Eileen (2023)

WENN ICH EIN VÖGLEIN WÄR´

7/10


eileen© 2023 Universal Pictures


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: WILLIAM OLDROYD

DREHBUCH: LUKE GOEBEL, OTTESSA MOSHFEGH NACH IHREM GLEICHNAMIGEN ROMAN

CAST: THOMASIN MCKENZIE, ANNE HATHAWAY, SHEA WHIGHAM, SAM NIVOLA, SIOBHAN FALLON HOGAN, TONYE PATANO, OWEN TEAGUE, PETER MCROBBIE, PETER VON BERG, JEFFERSON WHITE U. A.

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Vor sechs Jahren begeisterte Thomasin McKenzie in Debra Graniks gefühlvollem Aussteigerdrama Leave No Treace, seitdem veredelt die neuseeländische Schauspielerin regelmäßig ausgesuchte Independentproduktionen, darunter gar einen Oscarkandidaten von Landsmann Taika Waititi: Jojo Rabbit. Ihr zaghafter, allerdings Hoffnung schöpfender Tanz zu David Bowies deutscher Version von Heroes am Ende des Streifens ist längst schon Filmgeschichte. McKenzie ist etwas Besonderes, weil sie sich selbst treu bleibt und eine Natürlichkeit an den Tag legt, ohne ihr Schauspiel auf eine Weise unterstreichen zu wollen, die lauthals um einen Oscar bettelt. In McKenzie steckt eine sich selbst genügende Normalität, und gerade diese Reduktion weckt das Interesse jener, die sich vielleicht die Frage stellen, ob sie dadurch, eben nicht sonderlich auffallen zu wollen wie zum Beispiel Anja Taylor-Joy (mit der sie gemeinsam in Edgar Wrights Last Night in Soho vor der Kamera stand), so manches Geheimnis verbirgt. Dieses innere Brodeln, dieses Süppchen, das, verborgen vor aller Augen, McKenzie kocht – daran mögen sich andere die Finger verbrennen. Oder aber sie schmeckt, und es gibt nichts, wofür man Vorsicht walten lassen muss. Im verkappten kleinen Psychothriller Eileen, der am Sundance Festival 2023 seine Premiere feierte, müsste man letzteres vielleicht aber überdenken.

Nicht, dass ich jetzt etwas vorwegnähme, was die Lust an diesem mysteriösen Spiel schmälern könnte, welches sich in grobkörnigem Sechziger-Look offenbart und in allerlei bewölkten Brauntönen schwelgt, die zu Spätherbstzeiten für depressive Verstimmungen sorgen. Genauso wenig, wie sich die herbstwelke peripher-urbane Landschaft Neuenglands in Kontraste gliedern lässt, genauso wenig sind Thomasin McKenzie und Anne Hathaway in ihren darzustellenden Charakteren klar konturiert. Erstere spielt titelgebende Eileen, die ihren alkoholkranken Vater aushalten und pflegen muss und sonst so den Tag im Knast verbringt – allerdings als Sekretärin, oder besser gesagt: als Schlüsselmeisterin und Aufpasserin vor allem zu den Besuchszeiten der Häftlinge. Irgendwie scheint tagtäglich der gleiche Trott abzulaufen, sowohl beruflich als auch in den eigenen vier Wänden, nur ab und an muss Eileen ihren sturzbesoffenen alten Herren von der Straße sammeln, wenn dieser sich wieder mal nicht auskennt. Die Dinge ändern sich, als die wasserstoffblonde neue Psychiaterin Rebecca ihren Job beginnt – sie strahlt sofort all das aus, was Eileen nicht haben kann und haben will, vielleicht aber nie haben wird. Zu Rebecca fühlt sich Eileen sofort hingezogen, und anscheinend beruht diese Sympathie auch auf Gegenseitigkeit, wobei sich der Verdacht nur schwer wegrationalisieren lässt, dass der Blondschopf eine gewisse Freude daran hat, das introvertierte Mauerblümchen Eileen sanft zu manipulieren. Eine latente homosexuelle Begierde liegt da in der Luft, doch kann dies auch nur Schwärmerei sein, niemand weiß es so genau. Mit diesen Veränderungen und den aufkommenden Bedürfnissen muss die graue Maus in ihren viel zu weiten Strickpullis die Vorweihnachtszeit stemmen, doch das Schicksal oder einfach das Leben selbst, das passiert, rückt Eileen mit einer Gelegenheit zu Leibe, die sie am Schopf packen sollte. Gefallen wird das, wofür sich die junge Frau entschließen wird, nicht jedem.

Frauen, die sich aus ihrem sozialen Korsett zwängen – Theatermacher und gelegentlicher Filmregisseur Stephen Oldroyd hatte bereits bei seinem letzten Film Lady Macbeth, der doch auch schon einige Jährchen zurückliegt, zu einer ähnlichen Thematik gegriffen. In der Verfilmung einer Novelle von Nikolai Leskow stellt sich Florence Pugh gegen das patriarchale Gehabe ihres aufgebrummten Gatten, indem sie mit dem Stallknecht fremdgeht, doch das ist nur der Anfang eines wüsten Befreiungsschlags. In Eileen, ebenfalls die Verfilmung einer literarischen Vorlage, geht es nicht ganz so düster zu. Oder um es anders zu formulieren: Haken schlägt das Psychodrama bis knapp vor Ende des Films wahrlich keine. Zwei Frauen auf Annäherung, dazwischen der verstörende Fall eines Häftlings, der den eigenen Vater im Schlaf ermordet und ein bewaffneter Patriarch im Suff – diese bizarre Konstellation scheint notwendig, damit Thomasin McKenzies Figur die Formel eines alternativen Lebensentwurfs löst. Oldroyd schummert ein nuanciertes Coming of Age-Portrait auf die Leinwand, das sich gänzlich auf McKenzies Entwicklung und Charakterbild konzentriert, ihren Sehnsüchten und einem verdrehten Willen zum Ausbruch. Das Gefängnis mag sinnbildlich sein, ein Spiegel ihrer Existenz. Geschickt konstruiert, gefällt Eileen durch eine geduldige Beobachtungsgabe, wobei scheinbar willkürlich erwähnte Sidestories in Folge zusammenführen, und das Psychodrama mit Ansätzen zum Thriller blickt dann doch noch in einen Abgrund, der sich unerwartet auftut.

Auf eine gewisse Weise ist Eileen ein Gefängnisfilm, mit dem Unterschied, dass sich weder auf der einen noch auf der anderen Seite Freiheit findet. Irgendwo dazwischen müsste sie liegen, vielleicht darüber oder darunter. Oder in einem selbst.

Eileen (2023)

Kleine schmutzige Briefe (2023)

ANARCHIE IN GESCHWUNGENEN LETTERN

8/10


kleineschmutzigebriefe© 2024 STUDIOCANAL


ORIGINALTITEL: WICKED LITTLE LETTERS

LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: THEA SHARROCK

DREHBUCH: JONNY SWEET

CAST: OLIVIA COLMAN, JESSIE BUCKLEY, ANJANA VASAN, TIMOTHY SPALL, HUGH SKINNER, GEMMA JONES, EILEEN ATKINS, JASON WATKINS, ALISHA WEIR, RICHARD GOULDING U. A. 

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Wenn der hauseigene Nachwuchs trotz vehementen Verbotes der Erziehungsberechtigten pausenlos flucht, gibt es praktische pädagogische Tipps: Wie wäre es mit einem Schimpfsack? Damit ist keine Person gemeint, sondern tatsächlich etwas, das man, wie das Speibsackerl im Flugzeug, vor den Mund hält und drauflos keift, was das Zeug hält und die Zensur nicht mehr erwischen kann. Dort, und nur dort, bündelt sich die ganze Wut, die ganze Lust am Ungehorsam, die ganze dunkle Seite – zumindest mal eines Kindes. Erwachsene müssen lernen, sich in Zaum zu halten, alles andere wäre nicht gesellschaftsfähig. Oder sie finden ein anderes Ventil, um genau jenen Druckausgleich herbeizuführen, der sonst zum Durchdrehen führt. Um Dinge loszuwerden, das empfehlen Therapeuten, gibt es die ganz klassische Methode des Niederschreibens. Dumm nur, wenn das, was keiner lesen sollte, plötzlich alle lesen. Oder zumindest Leute, die einfach nicht damit rechnen, beschimpft zu werden, führen diese doch ein beschauliches, allen Ansprüchen der Gesellschaft entsprechendes Leben, devot, nach christlichen Werten und jenseits aller Gleichberechtigung für das weibliche Geschlecht. In diesen Umbruchszeiten um 1920, während die Suffragetten in den Städten Großbritanniens um ihr Wahlrecht demonstrieren, soll sich in der Küstenstadt Littlehampton ein bizarrer Fall von Briefkastenterrorismus ereignet haben: Kleine, schmutzige Briefe sollen die gottergebene Edith Swan (Olivia Colman) um den Verstand bringen. Und nicht nur sie, sondern gleich auch noch ihre Eltern mit dazu und insbesondere den chauvinistischen, vorgestrigen Patriarch namens Vater, der voller Hass und Dünkel gleich noch die nebenan und unkonventionell lebende Rose Gooding (Jessie Buckley) verdächtigt, die in wilder Ehe mit einem Farbigen zusammenlebt, gleichzeitig aber auch als Witwe eines Kriegsgefallenen ihre Tochter aufziehen muss, die gerne mal auf Mamas Gitarre klimpert, was in Nachbarschaft ebenfalls fürs Naserümpfen sorgt.

Doch warum sollte Rose Gooding Briefe obszönen Inhalts verfassen, wenn sie doch ohnehin und immer frei heraus das zu sagen imstande ist, was sie sich gerade denkt? Von distinguierter Art ist die junge Mutter jedenfalls nicht, gerne treibt sie sich in Pubs herum und schimpft wie ein Rohrspatz. Eine Frau, die die Zügeln gerne in der Hand hat und somit der zeitgeistigen Sitte entgegenrudert. Sie wird als Schuldige instrumentalisiert, gerät in Untersuchungshaft und würde womöglich im kommenden Prozess schuldig gesprochen werden, gäbe es da nicht die blitzgescheite, sehr aufgeweckte und sich nur unwillig der Hierarchie der männlichen Polizeibeamten beugenden Polizistin Gladys, welche die Schuld Rose Goodings in vielen Punkten hinterfragt. Frappant ins Auge sticht dabei ihre Handschrift, die nicht mit jener aus ihren angeblich selbst verfassten Briefen übereinstimmt.

In Kleine schmutzige Briefe von Thea Sharrock (Ein ganzes halbes Jahr) wirft sich ein ganzes Ensemble in heller Spielfreude in die Rekonstruktion eines verwunderlichen Falls, der gleichzeitig für vieles, was im Geschlechterkampf schiefläuft, als stellvertretendes Paradebeispiel herangezogen werden kann. Prachtvoll ausgestattet und das bigotte Setting eines in vorsintflutlicher Sozialordnung versteinerten Dunstkreises aus provinzstädtischer Idylle, ist Sharrocks Film eine treffsichere Überraschung vor allem in der Balance zwischen skurriler Komödie, Schimpfwortkaskaden im Schleudergang und feinsinnigem Drama. Kleine schmutzige Briefe liefert weder klamaukige Abziehbilder über den Kamm geschorener sturer toxischer Männlichkeit, die sich in ihrer Überlegenheit gegenüber Frauen suhlen, noch emanzipatorisches Betroffenheitskino mit Pathos. Zu verdanken ist dies zwei Vollblutschauspielerinnen, die in dieser mit Hintergedanken vollgeräumten Komödie so richtig zeigen, was sie können. Olivia Colman ist fast noch besser als Queen Victoria in The Favourite – ihre duldsame Opferrolle aus verklärtem Lächeln und missgünstiger Doppelbödigkeit trägt sie vor allem in kleinen, mimischen Nuancen zur Schau, die emotionale Unruhe dieser Figur überträgt sich elektrisierend aufs Publikum. Ihr gegenüber die begnadete und grundnatürliche Jessie Buckley in donnernder Aufmüpfigkeit und gebrochener Verzweiflung. Charaktere, die gegenseitig und in sich selbst widersprüchlicher nicht sein können und einen Film beleben, der obendrein noch dramaturgisch alles richtig macht.

Natürlich bedient sich ein urbritischer Film wie dieser auch urbritischen Klischees, die aber, um überhaupt existent sein zu können, auf irgendetwas beruhen müssen. Nebst Bibelkreisen und näselnden Verhaltens der Elite bevölkern ganz bewusst auf schräg getrimmte Nebenrollen die Szene, die natürlich ihre Sympathien abholen, dabei aber ein bisschen zu gewollt wirken. Sie mögen als gängige Attribute herhalten, als vertrautes Lokalkolorit, die einen eigentlich hochdramatischen Kern dekorieren, der Selbstbestimmung, Freiheit und den unbändigen Willen der Frauen, aus ihrer Unterdrückung durch Familie und Mann auszubrechen, zum brandheissen Thema hat. Egal wie, und egal mit welchen Worten. Mögen sie auch noch so schmutzig sein. Sie sind ein brillantes Symptom dafür, gesunden Ungehorsam auszuleben.

Kleine schmutzige Briefe (2023)

Poor Things (2023)

KINDLICHE NEUGIER AUF DIE FREIE WELT

7/10


poorthings© 2023 Searchlight Pictures All Rights Reserved.


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 2023

REGIE: YORGOS LANTHIMOS

DREHBUCH: TONY MCNAMARA

CAST: EMMA STONE, WILLEM DAFOE, MARK RUFFALO, RAMY YOUSSEF, CHRISTOPHER ABBOTT, MARGARET QUALLEY, HANNA SCHYGULLA, SUZY BEMBA, JERROD CARMICHAEL, KATHRYN HUNTER U. A. 

LÄNGE: 2 STD 21 MIN


Ob ein Film gefällt oder nicht, ist stets das Resultat aus momentaner Befindlichkeit, Geschmack und Interesse. Manchmal stört an einem Film auch nur eine Kleinigkeit, und schon kann man sich nur noch schwerlich am Gesehenen erfreuen. Manchmal aber entspricht eine Emotion genau der eigenen und das Werk wird liebgewonnen, ungeachtet unzähliger Unkenrufe aus der breiten Masse. Wie steht es aber um mediale Beeinflussung und Vorschusslorbeeren für ein Werk, das im Mainstream einhellig über den grünen Klee gelobt, von den Medien hofiert und laut allen nur erdenklichen Pressestimmen als phänomenal befunden wird – lässt sich da selbst noch eine eigene Meinung bilden oder ist diese dann, sollte sie nicht in den Tenor einfallen, das Resultat eines künstlerischen Unverständnisses; ein nicht ernstzunehmendes Urteil, da ein Film wie Poor Things sowieso nur gut, wenn nicht gar sehr gut – nein, lieber nur ausgezeichnet sein kann, weil es eben alle sagen. Unbeeinflusst lässt sich Yorgos Lanthimos neuer Film einfach nicht konsumieren. Was Großes wird über die Leinwand flirren, ein feministisches Meisterwerk allererster Güte, ein Bildersturm, dem man sich nicht entziehen kann, mit einer fabelhaften Emma Stone, die alle Stücke spielt und so weiter und so fort.

Ist Poor Things alles andere als gut? Oder doch genauso sensationell? Letzteres käme gelegen, dann wäre man kein nonkonformer Außenseiter, der das anders empfindet. Was bin ich froh, nicht gegen den Strom schwimmen und mit der Möglichkeit umgehen zu müssen, den Film nicht verstanden zu haben. Ihn nicht zu verstehen ist schließlich fast unmöglich, denn wirklich komplex ist weder der Plot noch die zu überbringende Botschaft des Ganzen. Poor Things gestaltet sich wie ein Pop-Up-Märchenbuch für Erwachsene, denn ganz viel Sex darf erwartet werden, der noch dazu vollzogen wird in prächtig ausgestatteten Hotelzimmern oder Kajüten – stehend, liegend, wild herumreitend. Emma Stone gibt sich einer ungenierten, erfrischend frechen Freizügigkeit hin und wirkt dabei niemals obszön oder vulgär. Als wohl eine der besten Schauspielerinnen des aktuellen Filmschaffens – und das kann ich getrost sagen, da bin ich unisono mit den Publikumsstimmen – erobert sie die Herzen, nicht zwingend aber die sexuelle Traumwelt. Vielleicht, weil es vorrangig gar nicht um Wollust geht, sondern einfach und allein um den paradiesischen, endlosen Blumengarten der Freiheit und Selbstbestimmung.

Poor Thing ist – und jetzt ist es draussen – tatsächlich ein guter Film. Neben all der erlesenen, bis ins kleinste Detail opulenten und auch bizarren Ausstattung, die an die frühen Werke Jean-Paul Jeunets oder Tim Burton erinnern (dazu gehört auch zumindest bei Jeunet extremer Weitwinkel oder eben Fischauge) liegt das goldglänzende Kernstück der Fabel in seiner Prämisse, die mit den Stereotypen der Wissenschaft jongliert und dabei manchmal einen der Bälle verliert, denn das ist Absicht. Anfangs ist Yorgos Lanthimos Guckkasten-Operette ohne Gesang noch in Schwarzweiß, denn Bella Baxter – so nennt sich die künstlich geschaffene Figur – kennt die Welt da draußen, jenseits der Räumlichkeiten ihres Ziehvaters Godwin Baxter, überhaupt noch nicht. Wie denn auch – noch bewegt sich Emma Stone wie Pinocchio in seinen ersten Minuten, bringt kaum Wörter über die Lippen, muss alles erst erlernen. Warum das so ist? Als schwangere Wasserleiche aus der Themse gefischt, hat der alte Baxter sie wiederbelebt, indem er der Unbekannten das Gehirn ihres Fötus einsetzt. So hampelt das Kind im Frauenkörper anfangs noch durch die Welt, bis sie von Szene zu Szene immer selbstbestimmter werden, alles entdecken und erleben will. Poor Things ist eine Ode an die Neugier am Leben, auf das Lebenswerte, das sich nur leben und erfahren lässt, wenn man frei ist von Zwängen, Unterdrückung und Besitzergreifung – kurz: frei eben. Nicht mehr, nicht weniger. Lanthimos hat im Grunde eine Coming of Age-Parabel ersonnen, die mit den Klischees einer Mann-Frau-Koexistenz ähnlich umspringt wie Greta Gerwig in Barbie. Während beim zuckerlrosa Geschlechterkrieg-Musical der Mann dazu angehalten wird, sich selbst zu überdenken, will das Frausein hier einfach nur nicht in einem Patriarchat stattfinden müssen. Der Mann – in seiner unzulänglichen Romantik, seiner Eifersucht und seinem absurden Drang zu Besitz und Macht – bekommt die kalte Schulter, an der einer wie Macho Mark Ruffalo immer mehr verzweifelt. Ein schadenfroher Spaß, ihm dabei zuzusehen.

So wirklich traurig ist Willem Dafoe als von seinem eigenen Vater zu Erkenntniszwecken entstellter Mann des Wissens – ein „Almöhi“ des pseudoviktorianischen Englands, gutmütig und unbeholfen nüchtern. Zwischen ihm und Emma Stone entfaltet sich die stärkste Bindung. Hier findet statt, was sonst nur so scheint, als wäre sie da: Das Miteinander, das Geben und Nehmen. Baxter ist sich letztlich selbst genug, und wie geschmeidig und kaum merkbar, wobei letzten Endes aber doch, entwickelt sich das ungebändigte Kind zur selbstbewussten Frau. Es stimmt, Poor Things ist lebens- und wertebejahend, räumt mit dem gebrandmarkten Gewerbe der Prostitution auf und ist vor allem auch, neben all der Gleichnisse, ein Augenschmaus im Arthouse-Kitsch zwischen Steampunk, Pluderärmel und monströsem Kinderbuch. Das Artifizielle allerdings lässt große Gefühle nicht zu. Poor Things gefällt, berührt aber nicht. Bella Baxter und all ihre Männer bleiben in ihrer Blase, und wir in der unseren. Was Poor Things zu sagen hat, ist nicht neu, dafür aber neu bebildert. Wie viel Wirkung hätte der Film noch entfalten können, hätte Lanthimos sein Werk in einer uns bekannten Realität verortet – authentisch, vielleicht naturalistisch und weniger gekünstelt? Er wäre uns damit nähergekommen, Emma Stone hätte den Draht zwischen ihr und uns zum Knistern gebracht. Letzten Endes ist das Blättern in einem prunkvoll ausgestatteten, ledergebundenen Leinwandportfolio ein Genuss, jedoch einer, der sich, genau wie Bella Baxter, einfach selbst genügt.

Poor Things (2023)

Monster (2023)

NONKONFORME UNGEHEUER

7,5/10


monster© 2023 Monster Film Committee


ORIGINAL: KAIBUTSU

LAND / JAHR: JAPAN 2023

REGIE: HIROKAZU KORE-EDA

DREHBUCH: YŪJI SAKAMOTO

CAST: SAKURA ANDŌ, EITA NAGAYAMA, SOYA KUROKAWA, HINATA HIIRAGI, HARUKO TANAKA, MITSUKI TKAHATA, AKIHIRO TSUNODA, YŪKO TANAKA, SHIDŌ NAKAMURA U. A.

LÄNGE: 2 STD 5 MIN


Der Mensch ist dem Menschen schutzlos ausgeliefert. Zumindest in seinen ersten Lebensjahren, als Baby, als Kleinkind, und natürlich noch als zur Bildung verpflichteter Schüler. Wehren können sich so junge Menschen wohl kaum, und wenn, dann drohen Sanktionen, die das familiäre Miteinander schwerer machen, als es ohnehin schon ist, wenn die in der Pubertät auftretende soziale Reibung mit den Eltern hinzukommt – der erste Schritt zur Abnabelung, das erste Tasten nach einer Welt der Selbstbestimmung. Dieses Ausgeliefertsein und den Wunsch, die Gunst der Erwachsenen zu erlangen; diese selbstlose, idealistische Liebe, womöglich zum gar nicht mal eigenen Nachwuchs, ist etwas, das Hirokazu Kore-Eda zutiefst beschäftigt – und ihn einfach nicht loslässt. Mit Shoplifters aus dem Jahr 2018 hat das Ganze angefangen. In seinem Gewinner der Goldenen Palme wird das fremde Kind zum Teil einer kurios anmutenden, allerdings ums Überleben kämpfenden Patchworkfamilie, da die eigenen Blutsverwandten längst versagt haben. In Broker, seinem übernächsten Film nach La Verité – Leben und lügen lassen mit Catherine Deneuve und Juliette Binoche (indem es zwar auch um das Ausgeliefertsein in der Kindheit geht, jedoch auf dem indirekten Weg der Rückblenden) sieht sich die Mutter nicht imstande, ihr eigenes Neugeborenes großzuziehen – und macht, mithilfe zweier karitativer „Menschenhändler“, auf Selfmade-Akquisition, wenn es um die Adoption ihres eigenen Kindes geht. Wieder stellt die Biografie eines Lebens den Beginn eines solchen als eine dem Wind und Wetter ausgesetzten Opfergabe dar, als ein Zustand, der Gnade erfordert. Und diese meistens auch genießen darf. Denn Kore-Eda ist kein Schwarzseher, seine Filme haben Herz und Hoffnung.

Auch das allerneueste und eben auf der Viennale exklusiv präsentierte, vielschichtige Jugenddrama Monster will nicht einfach so das Handtuch werfen. Die zum Teil recht verloren scheinenden Figuren in dieser stets neugierigen Komposition aus wechselnden Perspektiven und Wahrheiten haben allesamt die Chance, ihren Standpunkt einem Publikum zu erklären, das lange im Dunklen tappt. In ihrer, dem Film inhärenten Welt ist die Chance dafür eher gering und dringt vielleicht auch nur am Rande eines tobenden Taifuns an das Ohr der anderen, die dann hoffentlich verstehen werden, warum der Lehrer, Mr. Hori (Eita Nagayama), sich irgendwann am Dach des Schulgebäudes wiederfindet, um von dort in den Tod zu springen. Oder warum die Direktorin Fushimi (Yūko Tanaka) von Minatos Schule immer wieder dieselben Stehsätze rezitiert, ohne die Emotionen der anderen zu begreifen. Vielleicht, weil sie selbst zu sehr traumatisiert ist, um die Bedürfnisse, die rings um sie herum nach Verständnis lechzen, wahrzunehmen. Monster – auf japanisch: Kaibutsu – verbindet, wie eben auch in Kore-Edas anderen Filmen – das Hilflose einer Kindheit, die in ihrer Entwicklung keinen Stereotypen folgt, mit dem Ende des Lateins der Erwachsenen und stellt beide auf eine Stufe, bringt beide auf Augenhöhe. Und an den Rand der Verzweiflung. Doch wie gesagt; nur an den Rand.

Im Mittelpunkt dieses manchmal vielleicht zu gewollt ausgestalteten Vexierspiels steht der rätselhafte Junge Minato, aus dessen Verhalten wir allesamt nicht schlau werden. Schon gar nicht dessen alleinerziehende Mutter Saori (Sakura Andō). Fast könnte man meinen, der Junge sei besessen von irgendetwas – einer höheren, vielleicht finsteren Macht. Und langsam, aber doch, wird er zum Ungeheuer. Mit dem Gehirn eines Schweins, welches er, wie er behauptet, selbst besitzt. Auf der anderen Seite steht Eri (Hinata Hiiragi), ein kleiner Sonderling, der in seiner eigenen Welt lebt und stets gut aufgelegt scheint, obwohl er tagtäglich in der Schule gemobbt wird. Sein Vater, ein Trunkenbold, redet ihm schließlich ein, an einer Krankheit zu leiden, deren Symptome sich in seinem seltsamen Verhalten manifestieren. Ausgetrieben muss es ihm werden, so, wie das gespenstische Treiben von Minato – oder die Lust zur Gewalt, die Mr. Hori an den Tag legt. Alle drei sind Monster. Das Monströse auf der anderen Seite – die konformistischen Gepflogenheiten Japans, in welchem die Norm das größte Gut ist, bietet zwar soziale Sicherheit, errichtet allerdings auch eine Mauer der Inakzeptanz allem Unberechenbaren gegenüber. Wie sehr so ein Zustand uneinschätzbar bleibt, ist Sache der Wahrnehmung.

Alle fünf zentralen Protagonisten – die beiden Kinder, die Mutter, der Lehrer und die Direktorin – müssen in diesem Sozialthriller ihr bestes geben, um ihre Sichtweisen zu kombinieren. Und so erhalten nicht nur sie, sondern auch wir als Publikum das Gesamtbild eines längst nicht so spektakulären Ist-Zustandes: Es ist die verzweifelt wirkende Geschichte einer vielleicht jungen Liebe, die als freundschaftliche Zuneigung beginnt – und später zumindest Minato Angst macht, bis dieser genug Mut aufbringt, sich diesem Ausgeliefertsein zu widersetzen. Viel schöner und treffender lässt sich der Heldenmut inmitten eines tosenden Sturmregens gar nicht darstellen. Unweigerlich erinnert Monster an Lukas Dhonts letztjähriger Filmtragödie Close. Auch hier: zwei Freunde, die in ihrer bereichernden Zweisamkeit mehr füreinander empfinden – und der Angst vor dem Unbekannten, die diese Liebe mit sich bringt, unterliegen. Kore-Eda spinnt diese Situation einen Schritt weiter, in eine weniger radikale Richtung. Er, der die japanische Etikette hinterfragt, will die Gunst für ein Leben nicht anderen überlassen, will dem Sturm nicht alles, was sich schutzlos draußen befindet, ausliefern. Selbstbestimmung, Individualität und die Identifikation mit den eigenen Wünschen sind wie vermeintlich tief vergrabene Schätze, die vielleicht schon im Innern eines alten Waggons gehoben werden können. Diese rauszubringen ans Licht des Tages ist eine Challenge, die Kore-Edas Film womöglich zu seinem bisher besten macht.

Monster (2023)

Mein fabelhaftes Verbrechen (2023)

GELEGENHEIT MACHT SCHULDIG

8/10


fabelhaftesverbrechen© 2023 Filmladen Filmverleih


ORIGINALTITEL: MON CRIME

LAND / JAHR: FRANKREICH 2023

DREHBUCH / REGIE: FRANÇOIS OZON

CAST: NADIA TERESZKIEWICZ, REBECCA MARDER, ISABELLE HUPPERT, FABRICE LUCHINI, DANY BOON, ANDRÉ DUSSOLIER, ÉDOUARD SULPICE, FÉLIX LEFEBVRE U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Aber auch gerade deswegen. Eine gute Komödie zeichnet sich dadurch aus, ihren Witz als Folgeerscheinung eines klug konstruierten Drehbuchs mitzubringen. Und nicht dadurch, die Handlung um einige, zwerchfellerschütternde Bonmots herumzubauen. Eine gute Komödie zeichnet sich auch dadurch aus, dem Ensemble die Freiheit zu geben, ihren Figuren dank reichlicher Improvisation und dem Willen zum ex tempore mit nur wenigen charakterlichen Strichen rundum standfeste Auftritte zu bescheren. Wenn Rollen ohne viel Heißem-Brei-Gerede fassbar werden, bleiben ganze Spielwiesen für komödiantische Eskapaden übrig, die vor allem auf den Boulevardbühnen seit jeher und nicht erst seit Maxi und Alfred Böhm, die in ihrer Pension Schöller-Version die ewig Besten bleiben werden, für tosendes Gelächter sorgen.

Die Boulevardbühne auf die Leinwand bringen – das können die Franzosen im Schlaf. In den Sechzigern und Siebzigern war das Jean Girault mit seinem unverwechselbaren Choleriker Louis de Funès. Weniger Bühne und mehr Kino: das waren später Pierre Richard und Gerard Depardieu. Und wie sieht der Spaß in Übersee aus? Für klugen Wortwitz mit Understatement und einer gewissen intellektuellen Noblesse darf immer noch Woody Allen ganz vorne stehen, da kann man über sein Privatleben sagen, was man will: Als Autorenfilmer und Dramatiker sind Leinwand und Bühne gleichermaßen von ihm eingenommen. Was also, wenn man beides kombiniert? Wenn man den situationskomischen Retro-Humor eines „Balduin“ mit den Theaterkomödien eines Woody Allen synergiert? Was dann zutage tritt, könnte der brandneuen Komödie von François Ozon entsprechen, dem wirklich ferner als fern steht, Avantgardist zu sein. Muss er auch nicht. Denn wenn jemand auf derart nostalgische Weise zurückblickt auf das konservativ-humorige Kino vor einem halben Jahrhundert, gleichzeitig aber auch aktuelle gesellschaftliche Agenden mitnimmt, gereicht das sicher nicht zum Nachteil. Ozons Mein fabelhaftes Verbrechen sucht den Urgrund der französischen Komödie und den Esprit der impulsiven Unterhaltungsbühne, hat nichts am Hut mit Filmemacherinnen und Filmemachern, die ihr gewähltes Genre durch sich selbst neu erfinden müssen. Komödie funktioniert rustikal. Dieser Spaß hier ist das beste Beispiel.

Denn gleich von Anfang an, nach den ersten paar Minuten, wird klar, welchen Rhythmus uns Francois Ozon hier mitklopfen lässt: einen straffen. kurz getakteten. Zwischen den dramaturgischen Beats jede Menge Dialog, doch so elegant zugeschliffen, das kein Wort zu viel fällt. Im Zentrum stehen die beiden Freundinnen Madeleine (Nadia Tereszkiewicz), erfolglose Schauspielerin, und Pauline (Rebecca Marder), Anwältin – erstere musste sich eben eines sexuellen Übergriffes ihres potenziellen Produzenten erwehren, kann die Miete nicht zahlen und ist in einen Industrieerben verliebt, dessen geiziger Vater keinen Franc flüssig macht. Da kommt die Gelegenheit, das Leben zu ändern, wie gerufen: Besagter Bühnenkrösus wird tot aufgefunden, Madeleine beansprucht den Mord für sich – denn Notwehr, Frauenrecht und Medien könnten schließlich dazu führen, sich erstens schadlos zu halten und zweitens ganz groß rauszukommen. Der Plan gelingt, doch hat er einen Haken: Bei all dem Rummel um Madeleines Person tritt die echte Mörderin auf den Plan, um einen Teil vom Kuchen für sich zu reklamieren.

Wenn Isabelle Huppert, aufgedonnert wie eine Diva und mit so viel Verve in ihrem Auftreten über die Leinwand fegt, ist das Trio komplett und der Film bereits ganz oben in seinem Unterhaltungswert angekommen. Ozon, der nicht nur eine Vorliebe dafür hat, konservativ anmutende, bewusst naive Komödien so zu entstauben, dass sie immer noch zünden und sich angenehm unprätentiös vor allen möglichen Trends abheben, kann zwar auch tragisch und dramatisch – die Komödie aber ist sein Steckenpferd. Was ihm dabei besonders gelingt: Er verpasst seiner Theater-, Schauspiel- und Krimikomödie nebst all den treffsicher abgeschmeckten Zutaten noch eine ganz schöne Portion Feminismus. Obendrein, als Sahnehäubchen, gibt’s zu Frauenrecht, Gleichberechtigung und korrupter Justiz noch eine gewiefte Stellungnahme zur Täter-Opfer-Umkehr im Falle sexueller Nötigung. Was das heißblütige Komödientrio daraus macht, ist umwerfend. Als galante Begleiter in diesem zutiefst schlagfertigen Spiel agieren Fabrice Luchini, der als brillante Karikatur eines Untersuchungsrichters genauso besticht wie Dany Boon oder André Dussollier, der die Seele eines Louis de Funès tatsächlich wieder auf die Leinwand bringt. Ein Ensemble also, an dem alle scheinbar rein intuitiv an einem Strang ziehen. Chapeau!

Mein fabelhaftes Verbrechen (2023)

Freaks Out (2021)

MANEGE FREI FÜR DIE VERFOLGTEN

7/10


freaksout© 2022 Metropolitan Film Export


LAND / JAHR: ITALIEN, BELGIEN 2021

REGIE: GABRIELE MAINETTI

DREHBUCH; NICOLA CUAGLIANONE, GABRIELE MAINETTI

CAST: AURORA GIOVINAZZO, FRANZ ROGOWSKI, CLAUDIO SANTAMARIA, PIETRO CASTELLITTO, GIANCARLO MARTINI, GIORGIO TIRABASSI, MAX MAZZOTTA, SEBASTIAN HÜLK, ANNA TENTA U. A.

LÄNGE: 2 STD 21 MIN


Wer weiß, was die vermaledeiten Nazis noch so alles getrieben haben, von dem wir nichts wissen. Was, wenn sie tatsächlich versucht haben, mithilfe paranormaler Phänomene, die dann folglich nicht mehr als solche deklariert, sondern wissenschaftlich eingestuft und nutzbar gemacht wurden, das Schicksal der Welt zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Nicht auszudenken, wenn es ihnen gelungen wäre. Für dieses Szenario hat das Kino schon so einiges über die Leinwand flimmern lassen. Bekanntestes Beispiel: Die Bundeslade aus Jäger des verlorenen Schatzes. In Mike Mignolas Hellboy haben im Okkulten versierte Nazi-Größen das Tor zu einer Dimension geöffnet, aus welcher ein kauziger, roter Teufel entschlüpfte. Und was ist mit der Geheimorganisation Hydra aus dem Marvel-Universum? Red Skull und seine Armee aus Supersoldaten, die alle so zugeschlagen hätten wie Captain America?

Es gibt so einiges an showtauglichen Albträumen, mit welchen nicht nur das Kino, sondern auch das Fernsehen die Niederträchtigkeit der Faschisten noch zusätzlich angereichert hat. Mit Freaks Out setzt der Italiener Gabriele Mainetti zwar nicht noch eins drauf, fügt aber den Psychopathen des dritten Reiches noch einen abgründig-charismatischen Wirrkopf hinzu: Man möchte es nicht glauben, es ist Franz Rogowski. Liebkind des deutschen Independent-Kinos und, wie man sieht, offen für jedes Genre. Warum nicht auch für einen phantastischen Streifen wie diesen, der 2021 bei den Filmfestspielen von Venedig seine Premiere feierte.

Rogowski gibt einen völlig verpeilten Sonderling, der aufgrund seiner zwölf statt zehn Finger aus der Armee ausgeschlossen wurde. Nicht so sein Bruder, der dort ein hohes Tier wurde. Was macht ein „Freak“ wie dieser nun in einer Diktatur, die das Andersartige für vogelfrei erklärt, wegsperrt oder vergast? Durch den gegebenen familiären Einfluss darf Franz als zylindertragender Direktor seine Lust an der Exzentrik zumindest im Rahmen eines von ihm ins Leben gerufenen Zirkusses ausleben, der in Rom Halt macht und der jedoch im eigentlichen Sinne als Kulisse für ein sehr ehrgeiziges Projekt herhalten muss, in welchem der wie Hanussen mit dem Übersinnlichen begabte Wirrkopf die Lösung für all die Probleme sieht, die das Deutsche Reich im letzten Kriegsjahr so umtreibt. Franz will eine Gruppe aus Superhelden zusammenstellen. Und ja, es gibt sie. Sie erscheinen gar in seinen zukunftsweisenden Visionen, die sogar vom Selbstmord Hitlers berichten und noch viel weiter gehen. Diese mit außergewöhnlichen Fähigkeiten begabten Leute sind allerdings eine Theatertruppe für sich, die eigentlich nur die Flucht aus Europa im Sinn haben. Es ist dies ein Wolfsmensch, eine Art Magneto, ein Insektenbeschwörer, ein schrulliger Gandalf und eine Feuerteufelin, die ihre Gabe eigentlich nur als Bürde sieht.

Mutanten mit derartigen Fähigkeiten sind nicht neu. Bei den X-Men gibt es sie alle. Auch bei Hellboy zählen einige Außenseiter, die ihre Andersartigkeit mit nichts verbergen können, zu den Experten des B.U.A.P. Mainettis märchenhafter Kriegs- und Zirkusfilm allerdings lässt die Idee eines alle unter einen Hut bringenden Vereins außen vor. In diesem von Gott verlassenen Italien während des Krieges tummeln sich verlorene Seelen auf den Straßen herum, die wie aus einer tragikomischen Filmballade Federico Fellinis über die Hügel Italiens vagabundieren, auf der Suche nach dem großen Glück. Tatsächlich erinnert so manche Szene an bittersüße Filmmomente des großen Cinecittà-Visionärs – insbesondere das deutlich expositionierte Einzelschicksal des Flammenmädchens Matilde hat erzählerische Kraft und Ausdauer. Ihr Weg zur Selbstbestimmung ist der eine rote Faden des Films, der andere ist Franz Rogowskis leidenschaftlich verkörperte Figur des Antagonisten. Zwei Ausgestoßene, die unterschiedlicher nicht sein können. Die versuchen, sich den Respekt des Normalen zu verdienen, um Teil des großen Ganzen, und vor allem: nicht allein zu sein.

Mit viel Aufwand, enormer Ausstattung und im letzten Drittel ordentlichen Gefechten zwischen Nazis und den italienischen Partisanen gelingt hier ein opulentes Spektakel zwischen bizarrer Sensationsshow wie in Guillermo del Toros Nightmare Alley, dem Dreckigen Dutzend und einem regimekritischen Ur-Pinocchio. Dieser ganze Mix passt so gut zusammen wie die Zutaten für ein wissenschaftliches Experiment, dessen Resultat sein Publikum zum Staunen bringen soll. Für die große Leinwand wäre das fantasievolle und dramatische Abenteuer viel eher geeignet gewesen als so manches, das den Zuschlag fürs Kino letztendlich erhält. Freaks Out ist nur im weitesten Sinne als Superheldenkino zu verstehen und entfernt es sich vom oft geprobten Idealismus begabter Gutmenschen. Letzten Endes will sich hier niemand irgendeinem Credo verschreiben müssen oder von anderen instrumentalisiert werden – diese Bescheidenheit, diese Lust an der Selbstbestimmung, gibt dem blutig-melancholischen Abenteuer seinen Esprit.

Freaks Out (2021)

Barbie (2023)

AUF ZEHENSPITZEN INS LEBEN

7,5/10


barbie© 2023 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: GRETA GERWIG

DREHBUCH: GRETA GERWIG, NOAH BAUMBACH

CAST: MARGOT ROBBIE, RYAN GOSLING, AMERICA FERRARA, ARIANA GREENBLATT, KATE MCKINNON, WILL FERRELL, MICHAEL CERA, ISSA RAE, SIMU LIU, KINGSLEY BEN-ADIR, EMMA MACKEY, RHEA PERLMAN, ALEXANDRA SHIPP, HARI NEF, DUA LIPA U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Das, was diesen Sommer in der Welt des Kinos passiert ist, gleicht einem Paradigmenwechsel. Genauer betrachtet bleibt zu dieser Zeit kaum ein Stein auf dem anderen. Das Publikum ist müde von dem, was es die längste Zeit vorgesetzt bekommt. Worin sich das äußert? Zuerst mal hängt der Megakonzern Disney ziemlich durch. Man könnte auch meinen, dass bei einer aufgeblähten Größe wie dieser irgendwann der Zusammenbruch kommen „muss“. Was politisch nicht funktioniert hat, kann auch wirtschaftlich nicht gutgehen. Die Maus frisst sich von innen auf, zersetzt sich, fährt Pleiten ein. Tilgt seine eigenen Produktionen aus dem Streamingportal, weint dem Ergebnis von Elemental, Indiana Jones und Geistervilla nach. Die Zeit der Superhelden scheint vorbei zu sein, all die langweiligen Real Life-Überzeichnungen bekannter Zeichentrickfilme mögen anöden, Verfilmungen von Themenpark-Attraktionen ebenso. Tom Cruise hat mit Mission: Impossible – Dead Reckoning zwar seinen qualitativen Höhepunkt erreicht, doch danach wird das ganze Franchise wohl auch sein Ende finden müssen. Was aus DC und Warner wird, liegt in den Händen von James Gunn – der mit The Flash allerdings auch nichts zu lachen hat, rein was das Einspiel betrifft.

Auf Basis dieser Umwälzungen ist allerdings letzten Monat etwas ganz Erstaunliches passiert. Das Phänomen Barbenheimer. Klingt ein bisschen nach Lindenstraße, ist aber die Verschmelzung von Barbie und Oppenheimer, von zwei Filmen, die unterschiedlicher nicht sein können, die aber eines gemeinsam haben: eine Vision. Christopher Nolan, der Retter des Covid-Kinos und Mindfuck-Ästhet, lässt dieses Jahr die Bombe platzen – und alle wollen hin. Warum nur? Weil eine True Story rund um den Weltfrieden alle angeht? Weil der jährliche Nolan fast schon etwas Vertrautes darstellt? Schließlich ist Oppenheimer kein gefälliger Film, und hat nichts, was einen Blockbuster letztlich ausmacht. Die Biographie des Physikers unter dem politischen Himmel Amerikas ist spannend, aber dialoglastig und experimentell. Liefert stilsichere Schauwerte, zieht sich aber auf drei Stunden Länge. Will die Masse tatsächlich mal etwas anderes? Etwas, dass sie fordert, triggert und zum Nachdenken anregt? Jedenfalls hat diese Tatsache einen lautstarken Aha-Effekt zur Folge, der bei Barbie widerhallt – einem Spielzeugfilm für Jung und Alt, ein wandelnder Katalog aus Puppen und Mode, Plastikhäusern in Pink und überall das Logo von Mattel. Wer genau will denn sowas sehen? Einen fast zweistündigen Werbespot zur Erweiterung der Gewinnmarge?

Ganz so ist es nicht. Natürlich verspricht sich der Konzern davon genug Profit, um auch die nächsten Jahre ruhig schlafen zu können. Ein Verbrechen ist das allerdings keines. Schon gar nicht, wenn Product-Placement wie dieses, so offensichtlich und ungeniert, einfach nur dazu da ist, um als Stilmittel zu fungieren, das Greta Gerwig und Noah Baumbach in ihrem metaphysischen Märchen so dermaßen geschickt einsetzt, dass man tatsächlich von einer Art Paradigmenwechsel sprechen kann, wenn es darum geht, das Verhältnis zwischen Kunst und Kommerz neu zu evaluieren. Ich denke dabei an Andy Warhol, dem Pop-Art-Künstler, der mit dem Product Design bekannter Marken der Kunst jene Möglichkeit zugesprochen hat, auch massentauglich sein zu dürfen, ohne an Qualität zu verlieren. Gerwig folgt einem ähnlichen Weg. Für sie ist Barbie Campbell’s Tomatensuppe – und spielt damit herum, als hätte Mattel über gar nichts mehr zu bestimmen, außer über die eigene Hoffnung, dass die Sicht der Mumblecore-Autorenfilmerin den Konzern schadlos hält. Denn was sind sie denn, diese stereotypen Puppen mit ihren unrealistischen Maßen und ihrer heilen Welt? Was ist sie denn, diese Barbie, benannt nach Ruth Handlers Tochter Barbara, die dieses Spielzeug auf dem Markt brachte?

Nicht zu vergessen, da gibt es noch diesen Ken, der den heterosexuellen Beziehungsidealismus, sprich: genug Romantik ins Kinderzimmer bringen sollte, auf dem Niveau Grimm’scher Prinzessinnenmärchen, vorzugsweise in der Lieblingsfarbe kleiner Mädchen, nämlich Rosa mit all ihren Nuancen. Mit diesen Figuren, so dachte sich Gerwig, lässt sich die Diskrepanz zwischen den Geschlechtern auf eine für alle verständliche, augenzwinkernde Parabel herunterbrechen, die als behutsame Satire bestens funktioniert und überdies mit Margot Robbie und Ryan Gosling ein Paar gefunden hat, welches als Testimonial für soziale Gerechtigkeit zwischen Mann und Frau die lustvoll simplifizierte Message für die breite Masse hoch erhobenen Hauptes in die reale Welt trägt. Ich hätte nicht erwartet, dass Greta Gerwig sich selbst und ihren Prinzipien so sehr treu bleiben kann. Gerade dadurch gelingt ihr die Fusion von Kommerz und Kunst so leichthändig, als wäre die Marktwirtschaft längst schon devotes Werkzeug für Intellektuelle, um darzustellen, wo im gesellschaftlichen Miteinander Defizite existieren.

Barbie, Jahrzehnte im Geschäft und längst nicht nur mehr blond, hellhäutig und langbeinig, erfährt nun ihre lägst überfällige Bestimmung. Gerwigs ironischer und niemals tadelnder Film lässt zwischen La La Land und Pixars Toy Story die Puppen tanzen, einen bestens aufgelegten Ryan Gosling, der nicht nur Beach kann, sondern auch Komödie, übers Männerdasein singen und das Matriarchat dem Patriarchat eins auswischen. Das ist knallbunt, dann wieder schräges Revuekino. Letzten Endes aber folgt Barbie der Tatsache, dass Frauen ohne Männer jederzeit können – Männer ohne Frauen zwar auch, dafür müssen sie sich aber erstmal selbst finden. Ganz ohne Macht und Aufplustern.

Barbie (2023)

Tanz der Unschuldigen (2020)

HEXENSABBAT AUF BESTELLUNG

6,5/10


tanzderunschuldigen© 2020 Sophie Dulac Productions


ORIGINALTITEL: AKELLARE

LAND / JAHR: SPANIEN, ARGENTINIEN 2020

REGIE: PABLO AGÜERO

DREHBUCH: PABLO AGÜERO, KATELL GUILLOU

CAST: AMAIA ABERASTURI, ALEX BRENDEMÜHL, DANIEL FANEGO, GARAZI URKOLA, IRATI SAEZ DE URABAIN, JONE LASPIUR, LOREA IBARRA, YUNE NOGUEIRAS U. A.

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


Mit diesem Inquisitor ist nicht gut Kirschen essen. Einem Mann mit kaltem Blick und messerscharfem Verstand. Einer, der zu wissen glaubt, dass Hexen die brave Gesellschaft unterwandern, fürs miese Wetter verantwortlich sind und unliebsame Nachbarn sterben lassen. In Ermangelung wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse sind die Schuldigen immer jene, die sich am wenigsten wehren können – abgesehen vielleicht von Kindern. Denn Kinder haben immer noch diese gewisse Unschuld. Doch selbst da verschiebt sich die Grenze, und mindestens eine der willkürlich eingefangenen jungen Frauen ist nicht mal noch ein Teenie. Da die Männer der älteren auf hoher See unterwegs sind, weiß Gott in die Neue Welt, hat die sakrale Institution leichtes Spiel, wenn es darum geht, die Obrigkeit zufriedenzustellen und Dienst nach Vorschrift zu verrichten. Im Jahre 1609 gilt in Spanien jede als Hexe, die sich länger im Wald aufhält als nötig. Wenn dann noch gesungen und getanzt wird, scheint alles klar: Das kann nur ein Hexensabbat gewesen sein, zu welchem Menschen in Tiere verwandelt werden und Beelzebub seine sexuellen Bedürfnisse befriedigen will.

So werden sie also entführt und eingesperrt – und Ana, die versucht, das eigene und das Überleben ihrer Freundinnen zu sichern, muss Inquisitor Rostegui (Alex Brendemühl) so lange hinhalten, bis all ihre Ehemänner wieder heimkehren – um den Kirchenmännern so richtig den Kampf anzusagen. Angesichts der vorherrschenden Gewalt, um die Wahrheit ans Licht zu bringen, lässt sich Widerstand nur dann entsprechend aufbauen, wenn die ganze negative Energie des richtenden Klerus nicht abgeblockt, sondern absorbiert wird. Um sie gleichsam dafür zu nutzen, das zu inszenieren, was die Beauftragten sehen wollen: den Tanz der Hexen, den Sabbat, die verwerfliche Erotik junger Frauen, die dem Inquisitor letztlich den Kopf verdrehen soll.

Spanien kann ein Liedchen – was heißt, eines: mehrere, ein ganzes Liederbüchlein – davon singen, welche Vielzahl an Verbrechen im Namen des Herren schon begangen wurden. Die Filmwelt selbst hat für den Mythos der Naturmächte beherrschenden, selbstbestimmten und unabhängigen Frauenfigur, die manchmal Böses im Sinn hat oder eben auch Gutes, unterschiedlichste Spielarten präsentiert. Meist aber mit der Überlegung, dass Hexen als solche tatsächlich existieren – von der monströsen Baba Yaga über die Grimm’schen Auswüchse bis hin zum Found-Footage-Horror einer Blair Witch. Und dann gibt es eine ganze Reihe Filme, die den Schwarzen Peter einer bigotten, hysterischen Gesellschaft zuschieben, die durch die Mechanismen einer selbsterfüllenden Prophezeiung jenen Umstand vorgesetzt bekommen, über dessen mögliche Tatsache sie sich das Maul zerrissen haben. Wie in Dave Eggers The Witch oder im Slowakischen Mysterydrama Nightsiren bringt religiöser Fundamentalismus oder engstirniges Dorfdenken die Hexe überhaupt erst auf den Plan. In Tanz der Unschuldigen von Pablo Agüero, der am Filmfestival von San Sebastian 2020 seine Premiere feierte, ist die Betrachtung des Themas wieder eine ganz neue. Mit Paranormalem kokettiert das Historiendrama nur wenig bis gar nicht – dieses Quäntchen an möglicher Metaphysik mag offenbleiben. Vielmehr reicht das Hexische maximal für ein aus dem Überlebensmut Einiger entstandenes Theater, das die Task Force einer Inquisition nur noch der Lächerlichkeit preisgibt. Was gleichsam gefährlich werden kann.

Als faszinierende Zentralfigur bleibt Amaia Abaratsuri als bereits erwähnte Ana, die massiv auf ihre erotische Ausstrahlung setzt und das promiskuitive Weibliche wie das As aus dem Ärmel spielt. Agüero bemüht sich dabei aber gewissenhaft, realitätsnah zu bleiben. Dennoch: Diese Gratwanderung gelingt ihm manchmal mehr, manchmal weniger. Die längste Zeit über dreht sich Tanz der Unschuldigen etwas im Kreis; Befragungen, Folter und der stetig aufs Neue einzuschwörende Teamgeist der jungen Frauen bereiten das Drama gebetsmühlenartig auf den Hexentanz vor. Zu rustikal wird das Ganze, und die wirklich spannenden Momente, die ganz der Konfrontation des Inquisitors mit der schönen Ana gehören, sind dünn gesät.

Dass der herrische Staatsmann dann so sehr den Überblick verliert, mag man eigentlich gar nicht glauben. Doch ob ganz plausibel oder auch nicht – das letzte Drittel legt das sehr wohl durchdachte, oszillierende Konzept eines Psychothrillers frei, das mit verwirrender Sinnlichkeit punktet und das strohtrockene Kammerspiel von zuvor fast schon vergessen lässt. So, als würde man doch noch in Trance geraten, trotz der eigenen Skepsis.

Tanz der Unschuldigen (2020)

Pearl (2022)

EINE PERLE VERLIERT DIE FASSUNG

7/10


pearl© 2022 Universal Pictures


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: TI WEST

DREHBUCH: TI WEST, MIA GOTH

CAST: MIA GOTH, DAVID CORENSWET, TANDI WRIGHT, MATTHEW SUNDERLAND, EMMA JENKINS-PURRO, ALISTAIR SEWELL U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Niemand ist bei den Kälbern? Natürlich nicht. Die hübsche junge Pearl will eigentlich etwas ganz anderes aus ihrem Leben anstellen als nur das Vieh bei guter Gesundheit zu halten und den als Pflegefall dahinsiechenden Vater pflegen. Doch wir befinden uns am Anfang des 20. Jahrhunderts, die spanische Grippe geißelt den Erdball wie vor kurzem Covid, nur noch um einen Tick tödlicher. Der Erste Weltkrieg geht langsam seinem Ende zu. Und da ist es am klügsten, sich nach der Decke zu strecken und das Beste aus dem zu machen, was man hat. So zumindest meint es die strenge Institution namens Mutter, die Pearl keinerlei Freiheiten schenkt, sondern stets an ihre Pflicht erinnert, für Haus und Hof geradezustehen.

Was aber, wenn die große weite Welt lockt? Wenn Frau sich selbst dazu ausersehen fühlt, ein Star zu werden? Margot Robbie hat das in Babylon – Rausch der Ekstase schließlich auch hinbekommen, also zumindest anfangs. Wieso sollte Pearl nicht auch das Zeug dazu haben? Eine strahlende Erscheinung ist sie ja. Wenn sie aber dauerstrahlt, kann einem schon anders werden. Und wenn sie dann auch noch zu blaffen beginnt und nicht versteht, warum ihr die Welt nicht zu Füßen liegt, ließe sich der Pfaffe schon zur letzten Ölung bitten.

Mit dieser fast schon ikonischen Figur einer taufrischen Psychopathin gelingt es Ti West, eine neue Institution für das Subgenre des Slasher-Horrors zu schaffen. Eine, die zu Halloween neben Michael Myers, Freddy Kruger und Jason Voorhees die Gegend unsicher macht – in rotem Festtagskleid, mit zwei Zöpfen und bewaffnet mit Axt oder Heugabel. Dabei scheint sie nur tanzen zu wollen – und mehr Beweggründe für ihre Meuchelei zu haben als all die anderen genannten gesichtslosen Killermaschinen. Da hat Pearl ihnen einiges voraus. Nämlich den unverschämten Wunsch auf Selbstbestimmung. Dumm nur, dass eine grundlabile Persönlichkeit wie Pearl nicht anders kann als lustvolles Töten als einfachste Methode zu wählen, ihrem Käfig zu entkommen. Doch da wartet weder Regenbogen noch eine Yellow Brick Road. Wenn’s hochkommt, ist da nur die Vogelscheuche.

Wer Ti Wests 70er-Slasher X gesehen hat – ebenfalls mit Mia Goth, nur in einer anderen Rolle – wird sich beim Gedanken daran, wie die beiden Alten in der heruntergekommenen Ranch vor lauter Neid auf die Jugend eine Filmcrew systematisch dezimiert, die Nackenhaare aufstellen. Die Herrin des Hauses, immer noch getrieben von der Sehnsucht, ein Star zu sein, ist Pearl in hohem Alter. Mit diesem, in enormem Ausmaß den Stil der Technicolor-Filme imitierenden Prequel hält ein leidenschaftlicher Coming of Killer-Film Einzug, der als Reminiszenz aufs frühe Mörderkino genauso funktioniert wie auf Hitchcocks Psychohorror, in welchem ein Motel zum Schauplatz garstiger Alltagsroutine wird. Die Eltern-Kind-Diskrepanzen sind da wie dort ein Thema, und wenn Mia Goth, die hier heult und grinst und kreischt wie eine Furie, zu ihrem Geständnis ansetzt, verzichtet Pearl darauf, nur platter Effekt-Manierismus bleiben zu wollen. Wests Film strebt ebenso nach Größerem wie Mia Goths Figur selbst. Wenn man auch nur irgendwie „Sympathy for the Devil“ entwickeln kann; wenn Filme Zugänge schaffen in eine Welt aus Tod, Verderben und geistiger Verwirrung, dann funktioniert das nur im Rahmen eines entrückten Horrormärchens, das seinen strohaufwirbelnden Judy Garland-Albtraum satirisch konnotiert, ihn aber ernster nimmt als es den Anschein hat. Und das ist das Perfide daran.

Pearl (2022)

Sonne (2022)

ZEITVERTREIB MIT R.E.M.

5,5/10


sonne© 2022 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2022

BUCH / REGIE: KURDWIN AYUB

PRODUKTION: ULRICH SEIDL

CAST: MELINA BENLI, LAW WALLNER, MAYA WOPIENKA, THOMAS MOMCINOVIC, MARLENE HAUSER, MARGARETHE TIESEL U. A. 

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Hätte Universal Music den Welthit von Michael Stipe und Band nicht mit Freundlichkeit genehmigt, hätte dieses Langfilmdebüt von Kurdwin Ayub wohl den eigentlichen Star des Jugenddramas verloren: Losing My Religion erschallt in sämtlichen Variationen an irgendwelchen Orten in der goldenen Wienerstadt, in welcher Kulturen und Gesinnungen in einer wilden Mixtur und sich gegenseitig duldend koexistieren. Den Song hört man, ausbaufähig interpretiert von drei Maturantinnen, an kurdischen Festen oder aus dem Zimmer von Yesmin – sogar auf einer Hochzeit findet R.E.M.s zeitlose Nummer begeisterten Applaus – obwohl die Lyrics nicht gerade dafür geeignet sind, eine neue Verbindung zu feiern. Genauso wenig ist dieser Song dafür geeignet, wenn eine Muslimin gemeinsam mit ihren beiden Freundinnen, die anderer Konfession sind, sich aber dennoch in den Hidschāb werfen, einfach so zum Spaß einen auf Karaoke ohne Textablesen macht. Gut, es klingt ganz nett, andererseits aber auch wenig kraftvoll. Dafür lässt das bald auf Youtube gepostete Video einige gestalterische Raffinessen sehen – und wird ganz plötzlich zum Hit. Jetzt sind es nicht nur Yesmin, Nati und Bella, die sogar von Yesmins kurdischem Vater bewundert werden, sondern auch viele andere junge Leute, die sich zum Gesang hinreißen lassen – sei es nun im traditionellen Gewand islamischer Kultur oder eben nicht.

Während Yesmin also damit zu kämpfen hat, dass sie von ihren Freundinnen die Einzige ist, die diesen Stoff tagtäglich übers Haupt ziehen muss, geht ihr jüngerer Bruder ganz andere Wege, und zwar jene ohne Ziel und Verstand, die darauf hinauslaufen, dass dieser bald von der Polizei gesucht wird. Tja, und sonst? Sonst bietet Sonne einen ungeschönten, ungeschminkten und sehr direkten Blick auf eine Generation, die das Ende des Alphabets erreicht hat, ihren Platz in der Welt aber nicht definieren, geschweige denn ihre Wünsche und Träume artikulieren kann. In diesem Vakuum der Langeweile, des Sinnsuchens ohne Anhaltspunkte und des Abhängens auf Festivitäten köcheln so einige Impulse vor sich hin, die vielleicht aufgegriffen werden oder auch nicht. Oder gegen stereotypische Verhaltensmuster eingetauscht werden, die wohl eher die Generation Clueless vertreten, wenn Social-Media-Gadgets wie Elfenohren und Broccoli für kurze, aber schnell vergängliche Spaßmomente sorgen, die keine Nachhaltigkeit besitzen.

Kurdwin Ayub, geboren im Irak und in Wien nach der Flucht ihrer Familie aufgewachsen, verdient für ihren ersten Langfilm jedenfalls Respekt. Als selbst verfasstes Zeitportrait zwischen Smartphone-Displays und dem nachdenklichen Blicken von Hauptdarstellerin Melina Benli (von der wir wahrscheinlich noch viel mehr sehen werden, denn die Dame hat Talent) ist es sicher nicht einfach, hier die nötige Balance zu finden, um nicht nur auf Symptom-Ebene einen Zustand abzulichten – mit allerlei Klischees eben, die diese Altersgruppe plakatieren. Unterstützt von Ulrich Seidl, der seit jeher österreichische Befindlichkeiten mit hartem Realismus peitscht, folgt sie dann doch – und leider zu oft – den Empfehlungen des Maestros, anstatt sich davon loszulösen.

Für den eigenen Stil braucht es natürlich Zeit. Mal sehen, wie sie ihren zweiten Spielfilm Mond auslegen wird. In Sonne allerdings tritt die Geschichte auf der Stelle, setzt sich unentschlossen mit der muslimischen Jugendkultur auseinander, ohne tiefer in der Materie zu stochern und begnügt sich am Ende mit banalen Elementen gängiger Mädchenfilme, obwohl so manche – und vor allem eine – Wendung im Film viel mehr Aufmerksamkeit verdient hätte als Ayub ihr letztlich gegeben hat. Abgelenkt vom Schnickschnack diverser Smartphone-Apps, verliert sie den Kern der Geschichte immer mal wieder aus den Augen.

Sonne (2022)