeregt und spontan. Mit kleinen inszenatorischen Spielereien und sanfter Symbolik illustriert er Julies Leben ein bisschen wie eine Graphic Novel. Mit mehr als einer Prise erotischer Freiheit, die wiederum mit dem französischen Erzählkino der Novel Vague kokettiert, beobachtet Triers Portrait eines Lebens im Konjunktiv einen Zustand, aus dem es mit eigener Kraft kein Entkommen gibt. Was bleibt, ist, wie am Ende des Films lakonisch illustriert, die Fähigkeit, sich vorzustellen zu können, was gewesen wäre.

Der schlimmste Mensch der Welt

West Side Story (2021)

SINGEND UM DIE HÄUSER ZIEHEN

7/10


westsidestory© 2021 Walt Disney Pictures Company


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: STEVEN SPIELBERG

CAST: ANSEL ELGORT, RACHEL ZEGLER, ARIANA DEBOSE, DAVID ALVAREZ, MIKE FAIST, RITA MORENO, COREY STOLL, BRIAN D’ARCY JAMES U. A.

LÄNGE: 2 STD 37 MIN


Zwischen am Straßenrand geparkten Oldtimern und Backsteinfassaden findet Steven Spielberg erstmals Zugang zu einem bislang umgangenen Genre: den des Filmmusicals. Moderne Konzepte bleiben dabei  unversucht, während der Altmeister lieber in der Filmgeschichte stöbert und dabei ein Museumsstück zum Vorschein bringt, das zwar selbst weitestgehend unangetastet bleiben muss, der Glassturz aber, unter welchem das Werk ruht, durchaus einer Reinigung bedarf. Also macht sich Spielberg daran, die Sicht auf einen Klassiker streifenfrei zu gewährleisten. Was wir sehen, ist das, was Leonard Bernstein, Arthur Laurentis und Steven Sondheim seinerzeit geschaffen haben. Kein bisschen moderner, kein bisschen innovativer, und in keiner Weise anders betrachtet. West Side Story ist die generalüberholte Ur-und einzige Version eines dezenten Singspiels, das glücklicherweise darauf verzichtet, jede noch so erdenkliche Emotion in ein Musikstück zu packen und das wirklich Tragische maximal mit orchestralem Score unterlegt. Was für eine Wohltat, in Anbetracht verkitschter Bühnenshows, die keinerlei Ohrwürmer mehr bereithalten.

Spielberg ist immer noch einer, der filmische Dramen jenen mit Gesang vorzieht. Eine Gesinnung, die er deutlich macht. Dabei ist die persönliche Beziehung zu einer in den Jugendjahren zurückliegenden filmischen Erfahrung im Kino oder vor dem Fernseher, die Spielberg gehabt haben muss, nicht unwesentlich daran beteiligt, West Side Story als etwas Unantastbares zu betrachten. Für mich persönlich macht das keinen Unterschied – ich kenne Robert Wise’s mit zehn Oscars gekröntes Filmwerk aus den frühen Sechzigern nur bruchstückhaft und auszugsweise und eben immer dann, wenn der zweieinhalb Stunden lange Streifen gerade im Fernsehen lief. Woran ich mich aber noch erinnern kann, das ist die urbane Feuertreppenromantik der New Yorker Vororte. Die ist nun auch in der brandneuen Version dominant genug, um gern mit dem Original verwechselt zu werden. Was sich vielleicht deutlich von damals unterscheidet, geht auf die Kappe von Spielbergs Haus- und Hofkameramann Janusz Kaminski, der wie immer alles Menschenmögliche an Licht-Schatten-Spielereien umsetzt. Seinen Höhepunkt findet das Bemühen im zweiten Akt, wenn die beiden rivalisierenden Gangs – eben die Jets und die Sharks – in einer Salzlagerhalle aufeinandertreffen. Das Licht fällt horizontal und wirft lange Schatten. Als wären die Aliens aus Unheimliche Begegnung der dritten Art neu gelandet. Sphärisch, das Ganze. Und sehr emotional.

Die Jets und die Sharks – das sind einerseits die weißen Jungs des Viertels, das ohnehin einer neuen Wohnhausanlage weichen muss, und andererseits die temperamentvollen Puerto-Ricaner. Eine Minderheit, deren halbstarke Fraktion aus scheinbar lauter Fadesse ihren Hass auf anders Gesinnte zelebriert. Die grundlose Ablehnung beruht natürlich auf Gegenseitigkeit, wie bei Romeo und Julia. Die beiden aus Shakespeares Werk zum Unglück Bestimmten sind in diesem Fall Maria und Tony. Von Maria wissen wir, dass Tony schon im ersten Drittel den Ohrwurm unter den Wäscheleinen der Anrainer singen wird – als Antwort gibt’s das begnadete Tonight, und irgendwann später der von Anita (im Original von Rita Moreno) geschmetterte, feurige Klassiker America. Da weiß man: man sitzt im richtigen Musical. Geschmackvolle Kompositionen aus Jazz und Gesang unterfüttern eine Uminterpretation der Liebestragödie schlechthin, für die Neuentdeckung Rachel Zegler und Ansel Elgort stimmlich in luftige Höhen aufsteigen und den Straßendunst der Stadt hinter sich lassen. Beide sind gesanglich eine Überraschung – zumindest meiner Wahrnehmung nach misstönt nicht mal das hohe C. Schade nur, dass die kleine, aber feine Nummer Somewhere nicht ebenfalls von Zegler selbst interpretiert wird – stattdessen bekommt eine stimmlich halbwegs solide Rita Moreno hierfür, nach sechzig Jahren, ihre zweite Chance.

Spielberg ist ein Filmemacher alter Schule. Und er beherrscht sein Handwerk perfekt. Zu perfekt, könnte man sagen. Zu hemdsärmelig, mittlerweile. Zu wenig berührt von neuem Esprit. Nun, dieser gehört anderen Künstlern seiner Art. Spielberg selbst will mit West Side Story etwas Traditionelles, Bewährtes, dass sich kaum von seinem Vorbild unterscheidet, neu positionieren. Musical-Muffel wie mir bietet der Film eine konsensbereite Erlebniswelt, die das prosaische Drama mit punktgenauen musikalischen Genussminuten verbindet.

West Side Story (2021)

Brennpunkt Brooklyn

SCHUSS INS KREUZ

7/10


the-french-connection© 1971 20th Century Fox


OT: THE FRENCH CONNECTION

LAND / JAHR: USA 1971

REGIE: WILLIAM FRIEDKIN

CAST: GENE HACKMAN, ROY SCHEIDER, FERNANDO REY, MARCEL BOZZUFFI, TONY LO BIANCO, EDDIE EGAN U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Die von mir sehr geschätzte Fachzeitschrift cinema liefert mit ihrer Rubrik „Geburt eines Filmklassikers“ monatlich jede Menge Hintergrundinfos zu Werken, die längst Geschichte geschrieben haben. Und die man eigentlich als Filmfan nicht links liegen lassen kann. Inspiriert vom letzten Beitrag, und weil auch derzeit das Filmangebot trotz Netflix weitgehend überschaubar bleibt, habe ich mir William Friedkins Drogenthriller Brennpunkt Brooklyn – im Original The French Connection – oder einfach beides – zur Brust genommen. Und es lohnt sich, das Making-Of im Vorfeld durchzuackern, denn dann ist der Filmgenuss um eine Dimension reicher, wenn all die beschriebenen Szenen nicht mehr aus dem Konzept gerissen, sondern als Teil des Ganzen zu sehen sind und der Zuseher weiß, was da hinter den Kulissen eigentlich alles los war.

Zum Beispiel die ausufernde Verfolgungsjagd mit dem Auto. Das Kuriose dabei: Gene Hackman, der hinterm Steuer sitzt, verfolgt gar nicht mal einen anderen Wagen, sondern hetzt dem Antagonisten hinterher, der in der Schnellbahn über ihm stets eine Nasenlänge voraus ist. Auch nach 50 Jahren – da fällt mir auf: der Film feiert heuer gar ein halbes Jahrhundert Jubiläum, Gratulation! – bietet diese Szene aufgrund seines innovativen Kameraeinsatzes und einem wirklich makellosen Schnitt feinstes Actionkino. Für den Schnitt gabs ja sogar einen von fünf Oscars. Die anderen gingen unter anderem an die Regie und an Gene Hackman. Verdient? Nun, Antihelden wie dieser sind mittlerweile in jeder zweiten Krimiproduktion zu finden. Damals allerdings waren Filmhelden noch Leute mit Ehre und Ethik und salonfähigem Auftreten. Gene Hackman war das, so wie zur selben Zeit Clint Eastwood als Dirty Harry, plötzlich alles nicht mehr. Hackman war gelinde gesagt ein Raubtier mit Polizeimarke und Porkpie-Hut, einer, der nicht anders konnte, als seiner Lust am Auflauern und Jagen einfach nachzugeben. Friedkin zeichnet diese Figur als eine, die sich rein durch dieses Tun definiert. So kommt es mitunter, dass das Sakrileg vom Schuss in den Rücken des Killers in dieses Charakterprofil einfach hineinpasst. Hier geht’s um das Erlegen des kriminellen Freiwilds an sich. Insofern wird Hackman in dieser Rolle richtig groß, und auch am Ende, als er im Halbdunkel einer verfallenen Fabrikhalle den Feind ausmacht, spricht direkt ein bisschen der Wahnsinn.

Brennpunkt Brooklyn ist tatsächlich ein guter Film. Allerdings nichts, das nahe geht, und nichts, das wärmt. Aber etwas, das bestechend akkurat seinen roten Faden verfolgt, ohne sich in Nebenstories zu verlieren. Der winterharte Thriller (da können selbst die paar Szenen in Marseille nichts dran ändern) reduziert seinen Plot aufs Wesentliche, lässt unentwegt bespitzeln und beobachten. Scheider und Hackman sitzen und stehen stets auf Nadeln, da ist nichts, was sie ruhen lässt. Nur die Kälte bremst den Drang, die Dinge am liebsten so zu regeln, als wäre Anarchie die neue Ordnung. Platzhirsche der Gerechtigkeit, wenn man so will. Und selbst die ist nur zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Denn – wäre die Biographie von Jimmy „Popeye“ Doyle, so Hackmans Rolle (die auf einer wahren Figur beruh – auch jene von Scheider), etwas anders verlaufen, könnte man ihn gut und gerne auch auf der anderen Seite des Gesetzes sehen.

Brennpunkt Brooklyn

Undine

VERGISS NICHT WER DU BIST

7/10

 

undine© 2020 Piffl Medien

 

LAND: DEUTSCHLAND 2020

REGIE: CHRISTIAN PETZOLD

CAST: PAULA BEER, FRANZ ROGOWSKI, JACOB MATSCHENZ, MARYAM ZAREE U. A. 

 

Berlin, eine Stadt der steten Veränderung. Wenn man Christian Petzolds neuem Film beiwohnt, hat man zusätzlich auch eine Führung in Sachen urbaner Entwicklung gebucht. Interessant, woher der Name Berlin eigentlich kommt. Er bedeutet so viel wie „eine trockene Stelle inmitten eines Sumpfes“. Sonst aber verliert sich der Ursprung Berlins im geschichtlichen Dunkel, mitsamt seinen Mythen. Wim Wenders wusste die europäische Stadt der Engel von geflügelten Elementarwesen bewacht, unsterbliche Kreaturen, die im Himmel über Berlin dem umtriebigen Menschengeschlecht mit aktiver Schadensbegrenzung beizuwohnen hatten. Schutzengel nennen sie manche. Bruno Ganz würde das vielleicht anders sehen, aber egal. Berlin hat noch andere Mythen, laut Christian Petzold. Sein Blick hinter den Vorhang der trockenen Realität fällt auf jene halbgöttlichen Elementarwesen, du gut und gerne als Wassergeister oder Nixen bezeichnet werden. Eine davon nennt sich Undine. Erstmals erwähnt wird diese in einer Sage aus dem Geschlecht der Stauffenberger aus dem 14ten Jahrhundert. Undine könnte unsterblich sein, aber so genau weiß man das nicht. Undine jedenfalls bekommt nur dann eine Seele, wenn sie lieben kann. Soviel zur Legende. Paula Beer ist dieser Legende verwandter als ihr lieb ist. Oder ist alles nur reiner Zufall? Warum aber droht sie ihrem Partner, der gerade drauf und dran ist, bei der gemeinsamen Tasse Kaffee Schluss zu machen, mit dem Tod? Etwas heftig. In Anbetracht dessen, dass ein Wassergeist dem liebenden Verräter gegenübersitzt, durchaus nachvollziehbar. Doch es muss gar nicht viel Zeit verstreichen, da wird Undine neu geboren, im algigen Wasser eines zerborstenen Aquariums, ihr zur Seite Franz Rogowski, der erstmal gar nicht weiß wie ihm geschieht. Und sich Hals über Kopf in Undine verliebt.

Undine ist meine erste Erfahrung mit Christian Petzold. Aus diversen Rezensionen weiß ich aber: der Mann ist kein Freund des Neo-, sondern vielmehr des Magischen Realismus, denn die meisten seiner Filme wandeln an der Grenze zwischen nüchternem Alltag und transzendenter Metaphysik, die sich ungefragt in der uns vertrauten Dimension positioniert. Paula Beer wirkt wie ein an den Strand gespültes Wesen, weniger naiv als Daryl Hannah aus der thematisch verwandten Mythenkomödie Splash, dafür aber umso sehnsüchtiger und verwirrter, weil sie weiß: da war doch was! Undine ist in Petzolds Film in einer klar definierten Realität angekommen, scheint als magische Exilantin ihren Ursprung fast vergessen zu haben. Wie viele davon in Berlins urbanem Kosmos würden sich wohl an ihre eigene Magie erinnern, wenn die Liebe ihr Wissen ob ihrer Herkunft triggert?

Petzold erklärt die Hauptstadt Deutschlands wie Wim Wenders zu einem Erbe des Sagenhaften. Viel davon ist nicht mehr geblieben, alles hat sich verändert. Und doch, blickt man genauer hin, findet das Paranormale seinen Weg durch bauliche Maßnahmen, die diese andere Identität vergessen machen wollen. Rogowski verfällt diesem Zauber, für Paula Beer ist diese Abhängigkeit Bedingung, um unter den Menschen weilen zu können. Undine gelingt diese Interpretation der mittelalterlichen Sage mit entspannter Nüchternheit jenseits folkloristischen Pomps. Seine Figuren sind narrative Gestalten, nur für die Geschichte zum Leben erweckt. Erscheinungen, die nach Ende des Films verschwinden. Und das ist gut so. Ihre Reduktion auf die strikte Gegenwart eines modernen Märchens hat alleine schon etwas Entrücktes. Petzolds Bilder haben niemals einen Selbstzweck, sind nur Module für seine Erzählung. Wenn sich Rogowski beim Tauchen dem König des Sees gegenübersieht oder der Taucher in Undines Hand zur verschenkten Seele wird, ist das verträumte Schwermut ohne Leerlauf. Ein schöner, konzentrierter Film, der vielleicht zu viel Zeit mit Berliner Stadtgeschichte vertrödelt, sonst aber den Mythos in seiner Essenz auf den Punkt bringt.

Undine

In the Shadow of the Moon

KOMMT ZEIT, KOMMT TAT

6/10

 

in-the-shadow-of-the-moon© 2019 Netflix

 

LAND: USA 2019

REGIE: JIM MICKLE

CAST: BOYD HOLBROOK, CLEOPATRA COLEMAN, MICHAEL C. HALL, BOKEEM WOODBINE U. A. 

 

Wer kein Blut sehen kann, sollte die Ermittlungen im vorliegenden Science-Fiction Thriller getrost jemand anderem überlassen. Natürlich ist das noch lange nichts gegen den Hämoglobin-Neuanstrich im Stanley-Hotel bei Shining, aber immerhin – wenn scheinbar x-beliebige Opfer plötzlich nicht nur Nasenbluten haben (dabei könnten sie ja den Kopf in den Nacken legen, ein nasskaltes Tuch auf selbigem, wir wissen das seit der Volksschule) sondern auch aus Ohren, Augen und sonstigen uns unbekannten Öffnungen im Kopfbereich ordentlich auszurinnen beginnen, dann färbt das mitunter auch die Straßen rot. Mit solchen Fällen nämlich hat es Officer Lockhart zu tun – oder auch nicht zu tun, denn der ist nur ein gewöhnlicher Streifenpolizist, der sich aber ins Geschehen drängt, will er doch um Biegen und Brechen ähnlich spannende Ermittlungen durchführen wie sein Schwager, der den Verdacht hegt, es mit einem Serienkiller zu tun zu haben. Neben der Tötungsart ist noch etwas ganz anderes äußerst mysteriös: drei Nadelstiche im Nacken – könnte Akupunktur sein, ist es aber nicht. Zu allem Unglück in dieser besagten Nacht, die noch dazu einen Blutmond zur Folge hat, kommt dazu, dass Lockhart Papa wird, während Mama die Geburt nicht überlebt. Was dieses Schicksal mit dem Fall zu tun hat? Sehr viel, wie sich später herausstellen wird. Und auch ein farbiges Mädchen in blauem Hoodie scheint in dieser Nacht äußerst präsent zu sein.

Das Bemerkenswerteste an dieser Netflix-Produktion ist der enorme Zeitraum des Geschehens. Die obskuren Fälle werden lange nicht aufgeklärt, Officer Lockhart, der irgendwann gar kein Officer mehr ist, sondern nur noch Privatdetektiv, entwickelt fast schon eine dürrenmatt´sche Verbissenheit samt innerer wie äußerer Verwahrlosung bei seinem Versuch, das Rätsel zu lösen. Regisseur Jim Mickle setzt in seinem Spiel mit der Zeit aber längst nicht auf epische Versatzstücke. Wichtig dabei ist lediglich ein ganz bestimmter Tag pro Dekade, der sämtliche Parameter wieder neu ordnet. In the Shadow of the Moon ist ein elegant gefilmter, urbaner Kriminalfilm in polizeilichem Sirenenblau und Halogenlicht, das hat ein bisschen Achtzigerjahre-Style, ein bisschen wie Black Rain oder Glitzernder Asphalt, nur weniger auf cooler Typ, sondern – und das trotz all des vielen Nasenblutens – ungewöhnlich zartbesaitet. Passt das zum übrigen Kontext des Films? Eigentlich schon. In Mickles Zeitreisekrimi geht’s ganz viel um Streben nach dem Gutmensch, auch wenn man das anfangs gar nicht glauben möchte. Es hat was Philosophisches, ungefähr so wie der mittlerweile zum Klassiker avancierte Predestination, der sehr geschickt mir den entropischen Dimensionen spielt. Doch so raffiniert ist In the Shadow of the Moon dann doch nicht geworden. Etwas zu gefühlsduselig, und das Hauptproblem neben dieser Tendenz ist Hauptdarsteller Boyd Holbrook, der mich irgendwie an Jason Segel erinnert hat und diese prinzipiell schwierige Rolle eines weltvergessenen, verschrobenen Ermittlers über eine so lange Zeit hinweg mit etwas deplatzierter unfreiwilliger Komik und sichtlich gefakter Kopf- und Gesichtsbehaarung selten glaubhaft transportieren kann.

Abgesehen davon ist das schwer fassbare Mysterium Zeit ein gern gesehener Studiogast im verschwurbelten Raum-Zeit-Kontinuum der Science-Fiction, Filme wie 12 Monkeys haben da gehörig Biss, komödiantisch gesehen sowieso Zurück in die Zukunft. In the Shadow of the Moon fährt da eher die entspannte Schiene, klaubt sich so manches aus dem Genre zusammen und findet nichtsdestotrotz seine Stimmigkeit, das aber eher das Werk eines fleißigen Schülers als das eines Meisters ist.

In the Shadow of the Moon

Gundala

MISTER BLITZABLEITER

5,5/10

 

gundala© 2019 Koch Media

 

LAND: INDONESIEN 2019

REGIE: JOKO ANWAR

CAST: ABIMANA ARYASTYA. TARA BASRO, ARIO BAYU, BRONT PALARAE, LUKMAN SARDI U. A.

 

Was das Entertainment im Westen so hervorbringt, scheint Indonesien zu gefallen. Am liebsten Marke Event – bunt und laut und wohlgefällig. Was eignet sich da nicht besser als Hollywoods Comic-Universen? Superhelden gehen immer. Aber müssen es wirklich immer nur die Avengers oder die Justice League sein? Gibt’s da nicht auch noch andere Helden? Nicht zwingend aus der zweiten Reihe, aber aus einer ganz anderen Hemisphäre. Siehe da, Indonesien hat sowas auch (wer hat die eigentlich nicht – ich warte eigentlich schon auf Österreichs Verfilmung von ASH). Erschaffen wurde einer dieser Charaktere vor wirklich schon langer Zeit, und zwar Ende der 60er Jahre, von einem Autor namens Harya „Hasmi“ Suraminata: Gundala. So heißt der gute Mann, und der hat fast schon eine ähnliche schicksalhafte Kindheit wie unser wohlbekannter Batman. Gundala also muss zusehen, wie sein Papa stirbt und wird dann auch noch von Mama alleingelassen. Den Reichtum eines Bruce Wayne hat der Knabe freilich nicht, also läuft er weg, irgendwo hin, und sieht dabei zu, dass er nicht in ein Gewitter kommt, was in der Regenzeit in Jakarta des Öfteren mal passiert. Die Blitze nämlich, die scheinen es auf den Kleinen abgesehen zu haben.

Dieses Jakarta, das ist wie Gotham City. Es herrscht Unfrieden zwischen dem Proletariat und den Arbeitgebern, Menschen- und Arbeitsrechte sind Mangelware, das Volk protestiert, wo’s nur geht. Irgendwo in diesem Moloch treibt so mancher zu Unrecht entstellter Antagonist sein Unwesen, mit sämtlichen anderen Finsterlingen im Schlepptau. Es folgt – wie kann es anders sein – für Gundala die große Stunde der Erkenntnis, für etwas ganz anderes bestimmt worden zu sein als nur für ein normales Leben, das geprägt ist von Wunschträumen nach der Heimkehr seiner Mutter.

Natürlich hat Gundala später auch sein eigenes Outfit, das ein bisschen aussieht wie das von Wolverine aus den Comics und Deadpool zusammen. Ein Superheld braucht sowas, und er braucht auch übermenschliche Kräfte, um den Bösen ordentlich den Hintern zu versohlen. Joko Anwar beginnt sein Origin-Movie nebst ordentlich Dramatik mit beeindruckenden Bildern, die manchmal an David Finchers grünstichig-verregnete Optik erinnern. Technisch gesehen gibts da wirklich nichts auszusetzen, Effekte und alles andere sind State of the Art, da müsste Hollywood anerkennend nicken. Aber wie das bei Origin-Stories eben mal so ist, kann auch Indonesien nicht anders, als im Grunde die immer gleiche Geschichte zu erzählen. Vom gekränkten Finsterling und vom selbstlosen Volksvertreter. Vor allem im Mittelteil hat Gundala schön fotografierte, aber satte Längen, die dem Genre der Comicverfilmung nicht viel Neues abgewinnen.

Die südostasiatische Antwort auf Marvel und Co ist nicht volltönend, aber grundsolide, durchaus sympathisch und für ein bereits verwöhntes Publikum gefällig genug, um seine Fans zu finden. Selbst den Teaser für eine mögliche Fortsetzung kann sich das Heldenkino Indonesiens nicht verkneifen. Die Comics um Gundala und Co wird man hierzulande aber vergeblich suchen – es sei denn, dieses DVD-Release entwickelt sich zu einem erfolgreichen Selbstläufer, was ich dann aufgrund des bereits gesättigten Marktes aber kaum glauben kann.

Gundala

Der wunderbare Garten der Bella Brown

DU KANNST ES DIR VORSTELLEN, ALSO KANNST DU ES AUCH PFLANZEN

8/10

 

bellabrown© 2016 Luna Film

 

ORIGINAL: THIS BEAUTIFUL FANTASTIC

LAND: GROSSBRITANNIEN 2016

REGIE: SIMON ABOUD

MIT JESSICA BROWN FINDLAY, TOM WILKINSON, ANDREW SCOTT, JEREMY IRVINE U. A.

 

Wie sie alle aus den Baumärkten schlendern, mit Steigen voller Blumen in den Armen, mit Säcken voller Saatgut und Erde – der Frühling ist da, und all die Gartencenter und Gärtnereien klopfen sich frohlockend auf die grün beschürzten Schenkel. Wer einen Garten hat, geht in den Garten. Pflanzt, baut an, jätet. Begrünt, was noch zu bewältigen ist. Freut sich angesichts der Strelitzien, Forsythien, Schwertlilien, Primeln und wie sie sonst so alle heißen. Pflanzen gibt es überall en masse. Nur pflegen muss man sie. Hat man einen grünen Daumen, ist alles nur mehr eine gemähte Wiese. Hat man ihn nicht, darf der professionelle Gärtner ran, weil in der künstlich erschaffenen Natur zu sitzen in jedem Fall ein Schuss ins Grüne ist. Hat man aber weder ein Faible für private Parks Marke Schreber noch einen grünen Daumen, wird der Garten zur sprichwörtlichen „G´stettn“. Wenn man sich’s also nicht vorstellen kann, kann man es auch nicht pflanzen. Und Bella Brown, die kann es nicht. Will es nicht. Pflanzen und alles, was da so unkontrolliert wächst, ist der verschrobenen Eigenbrötlerin ein Gräuel. Wie vernichtend muss dann ein gepflegter Garten sein. Obwohl ein solcher ja schon wieder ein geordnetes Chaos darstellt. Um so weit zu kommen, muss das unkontrollierbare, wandelbare Durcheinander gebändigt werden. Irgendwann hat die neurotische Bibliothekarin keine andere Wahl mehr, als ihre grünen Hölle vor dem Haus in die Schranken zu weisen, will sie nicht delogiert werden. Also heißt es, sich seinen Dämonen zu stellen. Der Unmittelbarkeit, der Willkür des Lebens, aber auch seiner Pracht und seiner Verlockung.

Lang hat´s gedauert, aber England hat endlich das französische Kino entdeckt! Was so viel heißt wie: das Independentkino der britischen Insel ist mit Der wunderbare Garten der Bella Brown auf den Geschmack der duftenden, leichten, verspielten RomCom aus dem Nachbarland gestoßen. Und das, obwohl das britische Schauspiel-Urgestein Tom Wilkinson wie ein erhabener Dirigent das vorläufige Geschehen dominiert. Allerdings ist ihm die Rolle des resoluten wie reichen Seniors auf den Leib geschrieben – und hat im Film auch schon seine verknöcherte Notwendigkeit. Man erkennt aber gleich – Wilkinson´s Rolle soll sich noch gehörig wandeln. Mit ihr auch jene von Jessica Brown Findlay, die mit ihrer femininen Antwort auf Bill Murray aus Was ist mit Bob? und Jack Nicholson in Besser geht’s nicht so herrlich französisch wirkt, dass man nicht vermuten würde, sie im erzbritischen Downton Abbey wiederzufinden. Abgesehen von dieser TV Show ist Findlay ein neues, unverbrauchtes Gesicht auf den Kinoleinwänden dieser Welt. Diese frische Mimik verstärkt das Gefühl, als Zaungast tatsächlich über die Hecke zu blicken und eine Alltagsgeschichte zu erspähen, dessen lückenlose Betrachtung den Aufwand lohnt.

Ob im Familien- oder Freundeskreis – es gibt sicher irgendwen, den ihr kennt, der liebend gerne gärtnert, vor allem im eigenen Garten. Sei es in einer gepachteten Schrebergartenparzelle oder auf weitläufigem Grund. Vielleicht ist meine geschätzte Leserin oder mein geschätzter Leser selbst so ein passionierter Gärtner. All jenen sei Der wunderbare Garten der Bella Brown ans blühende Herz gelegt. Es ist nicht nur eine Freude, zuzusehen, wie aus der widerspenstigen Outdoor-Banausin ein blätterliebkosender Genussmensch wird. Regisseur Simon Aboud, Ehegatte der Tochter Paul McCartney´s, hat ein urbanes Märchen über die Akzeptanz des Chaos gedichtet. Über den Reiz an Kontrollverlust, die dadurch entstehende Inspiration und einem täglich neuen Geschmack des Tages auf der Zunge. So unterschiedlich auch alle möglichen Blüten in Bella Brown´s Garten duften, so variierend und oszillierend kann die eigene Existenz sein. This Beautiful Fantastic, wie Aboud´s Film im Original betitelt wird, ist von auf Zehenspitzen trippelnder Leichtfüßigkeit. Versponnen, offenherzig und den Launen der Natur eines Gartens im besten Sinne ausgesetzt. Sich diesen Reizen zu widersetzen, wäre ein Griff in den Komposthaufen.

Der wunderbare Garten der Bella Brown

Stille Reserven

SCHLAFEN, WENN MAN TOT IST

5/10

 

stillereserven© 2016 Filmladen

 

LAND: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND, SCHWEIZ 2016

REGIE: VALENTIN HITZ

MIT CLEMENS SCHICK, LENA LAUZEMIS, MARION MITTERHAMMER, SIMON SCHWARZ U. A.

 

Welche Phrase verwenden Workaholics gerne, um ihren Duracell-Zustand zu rechtfertigen? „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin“. Nun, in einer unbestimmten, nicht weit entfernten Zukunft, im Herzen der Europäischen Union, genauer gesagt in einem geradezu postapokalyptisch entseelten Wien, ist genau das zur optimierten Nutzung vorhandener Ressourcen gang und gäbe geworden. Nicht nur Altpapier, nicht nur Plastikflaschen und Biomüll – nein, in dieser nicht wirklich lebenswerten Zukunft werden auch tote Menschen nicht für tot gehalten, sondern vegetativ am Leben. Ähnlich wie in Matrix dämmert ein künstlich am Leben erhaltener Homo sapiens vor sich hin, um nach und nach ausgeschlachtet zu werden. Denn Ressourcen – die werden in den kommenden Tagen nicht verschwendet. Gut, man kann Nachhaltigkeit auch übertreiben. In Valentin Hitz abgasegrauer Dystopie ist genau das passiert. Jener Teil der Bevölkerung, der verschuldet das Zeitliche segnet, darf auch postmortem seine Schuldigkeit abbezahlen. Das ist fast so wie mit dem Teufel und seiner Seele. Wiener Sagen haben also zukünftig wieder Hochkonjunktur und sind sogar Teil des Regierungsprogramms – wenn der Teufel im Parlament sitzt. Das tut er. Und das nutzen auch Konzerne, die keilen was geht, um Todesversicherungen abzuschließen. Somit ist nicht mal mehr der Tod umsonst, denn selbst der kostet eigentlich das Leben. Versichern beruhigt also ungemein – sofern man das Geld dafür hat.

Valentin Hitz bedient sich mit Spaten und Schaufeln den Ideen George Orwells, den Zivilisationsalbträumen eines Terry Gilliam und den Film Noir-Elementen aus Blade Runner. Stille Reserven macht das versuchte Zitieren und Imitieren riesigen Spaß – nur ist fast mitleidig zu bemerken, dass der Film vergeblich so gerne so sein will wie die, die er zitiert, es aber zumeist nicht hinbekommt. Stille Reserven wirkt wie das Abschlussprojekt eines Filmschülers. Wäre dem tatsächlich so, gebürt Valentin Hitz großes Lob. Grün hinter den Ohren und so ein Film zum Einstand – da würde ich nicht meckern wollen. Nur dürfte es sich so leider nicht verhalten. Die Koproduktion aus Österreich, Deutschland und der Schweiz hat zwar von überall her seine Finanzierungen erhalten – viel Zuschuss dürfte es nicht gewesen sein. Wobei Kameramann Martin Gschlacht hier versucht, Bilder einzufangen, die von hypnotisch-ohnmächtiger Kälte unbeheizter Bauwerke dominiert werden. Mittendrin Schauspieler, die sich wie Androiden verhalten. Womöglich sind sie das auch, zur Sprache kommt aber die Roboterthematik so gut wie gar nicht. Was aber ein verführerisch fuchsiger Gedanke wäre. Denn die Idee hinter Stille Reserven hätte das Zeug dazu gehabt, was weltbewegend Großes entstehen zu lassen. Natürlich längst nicht so etwas wie Blade Runner, aber zumindest etwas Visionäres. Etwas, das bewegt, und vielleicht sogar ein bisschen verstört.

Beides tut Stille Reserven nicht. Zugegeben, das Szenario des ungewohnten Todes, das Vorenthalten der Erlösung – das lädt schon zum Nachdenken ein, und hinterlässt auch das eine oder andere beklemmende Gefühl. Glücklich wird man bei Hitz Versuch eines futuristischen Versicherungskrimis jedenfalls nicht. Erstens weil die Welt, die er zeigt, nicht mal mehr sterbenswert zu sein scheint. Und zweitens, weil der Film seinen Höhepunkt verwirkt. Oder sagen wir, völlig fehlinszeniert im Keim erstickt. Gefühlte Dramatik hat in Stille Reserven nichts verloren. Die Protagonisten stolpern in sperrig-steifer Manier, in regennassen Mänteln und sinnierend rauchend durch eine Sin City der Todessehnsucht, auf die Größenordnung einer Wienerstadt schmalgespurt und die Skyline des Laaerberges in ein Wolkenkratzer-Stakkato verwandelt. Was bleibt, ist eine Beschattungs- und Informantenhatz zwischen Graffiti-Slum, Brazil und Soderbergh´s The Good German. Gehöriges Potenzial, das Hitz Film gehabt hätte. Doch leider zu eintönig, langatmig und unfreiwillig statisch. Wobei der Cameo von Dagmar Koller zwar irritiert, aber in all der Trostlosigkeit für Schmunzeln sorgt.

Stille Reserven