Poor Things (2023)

KINDLICHE NEUGIER AUF DIE FREIE WELT

7/10


poorthings© 2023 Searchlight Pictures All Rights Reserved.


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: YORGOS LANTHIMOS

DREHBUCH: TONY MCNAMARA

CAST: EMMA STONE, WILLEM DAFOE, MARK RUFFALO, RAMY YOUSSEF, CHRISTOPHER ABBOTT, MARGARET QUALLEY, HANNA SCHYGULLA, SUZY BEMBA, JERROD CARMICHAEL, KATHRYN HUNTER U. A. 

LÄNGE: 2 STD 21 MIN


Ob ein Film gefällt oder nicht, ist stets das Resultat aus momentaner Befindlichkeit, Geschmack und Interesse. Manchmal stört an einem Film auch nur eine Kleinigkeit, und schon kann man sich nur noch schwerlich am Gesehenen erfreuen. Manchmal aber entspricht eine Emotion genau der eigenen und das Werk wird liebgewonnen, ungeachtet unzähliger Unkenrufe aus der breiten Masse. Wie steht es aber um mediale Beeinflussung und Vorschusslorbeeren für ein Werk, das im Mainstream einhellig über den grünen Klee gelobt, von den Medien hofiert und laut allen nur erdenklichen Pressestimmen als phänomenal befunden wird – lässt sich da selbst noch eine eigene Meinung bilden oder ist diese dann, sollte sie nicht in den Tenor einfallen, das Resultat eines künstlerischen Unverständnisses; ein nicht ernstzunehmendes Urteil, da ein Film wie Poor Things sowieso nur gut, wenn nicht gar sehr gut – nein, lieber nur ausgezeichnet sein kann, weil es eben alle sagen. Unbeeinflusst lässt sich Yorgos Lanthimos neuer Film einfach nicht konsumieren. Was Großes wird über die Leinwand flirren, ein feministisches Meisterwerk allererster Güte, ein Bildersturm, dem man sich nicht entziehen kann, mit einer fabelhaften Emma Stone, die alle Stücke spielt und so weiter und so fort.

Ist Poor Things alles andere als gut? Oder doch genauso sensationell? Letzteres käme gelegen, dann wäre man kein nonkonformer Außenseiter, der das anders empfindet. Was bin ich froh, nicht gegen den Strom schwimmen und mit der Möglichkeit umgehen zu müssen, den Film nicht verstanden zu haben. Ihn nicht zu verstehen ist schließlich fast unmöglich, denn wirklich komplex ist weder der Plot noch die zu überbringende Botschaft des Ganzen. Poor Things gestaltet sich wie ein Pop-Up-Märchenbuch für Erwachsene, denn ganz viel Sex darf erwartet werden, der noch dazu vollzogen wird in prächtig ausgestatteten Hotelzimmern oder Kajüten – stehend, liegend, wild herumreitend. Emma Stone gibt sich einer ungenierten, erfrischend frechen Freizügigkeit hin und wirkt dabei niemals obszön oder vulgär. Als wohl eine der besten Schauspielerinnen des aktuellen Filmschaffens – und das kann ich getrost sagen, da bin ich unisono mit den Publikumsstimmen – erobert sie die Herzen, nicht zwingend aber die sexuelle Traumwelt. Vielleicht, weil es vorrangig gar nicht um Wollust geht, sondern einfach und allein um den paradiesischen, endlosen Blumengarten der Freiheit und Selbstbestimmung.

Poor Thing ist – und jetzt ist es draussen – tatsächlich ein guter Film. Neben all der erlesenen, bis ins kleinste Detail opulenten und auch bizarren Ausstattung, die an die frühen Werke Jean-Paul Jeunets oder Tim Burton erinnern (dazu gehört auch zumindest bei Jeunet extremer Weitwinkel oder eben Fischauge) liegt das goldglänzende Kernstück der Fabel in seiner Prämisse, die mit den Stereotypen der Wissenschaft jongliert und dabei manchmal einen der Bälle verliert, denn das ist Absicht. Anfangs ist Yorgos Lanthimos Guckkasten-Operette ohne Gesang noch in Schwarzweiß, denn Bella Baxter – so nennt sich die künstlich geschaffene Figur – kennt die Welt da draußen, jenseits der Räumlichkeiten ihres Ziehvaters Godwin Baxter, überhaupt noch nicht. Wie denn auch – noch bewegt sich Emma Stone wie Pinocchio in seinen ersten Minuten, bringt kaum Wörter über die Lippen, muss alles erst erlernen. Warum das so ist? Als schwangere Wasserleiche aus der Themse gefischt, hat der alte Baxter sie wiederbelebt, indem er der Unbekannten das Gehirn ihres Fötus einsetzt. So hampelt das Kind im Frauenkörper anfangs noch durch die Welt, bis sie von Szene zu Szene immer selbstbestimmter werden, alles entdecken und erleben will. Poor Things ist eine Ode an die Neugier am Leben, auf das Lebenswerte, das sich nur leben und erfahren lässt, wenn man frei ist von Zwängen, Unterdrückung und Besitzergreifung – kurz: frei eben. Nicht mehr, nicht weniger. Lanthimos hat im Grunde eine Coming of Age-Parabel ersonnen, die mit den Klischees einer Mann-Frau-Koexistenz ähnlich umspringt wie Greta Gerwig in Barbie. Während beim zuckerlrosa Geschlechterkrieg-Musical der Mann dazu angehalten wird, sich selbst zu überdenken, will das Frausein hier einfach nur nicht in einem Patriarchat stattfinden müssen. Der Mann – in seiner unzulänglichen Romantik, seiner Eifersucht und seinem absurden Drang zu Besitz und Macht – bekommt die kalte Schulter, an der einer wie Macho Mark Ruffalo immer mehr verzweifelt. Ein schadenfroher Spaß, ihm dabei zuzusehen.

So wirklich traurig ist Willem Dafoe als von seinem eigenen Vater zu Erkenntniszwecken entstellter Mann des Wissens – ein „Almöhi“ des pseudoviktorianischen Englands, gutmütig und unbeholfen nüchtern. Zwischen ihm und Emma Stone entfaltet sich die stärkste Bindung. Hier findet statt, was sonst nur so scheint, als wäre sie da: Das Miteinander, das Geben und Nehmen. Baxter ist sich letztlich selbst genug, und wie geschmeidig und kaum merkbar, wobei letzten Endes aber doch, entwickelt sich das ungebändigte Kind zur selbstbewussten Frau. Es stimmt, Poor Things ist lebens- und wertebejahend, räumt mit dem gebrandmarkten Gewerbe der Prostitution auf und ist vor allem auch, neben all der Gleichnisse, ein Augenschmaus im Arthouse-Kitsch zwischen Steampunk, Pluderärmel und monströsem Kinderbuch. Das Artifizielle allerdings lässt große Gefühle nicht zu. Poor Things gefällt, berührt aber nicht. Bella Baxter und all ihre Männer bleiben in ihrer Blase, und wir in der unseren. Was Poor Things zu sagen hat, ist nicht neu, dafür aber neu bebildert. Wie viel Wirkung hätte der Film noch entfalten können, hätte Lanthimos sein Werk in einer uns bekannten Realität verortet – authentisch, vielleicht naturalistisch und weniger gekünstelt? Er wäre uns damit nähergekommen, Emma Stone hätte den Draht zwischen ihr und uns zum Knistern gebracht. Letzten Endes ist das Blättern in einem prunkvoll ausgestatteten, ledergebundenen Leinwandportfolio ein Genuss, jedoch einer, der sich, genau wie Bella Baxter, einfach selbst genügt.

Poor Things (2023)

Die Abenteuer des Baron Münchhausen (1988)

DES MEISTERS (W)IRRE WUNDERBOX

7/10


munchausen© 1988 Columbia Pictures


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH, DEUTSCHLAND 1988

REGIE: TERRY GILLIAM

DREHBUCH: CHARLES MCKEOWN, TERRY GILLIAM

CAST: JOHN NEVILLE, SARAH POLLEY, ERIC IDLE, CHARLES MCKEOWN, WINSTON DENNIS, JACK PURVIS, JONATHAN PRYCE, ROBIN WILLIAMS, VALENTINA CORTESE, UMA THURMAN, OLIVER REED, PETER JEFFREY, STING U. A.

LÄNGE: 2 STD 6 MIN


Im wunderbaren Wiener Gartenbaukino gibt’s nicht nur zur Viennale Filmemacher und Schauspieler zum Anfassen, sondern auch immer wieder mal darüber hinaus, wie eben letzten Sonntag: Niemand geringerer als Ex-Monty Python Terry Gilliam ließ sich da sehen und sprach zum Publikum. Schräges aus seiner Kindheit, Skurriles vom Set und so manch Philosophisches über Kreativität und die Gratwanderung zwischen Kunst und Kommerz. Gilliam war, ist und wird immer ein Visionär bleiben, der den Studios schlaflose Nächte beschert. Und nicht nur diesen: Kann sein, dass er sich auch selbst angesichts der Unmöglichkeit, seine Ideen auf die Leinwand zu bringen, unruhig in den Laken wälzt. Sein Don Quixote war lange Zeit gleich unbezwingbaren Windmühlen, bei Die Abenteuer des Baron Münchhausen ist sich der Wahnsinn gerade nochmal ausgegangen. Doch auch da weinten sich die Geldgeber in den Schlaf, denn aus dem proklamierten Budget wurde bald das Doppelte. Angesichts des fertigen Films wundert die Tatsache niemanden, und es ist schließlich auch offensichtlich, wohin das ganze Geld verschwand: Allein schon die formschönen Kanonen der osmanischen Invasoren müssen ein Heidengeld gekostet haben. Belagerungstürme, Schiffswracks, Stadtmauern – und nichts davon aus dem Rechner. Die Abenteuer des Baron Münchhausen kam 1988 ins Kino und ging beim Publikum gnadenlos unter. Und das, obwohl Terry Gilliam wirklich keine halben Sachen gemacht hat. Die Schauwerte sind enorm – sein phantastisches Abenteuer, das nicht auch nur den kleinsten Gesetzen der Logik folgt (typisch Münchhausen eben), entfaltet seine Wundertüte eigentlich nur auf der großen Leinwand, denn nur dort lassen sich all die Details entdecken, die auf den Fernsehschirmen verpuffen. Im Kino ist sein Flop ein künstlerischer Genuss, wenn auch in hysterischem Stakkato erzählt – ohne Verschnaufpausen, innerer Einkehr und ruhigen Momenten. So könnte man die Frage stellen: war das Publikum einfach nur überfordert?

Nehmen wir Time Bandits. In Sachen Originalität, Optik und Erzählstil ist Gilliams Münchhausenfilm mit diesem Klassiker der Fantasy nahe verwandt. Time Bandits kam schon 1981 raus, dieser hier sieben Jahre später. Wir befinden uns drei Jahre vor James Camerons Errungenschaften in Terminator 2 – Tag der Abrechnung. Und Gilliam frönt immer noch der wunderbaren Analogie, als würde es niemals etwas anderes geben, um seine Storyboard-Zeichnungen auch entsprechend umzusetzen. Vielleicht war das Publikum der Zeit des Meisters schon voraus und wartete sehnsüchtig auf Neues, zumindest auf filmtechnisch innovatives Handwerk. Hat Gilliam hier den Absprung verpasst?

Mittlerweile gefällt so ein Retro-Charme CGI-müden Augen umso mehr. Man erkennt wieder die Bildmontage, das Matte Painting, die kleinen, aber offensichtlichen Mankos mancher an Schnüren gezogener Marionetten und künstlicher Firmamente – insbesondere wenn das ganze aussieht, als hätte hier schnell noch jemand den Kleisterpinsel geschwungen. Doch das macht nichts. Gilliams Visionen kann keiner kopieren. Sein Stil ist einzigartig, der Blickwinkel stimmt – Kostüme, seltsame Konstrukte und völlig absurde Ideen wie die Folterorgel des Sultans (eine Anlehnung an die Monty Python’sche Mausorgel) verblüffen wie bei einer Zaubershow, deren Tricks man zwar vielleicht kennt, die aber so einnehmend inszeniert sind, dass man dennoch, wie ein kleines Kind, staunend davorsitzt, wenn der nichtsahnende Publikumskandidat plötzlich zersägt wird.

Den deutschen Adeligen Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen hat es im 18. Jahrhundert tatsächlich gegeben. Ihm werden diese völlig unmöglichen Lügengeschichten auch zugeschrieben, ganz im Stile der Schwänke aus dem 15. Und 16. Jahrhundert. Dabei ist die Kanonengugel und Münchhausens Ritt auf ihr nur das Sahnehäubchen. Darunter geht es noch viel wüster zu. Und Gilliam, rechtetechnisch völlig frei, katapultiert den so charismatischen wie unverwüstlichen Baron in surreale Sphären. Die Begegnung mit Robin Williams als Mondkönig allein ist ein gespenstisches  Kasperletheater für Erwachsene. Der Auftritt von Oliver Reed als Vulcan ist Monty Python pur, die junge Uma Thurman wurde zurecht für Botticellis Venus gecastet und Eric Idle als Münchhausens Diener Berthold ist als hampeliger Hanswurst die spätbarocke Ur-Version des Flash. Die junge Sarah Polley als Sidekick Sally bleibt hingegen bis zum Abspann inkognito. Da die Auftritte einer jeden Figur für sich fast wie kleine, phantastische Pseudo-Anekdoten daherkommen, könnte man diesen Ausstattungs-Overkill als üppige Varieté-Show interpretieren – als eine Aneinanderreihung absurder Abenteuer, die sich selbst überholen. Vielen mag diese komprimierte Scherzartikelsammlung ein ehes Völlegefühl bereiten; neugierigen Nasen, die Gilliam seit jeher schätzen, warten minütlich auf die nächste Idee.

Die Abenteuer des Baron Münchhausen ist bei weitem nicht Gilliams schlechtester Film. Man könnte sagen, sein puppenbühnenartiger Reigen aus Albtraumszenen, Historienspektakel und schräger Pointen-Sammlung darf sich als Time Bandits 2.0 deklarieren. Schneller, höher, weiter, ist die Devise. Ein Film also wie ein Besuch beim verrufenen Antiquitätenhändler, dem man magische Skills andichtet, dem man bis ins letzte Hinterzimmer folgt und der seine Bude vollgestopft hat mit Dingen aus aller Welt. Nebenbei bemerkt: nicht nur aus dieser.

Die Abenteuer des Baron Münchhausen (1988)