Der Gesang der Flusskrebse

UNTER’M MOOS WAS LOS

5/10


gesangderflusskrebse© 2022 Sony Pictures Entertainment


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: OLIVIA NEWMAN

CAST: DAISY EDGAR-JONES, TAYLOR JOHN SMITH, HARRIS DICKINSON, DAVID STRATHAIRN, GARRET DILLAHUNT, STERLING MACER JR. U. A.

LÄNGE: 2 STD 5 MIN


Eine junge Frau, die, isoliert von der Außenwelt, im Wald aufwächst? Kinogehern der Neunziger kommt hier vermutlich Michael Apteds Resozialisierungsdrama Nell in den Sinn. Jodie Foster, entrückt und menschenscheu, auf non- bis paraverbale Kommunikationsmittel beschränkt. Ein verkümmerter Sprachschatz, ein animalisches Verhalten. Liam Neeson hat hier das versucht, was damals schon François Truffaut in seinem Tatsachendrama Der Wolfsjunge probiert hat: den Mensch dorthin zu bringen, wo er hingehört – In die Zivilisation.

Die junge Frau, weitgehend isoliert von der Außenwelt, wird in Delia Owens Bestseller Der Gesang der Flusskrebse beibehalten. Das animalische aber ist verschwunden, der Einklang mit der Natur nicht. Begeisterten Lesern des Romans zufolge sind die Schilderungen des Marschlandes North Carolinas mit all seiner Flora und Fauna das wahre Highlight des literarischen Werks, die von einer Kakophonie an tierischen Geräuschen untermalte Stimmung zwischen Riesenbäumen und labyrinthartigen Wasserwegen der Grund, warum Owens Buch ein Bestseller geworden ist. Mittendrin in diesem grünen Biotop: Ein Mädchen namens Kya, alleingelassen von allen. Erst von der Mutter, dann von den Geschwistern und schlussendlich vom Vater. Ein Leben aus Verlassenwerden und Einsamkeit. Die Einzige Konstante: die tägliche Agenda der Vögel, die vertrauten Gezeiten, der sich niemals ändernde Mechanismus eines intakten Ökosystems. Daheim ist daheim, auch wenn man dieses Daheim mit niemandem mehr teilen muss. Kya ist aber keine Nell, wie schon erwähnt. Sie ist klug, kann sprechen, außerdem bildhübsch und logischerweise menschenscheu. Was ihr dabei noch fehlt in ihrer sprichwörtlichen Raupensammlung: Die Anklage wegen Mordes. Also zerrt man sie aus ihrer vertrauten Umgebung und pflanzt sie vor Gericht, und das aufgrund von Vermutungen und der Bequemlichkeit, eine Außenseiterin wie Kya problemlos als hexengleiches Inquisitionsopfer einzubuchten, da ihr die Lobby fehlt. Das ändert sich jedoch mit einem herzensguten Anwalt im Ruhestand, der Kya von klein auf kennt und seinen Job für diese Sache wieder aufnimmt. Mit diesem Engagement folgt der Startschuss für mehrere Blicke in die Vergangenheit, die das Leben und die Liebe Kyas illustrieren sollen.

Das Buch schwelgt hier vielleicht in wortgewaltiger Romantik im Stile eines modernen Adalbert Stifter mit seitenweisen Satzgemälden, die das Dort so lebendig werden lassen. Im Film darf die Kamera des öfteren auf den majestätischen Eichen und Sumpfzypressen verweilen, die, behangen mit dem gespenstisch anmutenden, spanischen Moos, dem Wald eine ganz eigene Aura verleihen. Tiere, insbesondere Vögel, kommen auch ab und an vor, dürfen aber nur in der zweiten oder dritten Reihe zwitschern. Viel wichtiger ist die Romanze, die in diesem Sumpfland gedeiht. Mit diesem einen jungen Mann, der Kya das Lesen beibringt und sich natürlich in sie verliebt, was bei Daisy Edgar-Jones‘ reizendem und einfühlsamem Spiel wahrlich keine Kunst ist. Und mit diesem anderen, ebenfalls jungen und auch recht adretten Macho, den das Marschmädchen auf ganz andere Weise fasziniert, der aber sehr bald nicht mehr lockerlässt.

Reese Witherspoon hat das Buch fasziniert – und für die Verfilmung das nötige Kleingeld besorgt. Bei so viel Landschaftsliteratur sollte auch die passende Regie ans Werk gehen. Gut vorstellbar, was einer wie Terrence Malick daraus gemacht hätte. Seine frühen Arbeiten, unter anderem In der Glut des Südens, erheben die Natur zu einer üppigen Sensation aus Licht und Schatten. Der Gesang der Flusskrebse wäre wohl sein Ding gewesen. Auch die für Malick typische Stimme aus dem Off hätte hypnotischer, philosophischer, ausdrucksstärker geklungen. Dazu mystische Aufnahmen von Eule und Greifvogel, Frosch und Alligator. Olivia Newman fällt der Zugang in so eine Welt sichtlich schwer. Ihre Sumpfbilder sind da, weil das Buch es verlangt. Der Konflikt mit der Zivilisation ebenso. Wichtig ist der fürs breite Publikum so relevante Herzschmerz, männliche Rivalitäten und das vergebungshungrige Schmachten reuevoller Verliebter. After Love trifft auf Jungfrau-Robinsonade? Ungefähr so, nur der periphere Kriminalfall wartet darauf, dass irgendwo gar Sean Connery aus dem Sumpf des Verbrechens steigt. Stattdessen gibt David Strathairn den integren Advokaten mit überzeugendem Schlussplädoyer.

Den Vergleich mit dem Buch kann ich an dieser Stelle leider nicht ziehen, nur traue ich Owens Werk wohl kaum diese wenig plausible Entwicklung zu, die sich im Film offenbart. Manches begnügt sich, undurchdacht zu bleiben. Der Film selbst: arg konventionell. Edgar-Jones gibt ihr Bestes, hätte aber in ihrer naturkundlichen Leidenschaft und ihrem zerbrechlich-widerstandfähigem Äußeren einen besseren, wuchtigeren Film verdient, der die Thematik des Verlassenseins weniger auf das Ende von Romanzen reduziert.

Der Gesang der Flusskrebse

No Exit

MITGEHANGEN, MITGEFANGEN

3,5/10


noexit© 2022 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: DAMIEN POWER

CAST: HAVANA ROSE LIU, DANNY RAMIREZ, DAVID RYSDAHL, DENNIS HAYSBERT, DALE DICKEY U. A. 

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Schneechaos ist das Beste, was einem Thriller passieren kann. Gut, manchmal reicht auch Regen und Gewitter, denn bei so mieser Witterung will keiner wirklich aus dem Trockenen. In Drew Goddards Bad Times at the El Royale hat’s zumindest geschüttet wie aus Schaffeln, was Chris Hemsworth mit seinen blanken Brustmuckis nicht sonderlich gestört hat. Denn das Wetter ist die Stimmungskanone schlechthin. Da rücken die verbliebenen Insassen zusammen, auch wenn sich diese untereinander fremd sind. Keine Ahnung, was der oder die Einzelne schließlich im Schilde führt oder welchen Rattenschwanz an Lebensbeichten herumgeschleppt werden muss. In Quentin Tarantinos Hateful Eight ist das Schneechaos, ähnlich wie in vorliegendem Film No Exit, der Schraubstock für eine angespannte Gesamtsituation, in der sich alle auf Augenhöhe begegnen müssen – das Katz- und Mausspiel, sofern es eines geben soll, kann beginnen. 

Und ja, auch bei diesem Direct-to-Disney+-Thriller stehen die Zeichen auf Sturm. Wir befinden uns irgendwo auf dem Weg nach Salt Lake City, das heißt: Ex-Junkie Darby tut das, sie ist mit dem Auto unterwegs und will zu ihrer im Sterben liegenden Mutter. Blöd nur, dass ein Blizzard die Straße unpassierbar macht. Zurück in die Reha will Darby auch nicht, also bleibt ihr nur die Touristeninfo am Rande eines Waldes, weitab jeglicher Kontrollinstanz. Natürlich ist sie in dieser wohlig eingerichteten, mit allerlei Nationalparkinfos ausgestatteten Zuflucht nicht allein. Vier weitere Individuen harren besseren Zeiten entgegen. Ein älteres Ehepaar und zwei Mittzwanziger, die unterschiedlicher nicht sein können. Der eine pennt, der andere blickt verstohlen um sich, wagt dabei aber nicht, jemandem ins Gesicht zu sehen. Doch so Freaks gibt’s immer, was soll da schon groß passieren. Der Breakfast Club für die Durchreise ist angerichtet, am besten, man verbringt die Zeit mit Kartenspielen – was die Anwesenden dann auch tun. Der Film wäre nicht aufregender als das Wetterpanorama geworden, wäre Darby nicht durch Zufall auf das entführte und gefesselte Mädchen in einem weißen Van gestoßen. Einer oder eine aus der Gruppe muss also Dreck am Stecken haben. Nur wer?

Wenn Darby ihr Geheimnis noch für sich behält und gute Miene zu bösem Spiel macht; wenn alle fünf um den Tisch sitzen und das dubiose Kartenspiel Bullshit spielen, dann hat das latent bedrohliche Kammerspiel durchaus seinen Reiz. Den es aber auch wieder schnell verliert, so nach dem Motto: wie gewonnen, so zerronnen. Denn sobald klar wird, wer hier nun perfide genug ist, um ein unschuldiges Mädchen zu entführen, sackt die Spannungskurve nach unten. Vielleicht aber helfen ein paar Story-Twists, denn viel mehr ist angesichts des begrenzten Settings ja vielleicht gar nicht möglich. Irrtum – gerade in solchen Situationen lässt sich die Unberechenbarkeit menschlichen Verhaltens ausreizen. Da wären aufgesetzte Wendungen wie diese hier, die offensichtlich nur dazu da sind, um kreatives Defizit zu kompensieren, gar nicht mal nötig. Man hätte den Faktor X noch durchaus weiter in die Spieldauer hineinnehmen können, doch die Mystery weicht einem trivialen Duell Gut gegen Böse, wobei hier niemand Wert legt auf plausible Charaktere, mit Ausnahme vielleicht von Havana Rose Liu, die als moralisches Zentrum ihre sozialen Defizite durch ritterliche Verzweiflungstaten ausgleicht. 

No Exit überrascht nicht, sondern bestätigt immer wieder die Vermutungen des Zuschauers. Der würde sowieso anders agieren, und das gleich zu Beginn. Doch da wäre aus Damien Powers Romanverfilmung ein Kurzfilm geworden. Na und? Vielleicht wäre der aber knackiger.

No Exit

Schachnovelle

ÜBERLEBEN IST EIN KÖNIGSSPIEL

7/10


schachnovelle© 2021 Studiocanal GmbH


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH 2021

REGIE: PHILIPP STÖLZL

CAST: OLIVER MASUCCI, BIRGIT MINICHMAYR, ALBRECHT SCHUCH, SAMUEL FINZI, ANDREAS LUST, LUKAS MIKO, MORITZ VON TREUENFELS, ROLF LASSGÅRD U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Einen Tag vor seinem Suizid brachte der nach Brasilien ausgewanderte Stefan Zweig sein letztes Manuskript zur Post, um es an seinen Verleger zu senden. Es handelte sich dabei um die Schachnovelle, dem knappen, intensiven Psychogramm eines Menschen, der mit allen ihm möglichen Mitteln dagegen ankämpft, gebrochen zu werden. Wenn man so will, ist das Buch nichts anderes als die Chronik einer psychischen Folterung, ein frühes Guantanamo, in welchem der Protagonist insofern gequält wird, indem ihm alles, was den menschlichen Geist am Leben erhält, entzogen wird. Wäre da nicht diese kleine Schachlektüre gewesen, hätte der im Buch als Dr. B bezeichnete Ich-Erzähler wohl seine Geheimnisse preisgeben müssen und hätte sich vermutlich der totalitären Gewalt gebeugt. So jedoch klammert sich der Gefangene statt an den lebensrettenden Strohhalm an zweiunddreißig Figuren, jeweils die Hälfte davon Schwarz und Weiß – und ackert das Büchlein von vorne bis hinten durch, erprobt Strategien und spielt gegen sich selbst. Zum Glück hat der Boden des Badezimmers quadratische Fliesen, und das Brot zur täglich gebrachten Suppe eignet sich wunderbar dafür, vom König bis zum Bauern all die Spielfiguren nachzubilden.

Ein Klassiker, diese Schachnovelle. Spätestens in der Oberstufe ist dieses Buch Teil des Deutschunterrichts und seit den Sechzigern auch Teil des deutschen Filmschaffens, denn eine Aufbereitung mit Curd Jürgens und Mario Adorf gibt es bereits. Die hat allerdings brav nach Vorlage ihre Hausaufgaben gemacht. Philipp Stölzl (Nordwand, Der Medicus) war das zu wenig, vielleicht auch zu langweilig, eine Rahmenhandlung wie in der literarischen Vorlage zu schaffen, und in diese eine gedehnte Rückblende zu betten, die das Martyrium von Dr. B. präzise schildert. Stölzl bricht Rahmenhandlung – eine Schiffsfahrt nach New York, also ins Exil – und Rückblende auf, so als würde man zwei Kartendecks frisch entfolieren und miteinander vermischen. Die Isolation im Wiener Hotel Metropol ist keine Erinnerung mehr, sondern ein gegenwärtiger Ist-Zustand, während die Fahrt auf dem Ozeandampfer meinem Resümee nach genau das gleiche darstellt. Beides findet zur selben Zeit statt. Beides ist Realität und Imagination, ist Wahnsinn und nüchterne Betrachtung.

Schachnovelle ist bei weitem kein herkömmlicher Geschichtsfilm, auch keine herkömmliche Verfilmung. Es lässt – bis auf die kurze Schlussszene – keinen anderen Blickwinkel zu außer jene subjektive Sicht des Gemarterten. Oliver Masucci, ehemals Hitler in Er ist wieder da oder zuletzt als Fassbinder, steigert sich in seine Rolle voller Inbrunst, Schweiß an der Stirn und wimmernder Verzweiflung. Dazwischen ab und an klare Gedanken, die eine neue Taktik fürs Überleben entwerfen. Masucci trägt den Film schauspielerisch im Alleingang, alle anderen sind Hirngespinst und begleitende Schatten gleichermaßen. Stölzls Interpretation des zeitlosen Manifests für das Unbeugsame gegen falsche Ideale gelingt es, die Zeit noch viel mehr einzukapseln und ad absurdum zu führen als Zweig selbst es getan hat. Natürlich sorgt dieses surreale Setting für Irritation und Verwirrung, erst sehr viel später ordnet sich das Gesehene zu einem schlüssigen Ganzen. Im Moment des Sehens jedoch fühlt man sich selbst in seiner Wahrnehmung hinters Licht geführt, und selbst der Stellenwert des Schachspiels ist ein wieder Erwarten deutlich geringerer, sodass sich rein aus der Geschichte nicht ableiten lässt, warum Dr. Josef Bartok so sehr die Perfektion des Spielens beherrscht.

Der Geist ist das einzige, wohin sich ein Mensch, wenn sonst nichts mehr bleibt, zurückziehen kann. Stölzl zeigt, wie eng und ausweglos es selbst da werden kann.

Schachnovelle

Die Wand

BIS HIERHIN UND NICHT WEITER

6,5/10


diewand© 2013 Bodega Films


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2012

BUCH / REGIE: JULIAN ROMAN PÖLSLER, NACH DEM ROMAN VON MARLEN HAUSHOFER

CAST: MARTINA GEDECK, KARLHEINZ HACKL, ULRIKE BEIMPOLD, JULIA GSCHNITZER, HANS-MICHAEL REHBERG, WOLFGANG MARIA BAUER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Österreich hat einen Filmemacher, der seine Locations für den Dreh nicht irgendwo wählt, sondern ganz besonders das Fremdenverkehrsamt einzelner Bundesländer besonders glücklich macht. Sei es ein durchs burgenländische Weinbaugebiet radelnder Erwin Steinhauer im spätsommerlichen Abendlicht oder das Salzkammergut fernab jeglicher touristischer Bildflitzer in schwerem, warmem Grün, dampfend und taufrisch. Julian Roman Pölsler ist der Mann für das kleine Drama vor großer Kulisse, und Autor Alfred Komarek zum Beispiel hat in ihm seinen Bildermacher gefunden. Doch nicht nur er, auch die 1970 viel zu früh verstorbene Marlen Haushofer wäre froh gewesen, ihren berühmten Roman Die Wand in seinen Händen zu wissen. Bereits schon 1963 verfasst, scheint das Werk wie ein dem momentanen Trend verwandter Beitrag zur Endzeit des Menschen und vielleicht dessen Neuanfang zu sein. Zeitlos, könnte man sagen. Und zeitlos ist auch Pölsler Inszenierung, und zwar zu einem Gutteil auch im wahrsten Sinne des Wortes.

Wer Haushofers beklemmendes Szenario nicht kennt: eine Frau macht gemeinsam mit einem befreundeten Ehepaar (Karlheinz Hackl und Ulrike Beimpold in wirklich sehr kleinen Rollen) Urlaub im schönen Oberösterreich, und zwar inmitten malerischer Forstwildnis in einem stattlichen Bauernhaus fürs Wochenende. Während das Ehepaar ins Dorf geht, bleibt die Frau mit dem Hund Luchs allein zurück, erwacht nächsten Morgen und stellt fest, dass die beiden nicht heimgekehrt sind. Sie geht der Sache auf den Grund – und stößt dabei auf eine unsichtbare Mauer. Jenseits der Mauer scheint die Zeit, gleich eines Dornröschenfluchs, stillzustehen. Die Frau muss sich also arrangieren, wird zur Selbstversorgerin und vom Großstadtmenschen zur Bäuerin. Die Tage vergehen, inmitten ihrer Enklave. Doch die Grenze verschwindet nicht.

Hauptdarstellerin Martina Gedeck ist natürlich eine gute Wahl. Sie gibt sich natürlich, neugierig und oftmals verzweifelt. Jedoch selten ängstlich. Sie weiß – Angst bringt sie nicht weiter. Und dennoch muss sie, auch ohne ausbaubares Ego-Ziel, weiterleben. In anderen Filmen mit ähnlichen Themen würde die Geschichte eine ganz andere Richtung einschlagen. In anderen Filmen, in denen Isolation als roter Faden eine zu bezwingende Hürde spielt, gilt es, diese zu überwinden. Wie aus dem Glassturz entkommen? Da wird stets allerhand ausprobiert. Nicht so in Haushofers Romanverfilmung. Ihre Geschichte ist nicht die einer abenteuerlichen Flucht aus der Begrenzung, sondern die Akzeptanz einer solchen. Gedecks Figur macht nur zaghafte Versuche, herauszufinden, ob es ein Entkommen gibt. Sehr schnell fügt sie sich den Umständen, während ich mir wohl beim Zusehen so allerhand Möglichkeiten ausmale, der Gefangenschaft zu entgehen. Haushofer will etwas ganz anderes erzählen. Neben einer Rückbesinnung auf substanzielles Tagwerk ist es Bescheidenheit, sich nach der sprichwörtlichen Decke zu strecken, was allerdings nicht dem menschlichen Naturell entspricht. In diesem Zwiespalt steckt Pölslers Film, und wird, auch durch Gedecks nüchterne Stimme aus dem Off, von einer düsteren Resignation befallen, trotz Vogelgezwitscher in den Wäldern, sonnendurchfluteten Almen und herrlichen Ausblicken. Die Freiheit des Blickes wird zur Betrachtung einer Illusion, die sich nicht greifen lässt. Genau dieser Punkt macht diesen wie eine Lesung anmutenden Survivaltrip so unbequem und einschnürend.

Die Wand

Der Mann ohne Gravitation

DIE KUNST, AM BODEN ZU BLEIBEN

5/10


mannohnegravitation© 2019 Netflix


LAND / JAHR: ITALIEN, BELGIEN, FRANKREICH 2019

BUCH / REGIE: MARCO BONFANTI

CAST: ELIO GERMANO, MICHELA CESCON, ELENA COTTA, SILVIA D’AMICO, VINCENT SCARITO, PIETRO PESCARA U. A.

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Alles was Flügel hat, fliegt! Dieses beliebte Kinderspiel mag zwar im realen Leben seine Berechtigung haben – in Kino und Film kann man sich auf diese physikalische Faustregel längst nicht verlassen. Was würde wohl Superman dazu sagen? Oder Tinkerbell? Es müssen allerdings auch nicht immer phantastische Wesen aus alternativen Universen sein. Um einen Menschen zum Fliegen zu bringen, reicht vielleicht nur der Umstand, dass es so ist. Ganz so wie in der auf Netflix erschienenen, italienischen Produktion Der Mann ohne Gravitation.

Sagen wir besser so: Fliegen wäre in diesem Falle vielleicht zu hoch gegriffen. Wenn man fliegen kann, dann lässt sich der Flug auch steuern. Machen alle so, die das können. Der Junge Oscar kann das nicht. Sobald dieser nur sein Eigengewicht trägt, steigt er einem Heliumballon gleich gen Himmel. Einfach gerade hoch, und wenn ihn keiner aufhält, rotiert er bald schwerelos wie ein Satellit im Orbit. Geboren in einer Regennacht irgendwo in Norditalien, wissen von dieser verblüffenden Anomalie lediglich die eigene Mutter (denn Vater gibt’s keinen) und die herrische Großmutter. Die ist es auch, die, um dem Klatsch und Tratsch im Dorf vorzubeugen, den jungen Oscar vom Rest der Welt isolieren will. Irgendwann muss damit aber Schluss sein, denn Oscar kann aufgrund seiner fehlenden Bodenhaftung nicht mal ordentlich ein Bein vor das andere setzen. Also bringt Mama ihn raus, und kurze Zeit später lernt er auch die kleine Agata kennen, die alsbald seine beste Freundin wird. Vielleicht auch, weil nur sie sein Geheimnis kennt. Was aber gegen die Abmachung mit Mama und Oma geht.

Es bleibt natürlich nicht bei den Kindheitserinnerungen eines Mannes, der das Zeug zum X-Men hätte, würde er seine Fähigkeiten trainieren. Regisseur Marco Bonfanti lässt sich in seinem Fantasydrama Der Mann ohne Gravitation auf eine ganze Biographie ein. Und wird dadurch ernüchternd vorhersehbar, zumindest für den Zuseher. Die Hauptfigur Oscar selbst, gesegnet mit überhaupt keiner Lebenserfahrung und einer Naivität ganz so gutmeinenden Leuten gegenüber wie Pinocchio, muss natürlich aus Erfahrungen klüger werden. Allerdings setzt sein Aha-Effekt dem Leben gegenüber sehr viel später ein als beim Publikum. Wenn wir schon längst wissen, dass die Begegnung mit dem aalglatten Manager, der Oscar in die Medien bringen will, moralisch als auch emotional nicht gut gehen kann, macht sich der Film auch keine Mühe, auf irgendeinem anderen Weg das Offensichtliche mit dramaturgischer Raffinesse zu kaschieren. Letztendlich ist die Läuterungsmär eines menschlichen Mysteriums routiniertes und völlig überraschungsfreies Erzählkino, das allerdings mit einigen pfiffigen Schaubeispielen der Schwerelosigkeit für jenen begleitenden Pepp sorgt, der das schwindende Interesse am Film nicht gänzlich davontreiben lässt.

Der Mann ohne Gravitation

Grenzenlos

CRASH TEST DUMMIES FÜR DIE FERNBEZIEHUNG

5/10

 

grenzenlos© 2000-2018 Warner Bros.

 

ORIGINALTITEL: SUBMERGENCE

LAND: USA, DEUTSCHLAND, FRANKREICH, SPANIEN 2017

REGIE: WIM WENDERS

CAST: ALICIA VIKANDER, JAMES MCAVOY, ALEXANDER SIDDIG, CELYN JONES, REDA KATEB U. A.

 

In einer Beziehung sollte von vornherein klar sein, was der oder die eine von der oder dem anderen zu erwarten kann. Was für Ambitionen den jeweils anderen antreibt, welche Ziele im Fokus liegen. Im Idealfall unterstützt man sich da gegenseitig. Oder ist zu Kompromissen bereit. Oder aber alles bleibt beim Alten, und Menschen fürs Extreme kehren nach trauter Zweisamkeit am Urlaubsort dorthin zurück, von wo sie hergekommen sind, mit der Probe aufs Exempel für die Fernbeziehung. In vorliegender Romanadaption von Wim Wenders ist genau das der Fall. Alicia Vikander spielt eine erfolgreiche Wissenschaftlerin, die den Geheimnissen der Tiefsee auf den Grund gehen und noch unbekannte Parameter des Lebens dokumentieren will. James McAvoy gibt einen Undercover-Agenten, der Terrorgruppen in Afrika auf den Zahn fühlt. Beide Leben sind eigentlich solche, die, um andere schadlos zu halten, im Idealfall alleine geführt werden sollten. Platz für dauerhafte Beziehungen und Familie sieht das keinen vor. Doch davon wollen Vikander und McAvoy nichts wissen. Sie lernen sich an der französischen Atlantikküste kennen und lieben. Schlendern den Strand entlang, tauchen ein ins kühle Nass, erfragen das Leben des anderen. Mitunter im vertrauten, philosophisch orientierten Wim Wenders-Stil, zum Beispiel wenn handelnde Gestalten sich bedeutungsvoll expositionieren oder Gedanken aus dem Off hörbar sind. Der Location-Scout hat dabei ganze Arbeit geleistet. Die Küste der Bretagne mit ihren Bunker-Ruinen aus dem Weltkrieg haben etwas passend Surreales. Nach diesen gemeinsamen Tagen aber gehen Frau und Mann wieder auseinander, um dort weiterzumachen, wo sie aufgehört haben. An ihren jeweils eigenen Grenzwall des Machbaren – und wagen, jeder für sich, einen Schritt darüber hinaus. Biologin Danielle grundelt in der Tiefsee um schwarze Raucher herum, Agent James vegetiert im somalischen Kerker. Diese Grenzerfahrung im Tun – eine Gemeinsamkeit, auf die sich eine Beziehung begründen kann? Vielleicht ja. Wenn schon Extreme, dann auch in der Liebe. Oder ist eine solche ohne physische Nähe denn überhaupt möglich? Oder gar notwendig?

Grenzenlos (im Original Submergence, was soviel heisst wie „Untertauchen“) ist trotz einiger stilistischer Erkennungsmerkmale ein relativ untypischer Wim Wenders-Film. Im Normalfall ist der Deutsche ein Autorenfilmer, der auch schreibt, was er inszeniert. Bei Grenzenlos könnte es sich um eine klassische Auftragsarbeit gehandelt haben. Inszeniert ist das Ganze relativ routiniert. Schauspielerisch ebenso. Größtes Problem an der Sache: Vikander und McAvoy sollten ineinander verliebt sein – der Glaube daran hält sich wacker. Es gibt Filmpaare, da sprüht der Funken vor der Kamera, dass es eine Freude ist. In Grenzenlos aber bleibt die Annäherung seltsam unterkühlt, fast schon mechanischer Natur. Die kolportierte Intensität dieser Beziehung bleibt für mich kaum nachvollziehbar. Anbetracht dieser darzustellenden Charaktere kein Wunder: In Grenzenlos sind beide für sich losgelöste Trabanten, die sich vielleicht mal auf ihrer Flugbahn nahegekommen sind, sonst aber um sich selbst rotieren und ihre eigenen Widrigkeiten mit sich ziehen. Die einer Bestimmung folgen, die nicht teilbar oder übertragbar ist. Ein Liebesfilm über Einzelgänger? Ein interessanter Versuch, der aber kaum mehr als schmachtende Lippenbekenntnisse hervorbringt.

Grenzenlos

Solo

HOCHMUT KOMMT VOR DEM FALL

5,5/10

 

solo© 2019 Netflix

 

LAND: SPANIEN 2018

REGIE: HUGO STUVEN

CAST: ALAIN HERNÁNDEZ, AURA GARRIDO, BEN TEMPLE U. A.

 

Nein, hierbei handelt es sich nicht um das Star Wars-Spin Off, und auch nicht um die oscarprämierte Kletterjunkie-Doku, weil die heisst nämlich Free Solo. Dieses Solo ist wieder etwas ganz anderes, weder Science-Fiction noch absichtliche Challenge, sondern ein Survival-Psychodrama, das sich nahtlos einreiht in Filme, die so sind wie Danny Boyles Tatsachendrama 127 Hours. Diese unglaubliche Geschichte um einen Wanderer, der in der Wildnis Utahs in einen Canyon stürzt und mit der rechten Extremität zwischen den Felsen steckt, hat zumindest mir eine volle Spielfilmlänge lang den Atem geraubt. Saw auf Abenteuerfilm, und reduziert auf eine Person – James Franco. In diesem bei Netflix erschienenen Man vs. Nature- Erlebnis gönnt sich ein waschechter spanischer Macho und Frauenheld auf der Kanareninsel Fuerteventura seine Auszeit vom erfolgreichen Berufsleben in Madrid. Die arrogante Socke im Stile eines Jason Statham, kombiniert mit Andre Agassi, hat so seine Probleme mit den Frauen und hat gerade eine solche, die ihm rückblickend doch mehr ans Herz gewachsen war als gedacht, bitter enttäuscht. Und nicht nur die: auch die Familie daheim kommt an den Hedonisten nicht ran. Der surft in aller Seelenruhe mit anderen Aussteiger-Kumpels zwischen Dünen und aufgewühltem Atlantik. Der Neid könnte einen fressen – oder vielleicht doch nicht. Denn Álvaro, der ist im Grunde seines Wesens ein sehr einsamer Mensch, der nur sich selbst als einzige Konstante kennt. So will es also das Schicksal, dass der gnädige Herr mal ein bisschen mehr über sich selbst nachdenkt – und stellt dessen Ego auf die Probe. Wie macht es das? Es lässt ihn um sein Leben kämpfen.

Denn Surfer Álvaro, der ein stilles Fleckchen zum morgendlichen Surfen sucht, rutscht beim Überqueren einer Düne, die an einer Klippe mündet, über den lockeren Sand Richtung Abhang, hält sich dort gerade noch fest. Doch er rutscht immer weiter, hängt bald über der Kante, ruft nach Hilfe – natürlich ist hier weit und breit niemand, Fuerteventura ist ein relativ karges, wildes Eiland, da kommt keiner. Also selber helfen – aber wie?

Die Natur kann schon ein gemeines Luder sein. So mittendrin mit nichts hat Mann echt wenig Chancen. Und die Gefahr, zu ertrinken, ist relativ groß. Allerdings ertrinkt dieser Kerl hier wohl eher nicht an den salzigen Fluten, sondern am Selbstmitleid. Die Landschaftsaufnahmen dieser vorwiegenden One-Man-Show sind atemberaubend, vor allem im Vogelflug. Alain Hernández hingegen bangt um seinen Status als freier Held einer liberalen Neuzeit aus Wettbewerb, Ich-AG und sonnengebräunter Surfer-Philosophie, während er blutet, friert und dürstet. Letzteres ist kein Vergleich zu Clint Eastwoods Dehydration in Zwei glorreiche Halunken, so ganz will ich dem Strandbrüchigen hier seinen (Sinnes)wandel zwischen Leben und Tod nicht abnehmen. Ich weiß nicht recht was mich irritiert – vielleicht, weil dieses Abenteuer aus Be- und Erkenntnis etwas sehr Selbstgefälliges zu haben scheint, weil sich Surfer Álvaro trotz all den Blessuren und Entbehrungen inmitten seiner temporären Isolation immer noch gern in den Spiegel blickt, ob die Qual der Wahl zwischen Leben und Tod stets die Etikette Frauenschwarm trägt. Soviel Eitelkeit ist einerseits gut, da kommt man sich selbst nicht allzu klein vor, andererseits hatte James Franco dieses Auftreten nie. Fairerweise muss man aber auch sagen, dass Solo nur sekundär ein Survivaldrama darstellt – primär ist es eine Art Egotrip zurück auf Werte, auf die es im Leben eines jeden ankommen sollte. Schön durchdacht, letzten Endes ohnehin aufrichtig gemeint, aber manchmal zu sehr Selbsthilfegruppe für einen Ex-Macho, dem ich weitere Erkenntnisse natürlich wünsche, aber ohne dabei irgendwo hinunterzustürzen.

Solo

Der Leuchtturm

KEIN PLATZ AN NEPTUNS TAFEL

6,5/10

 

derleuchtturm© 2019 Universal Pictures International

 

LAND: USA 2019

REGIE: ROBERT EGGERS

CAST: WILLEM DAFORE, ROBERT PATTINSON, VALERIIA KARAMAN U. A. 

 

„Los gehen wir“ – „Wir können nicht.“ – „Warum?“ – „Wir warten auf Godot“. Zwei Seelen im Nirgendwo. Die eine dominant, die andere devot, irgendwann kommt noch ein namenloser Dritter, der sich wie ein Hund aufführt. Machtspiele auf engstem Raum, Suizidgedanken, nahe am Wahnsinn angesichts all der Sinnlosigkeit, die nur beendet werden kann, wenn der eine, dieser Godot, sich derer erbarmt, die auf ihn warten. Samuel Beckett hat seinen Klassiker, wie es scheint, als Allegorie auf die menschliche Existenz entworfen – zugegeben hat er das nie. Die Frage nach dem Zweck seiner Stücke blieb unkommentiert. Dabei macht gerade dieses Werk besonders Sinn – weil es die Episode unseres Daseins so gnadenlos verzerrt. Robert Eggers hat das mit seinem Inselkrieg in Schwarzweiß ungefähr ähnlich betrachtet. Ganz genau weiß ich das natürlich nicht, überhaupt blieben nach Sichtung von Der Leuchtturm manche Fragen offen. Was genau, und das haben sich, so vermute ich, auch andere Seher gedacht, hat dieses durchaus auffällige und gegen den Strom treibende Werk eigentlich zu bedeuten? Aller Zugang fällt schwer, man vergleicht mit bereits Gesehenem, das Grübeln über jedes Detail lässt sich nicht so schnell einstellen.

Für dieses surreale Theater eignet sich nichts besser als ein Eiland im Nirgendwo, umgeben von den unberechenbaren Launen des Meeres. In der Mitte ein Leuchtturm, mit dem Allerheiligsten ganz obendrauf, dem Licht, der Erleuchtung. Zwei Männer – wie bei Beckett: der eine dominant, der andere anfangs devot. Dem einen gehört das Licht, dem anderen die Drecksarbeit. Wie lange kann das gut gehen? Nun ja, es sind vier Wochen, das kann man schaffen. Doch nicht, wenn die Mythologie der Meere auch noch ein Wörtchen mitzureden hat, vor allem dann, wenn der eine – Ephraim – sich an den Seelen toter Seebären vergreift. Von da an tönt das Nebelhorn zum Endspiel. Ein Sturm zieht auf, Realität und Fiktion verschwimmen, das Dasein wird zur Belastungsprobe.

Mehr Plot gibt es nicht, in diesem Mikrokosmos des Kommens, Bleibens und Gehens. Robert Eggers macht aus dieser Allegorie einen wuchtigen, wenn auch in lahmen Leerläufen keuchenden Schreckensreigen, der von ganz klein auf anfängt, und der in arglos sittsamer Orientierung seinen Anfang nimmt, bevor Macht, Gier, Sünde und die Suche nach der Wahrheit zur Geißel werden. Da eignet sich besonders Schwarzweiß, und Eggers hat was ganz Spezielles probiert: so zu filmen, wie seinerzeit die alten Meister  – Murnau, Lang, Wegener, Wiene. In 4:3, analog und in expressionistischem Hell/Dunkel, das vorwiegend in der Hütte unter dem Licht der Petroleumlampe geisterhaft gut zur Geltung kommt. Der Leuchtturm ist ein entrücktes Stück Kino, eine Kopfgeburt und artifizielle Spielerei. Mit Willem Dafoe als Inkarnation aus Iglo-Seebär und Meeresgott Neptun hat er den ungekrönten König der Insel auf der einen Seite gefunden, auf der anderen Seite den argwöhnischen, sich duckenden, durchaus psychopathischen Robert Pattinson, der diesmal so richtig aus sich herausgeht, bis zum Exzess und viel weiter. Beide schenken sich nichts, da ist das Warten auf Godot lieber als das Warten auf das Nachlassen des Sturms. Doch der formlose Leviathan, die Welt der Toten und der vereitelnden Ankläger für welche Sünde auch immer, brechen auf diesen Felsen herein, pflügen die Erde um, lassen Wasser fließen und Blut vergießen. Über allem das gleißende Licht des Leuchtturms. Eine verheißungsvolle Wahrheit, die den Tod bringt, sich maximal posthum erschließt oder im Todeskampf. Ein ernüchterndes Zeugnis, das Eggers hier ausstellt: Der Mensch als geblendeter Sünder, der das Legendenhafte verlacht. Ist Eggers so gelagert? Glaubt er an das Paranormale, Transzendente? Ein Däniken des Kinos? Oder eher Lovecraft?

Was bleibt, ist eine nihilistische Sperrigkeit und das Auskosten eines Wahns, ähnlich wie in Roman Polanskis Psychohorror Ekel oder Der Mieter.  Während bei Polanski die Heimgesuchten schuldlos in den Untergang steuern, und bei Beckett naive Clowns bis in alle Ewigkeit ausharren, streunt in Eggers Film der Mensch als Sünder um den Leuchtturm herum. Die Gültigkeit dessen aber, was man sieht, wird zur Gänze zum Seemansgarn. Kein leichtes Stück Kino also – manisch egozentrisch, panisch und affektiert. Eine Filmerfahrung, das schon – für Liebhaber des schauerlich Abnormalen und für alle Philosophen der Leinwand, die Hochprozentiges gewohnt sind.

Der Leuchtturm

Lady Macbeth

HERRIN DES HAUSES

6/10

 

ladymacbeth© 2017 Koch Media 

 

LAND: GROSSBRITANNIEN 2016

REGIE: WILLIAM OLDROYD

CAST: FLORENCE PUGH, COSMO JARVIS, PAUL HILTON, NAOMIE ACKIE, CHRISTOPHER FAIRBANK U. A. 

 

Der intrigante Wahnsinn hat einen Namen, und zwar einen sehr klassisch-literarischen: nämlich Lady Macbeth. Kenner des Shakespeare-Königsdramas wissen, dass diese Dame keine unwesentliche Rolle dabei spielt, wenn Heerführer Macbeth an die Macht kommt. Der wiederum war fast schon Marionette in ihren Fingern, und beide gehen sogar so weit, neben dem altbekannten Königsmord auch noch einen Kindsmord zu begehen. Als Folge dieser grauenhaften Handlungen des tyrannischen Ehepaares verfallen beide natürlich dem Wahnsinn, ein klarer Fall von logischer Konsequenz für den englischen Dichter, denn so viel Bosheit darf nicht ungesühnt bleiben. Kein erbauliches Stück also, diese Tragödie, in der entweder alle den Verstand verlieren oder sterben. Nikolai Leskow hat diesen Stoff adaptiert, in seiner Novelle Lady Macbeth von Mzensk. Er hat das Ganze mal etliche hundert Jahre in die etwas hellere Zukunft geholt, und zwar ins 19. Jahrhundert. Tyrannen wettern auch da, zum Beispiel an diesem herrschaftlichen Landsitz eines britischen Patriarchen, dessen Sohn im Zuge eines Landkaufs die Tochter des Verkäufers ehelichen hat müssen, für die er so gut wie nichts empfindet, die ihm mehr Klotz am Bein als sonst was ist. Und die dieser aber auch dementsprechend unschön behandelt. Die Erfüllung ehelicher Pflichten gibt’s sowieso nicht, und vor die Tür darf die junge Frau auch nicht gehen. Schlimmer noch ist der Schwiegervater – ein Scheusal unter dem Herrn, erniedrigend, abstoßend und bis in jede Faser seines Altersgrants alles Nonkonforme ablehnend. Da lobe ich mir den Papa von Jane Austens Emma – dieser hier ist die krasse Antithese. Catherine ist also in einem goldenen Käfig gefangen, wenn man so will. hat keine Rechte, aber auch keine Pflichten. Ist nichts, nur verheiratet. Langweilt sich tagaus, tagein – bis sie auf den Stallburschen Sebastian trifft, mit dem sie natürlich eine Liaison beginnt.

Sebastian, gespielt von Singer und Songwriter Cosmo Jarvis, steht natürlich als Heerführer Macbeth zwischen den Pferden, den koketten Dienstmädchen und der Herrin des Hauses. Und entscheidet sich nach einem Nacht- und Nebel-Quickie, mit letzterer gemeinsame Sache zu machen. Lady Macbeth ist die seit den Oscars 2020 in aller Munde befindliche Florence Pugh, die eben erst für ihre Rolle in Greta Gerwigs Little Women nominiert wurde und in Ari Asters Midsommar um ihr Leben plärren muss. Pugh hätte ja jetzt sogar mit Black Widow noch größer rauskommen sollen, doch der Blockbuster wurde ja bekanntlich verschoben. Immerhin gibt’s noch Richard Oldroyds Filmadaption von Leskows Theaterstück, und da zeigt die 24jährige, was sie prinzipiell sonst noch drauf hat – die Masche einer teils raschsüchtigen, teils habgierigen, teils emanzipierten Intrigantin. Sie tut das, ohne groß mit der Wimper zu zucken. Man sieht aber, dass sie stets hinter ihrem starren Blick und ihrer guten Miene böse Pläne schmiedet, die den anderen nicht gut bekommen. Es ist kein Geheimnis, was folgen wird. Und es folgt nichts Gutes, in diesem kalten, seelenlosen Gemäuer. Die Seelen aber, die hier hausen, haben selbige schon längst jemand anderem verkauft. Karge vier Wände, hie und da elegante Möbel, und alles, das Leblose wie das Lebendige, umgibt eine Aura der Kälte, sei sie nun berechnend oder tief verwurzelt. Diesen Film ohne zusätzliches wärmendes Textil zu sehen, ist fast schon unmöglich.

Oldroyd inszeniert akkurate, klare Bilder, verzichtet auf Schnörkel, und lässt auch sein Ensemble unter erschreckender Gefühlsarmut leiden, die selbst beim Unvorstellbaren Probleme hat, sich zu artikulieren. Diese In Cold Blood-Adaption eines klassischen Stoffes ist in strenge Formen gegossen, bleibt abweisend und ohne Reue. Und jene, die so etwas ähnliches vielleicht ansatzweise empfinden, haben in der Welt von Lady Macbeth nichts verloren.

Lady Macbeth

Die Einsiedler

MACH MIR DEN HOF

7/10

 

einsiedler© 2016 filmdelights Film

 

LAND: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND, ITALIEN 2016

BUCH & EGIE: RONNY TROCKER

CAST: ANDREAS LUST, INGRID BURKHARD, ORSI TÓTH, HANNES PERKMANN, PETER MITTERRUTZNER U. A.

 

Ein Urlaub in den Bergen ist etwas ganz anderes als in den Bergen zu leben. Oder anders gesagt: Urlaub am Bauernhof ist nicht das, was Bauernhof aus einem macht. Einen Blick in die nähere Frühzeit der Lebensweise bäuerlicher Selbstversorger, den hat uns schon Franz Innerhofer in seinen Schönen Tagen gewährt. Oder aber auch die Bayerin Anna Wimschneider in ihren Memoiren Herbstmilch, die später dann Ende der 80er von Joseph Vilsmaier verfilmt wurden. Dort, wo noch ein bisschen rustikaler Charme oder die Nostalgie des Vergangenen Einzug gehalten hat – das könnte man jetzt in Ronnie Trockers Scheunen-Abgesang Die Einsiedler schmerzlich vermissen. Seine Bestandsaufnahme aus den Südtiroler Bergen lädt erstens einmal überhaupt nicht zum entspannten Verweilen zwischen Kuhmist und Apfelbäumen ein, und zweitens drückt die Ödnis dieser Einschicht durchaus aufs Gemüt. Doch wenn einer Einsamkeit sucht, dann ist er dort allerdings richtig aufgehoben. Zu tun gibt’s halt einiges, auf die faule Haut legen ist nicht. Vom Melken, Ausmisten bis zum andauernden Warten der feuchtwandigen Gemäuer hier oben in dieser Nebelsuppe fällt man, wenn’s finster wird, ins Bett, um sich beim ersten Hahnenschrei wieder aufzurappeln.

In Zeiten wie diesen, wo Dörfer regelrecht aussterben und die Jungen abwandern in urbane Gefilde, da mutiert auch ein Südtiroler Bauernhof wie jener von Burgschauspielerin Ingrid Burkhard zur feuchtkalten Gruft. Sohnemann Albert versucht sein Glück im Tale als Arbeiter in einem Marmorsteinbruch. Die Eltern altern vor sich hin und tun was sie tun müssen. Wer erbt den Hof? Es wäre kein Abgesang auf das Bauernleben, käme nicht ein Schicksalsschlag aus fast heiterem Himmel – und Bäuerin Marianne steht alleine da, in der unverputzten Finsternis der alten, verfluchten vier Wände. Was tun in dieser Einsiedelei? Und hat Sohnemann Albert Ambitionen, das Erbe der Eltern weiterzuführen?

Ronny Trockers „Die Einsiedler“ wurde laut Standard-Edition mit einem „Michael Haneke in den Bergen“ verglichen. Nun, die karge, schweigsame Rationalität menschlichen Verhaltes in einem archaischen Mikrokosmos, die sich mit steinzeitlichem Affekt aus dem zivilisierten Korsett des 21. Jahrhunderts katapultiert, hat tatsächlich etwas von Haneke. Ist aber längst nicht so beseelt von klirrender Grausamkeit, sondern viel eher durchdrungen von einer bitteren Erkenntnis. Ingrid Burkhard lebt diese ernüchternde Resignation mit jeder Falte ihres zerfurchten, traurigen Antlitzes. Von Mundls volkstümlich-guter Seele Toni Sackbauer ist nichts mehr übrig, Burkhards fulminante Altersrolle ist gleichzusetzen mit Fritz Muliars grotesker Monologfigur aus Felix Mitterers Sibirien. Beide Gestalten stehen am Ende ihres Lebens, und sie können den Verfall nicht aufhalten. Und das Schlimmste ist: Sie können ihr Vermächtnis niemandem weitergeben. Denn die Zeit, die sie verkörpern, erfährt mit ihrem Tod einen Bruch, der einen ganz anderen Neuanfang einplant. Mitterer hätte auch für diesen Film ein Drehbuch verfassen können, nur die Satire einer Piefke-Saga bleibt hier so fern wie das Meer. Und irgendwann schweigt auch das Blöken der Ziegen und das Muhen der Wiederkäuer. Irgendwann werden die Alten mitsamt den Grundmauern ihrer Existenz begraben, weil die Zeit einfach irgendwann vorbei ist. Heast as net, wia die Zeit vergeht, singt Hubert von Goisern. In Die Einsiedler hört man es, sieht man es. Und muss ihr nicht zwingend nachweinen.

Die Einsiedler